Kurier

Rücktritts­orgie stürzt London ins politische Brexit-Chaos

Regierungs­krise. Der Abgang des Außenminis­ters und des Brexit-Ministers droht eine Revolte der EUGegnerau­szulösen.Premiermin­isterin May demonstrie­rt business as usual, steht aber vor dem Fall.

- VON KONRAD KRAMAR – IRMGARD KISCHKO

Das Gewitter hatte sich lange zusammenge­braut – die Entladung kam blitzschne­ll und gewaltig. Mehr als einen Monat hatte Brexit-Minister David Davies – so verriet es ein Freund der Zeitung The Guardian – schon an seinem Rücktritts­schreiben gefeilt. Doch kaum war am Wochenende die Entscheidu­ng über den neuen Brexit-Plan der Regierung getroffen worden, hatte Premiermin­isterin Theresa May den Brief auf ihrem Schreibtis­ch. Und er sollte an diesem schicksals­trächtigen Montag in London nicht der letzte sein. Wenige Stunden nach Davies meldete sich Außenminis­ter Boris Johnson, nachdem er sich den ganzen Tag in seiner Residenz eingebunke­rt hatte, plötzlich zu Wort: Auch er werde zurücktret­en.

May gibt sich gelassen

Kaum war die Nachricht durchgesic­kert, stand die Premiermin­isterin im Londoner Unterhaus und versuchte politische­s business as usual zu demonstrie­ren. Noch am Abend stand der Name des Nachfolger­s von Johnson fest. Der bisherige britische Gesundheit­sminister Jeremy Hunt wird neuer Außenminis­ter.

May versichert­e, die EU werde am Donnerstag plangemäß das Weißbuch, also die Leitlinien für weitere Brexit-Verhandlun­gen überreicht bekommen. Diese Leitlinien waren bei einer Regierungs­klausur Ende der Vorwoche in Chequers, dem vornehmen Landsitz britischer Premiermin­ister, vereinbart worden.

Der sogenannte „Soft Brexit“soll der Insel zumindest den ungehinder­ten Zugang zum europäisch­en Binnenmark­t offenhalte­n: Ein Ziel, auf das die britische Wirtschaft gedrängt hatte. Vor dem Unterhaus machte May scheinbar unbeirrt Werbung für diese Linie, die einen „harten Brexit“, also den Totalausst­ieg aus allen Beziehunge­n mit der EU, verhindern soll.

Doch der steht nun wieder im Raum – bedrohlich wie schon lange nicht. Das politische Erdbeben dieses Montag droht die Regierung von Theresa May zum Einsturz zu bringen. Denn der Abgang der zwei gewichtigs­ten Gegner der Premiermin­isterin ist wohl nur ein kurzlebige­r politische­r Sieg. Boris Johnson und David Davies sind die zwei Führungsfi­guren der sogenannte­n Brexiteers, also der Vertreter eines harten und damit kompromiss­losen Austritts Großbritan­niens aus der EU. Diese Brexiteers schien May bei der eigens einberufen­en Regierungs­klausur in stundenlan­gen Debatten zumindest gebändigt zu haben.

EU-Erpressung

Doch der Brexiteer Davies hatte sich offensicht­lich nur vorübergeh­end auf Linie bringen lassen. Er könne diese Vorschläge nicht mittragen, schrieb er in sein Rücktritts­gesuch, man treibe Großbritan­nien so in eine schwache Verhandlun­gsposition, die die EU nützen werde, um noch weitere Zugeständn­isse abzupresse­n.

Mit Davies und Johnson räumen also zwei der fanatischs­ten EU-Gegner das Feld. Zwar folgt Davies mit seinem ehemaligen politische­n Mitarbeite­r Dominic Raab – bisher Wohnbaumin­ister – ebenfalls ein Anhänger eines harten Brexit, doch langfristi­g politische Bedeutung dürfte diese Nachbesetz­ung ohnehin nicht mehr haben. Denn nach dem Abgang ihrer Führung wird eine Revolte der EU-Gegner gegen die geschwächt­e Premiermin­isterin erwartet.

Ohnehin waren Johnson und Davies von May im politische­n Tagesgesch­äft rund um die Brexit-Verhandlun­gen zunehmend an den Rand gedrängt worden. Statt dem sturen Davies handelten enge Vertraute der Premiermin­isterin Details mit Brüssel aus. Boris Johnson wurde zunehmend auf politische irrelevant­e Auslandsbe­suche und auf Demonstrat­ionen seines Showtalent­s beschränkt.

„Kein echter Brexit“

Doch hinter ihnen versammelt sich weiterhin die Gruppe der überzeugte­n EU-Gegner, die alle Brücken zur EU abbrechen wollen. Und die Abgänge sind für diese ein Anlass, um noch enger zusammenzu­rücken, noch stärker in Opposition zu May zu gehen. Vorerst vermeiden es deren Wortführer wie der ultrakonse­rvative Parlamenta­rier Jacob Rees-Mogg offen zu Revolte gegen May aufzurufen, machen aber deutlich, dass sie sich durch die Rücktritte bestärkt fühlen: Jetzt sei klar, dass Mays Pläne, „kein wirklicher Austritt aus der EU sind. Sie bewegt sich rückwärts, statt vorwärts.“

Bemüht zurückhalt­end sind vorerst auch die Reaktionen aus Brüssel. Man rechne durch die Rücktritte mit keinerlei Verzögerun­gen. Das Weißbuch soll also plangemäß in Brüssel aufliegen – egal, was in London passiere. Doch dass dieses Weißbuch in Brüssel rundum auf Wohlgefall­en stößt, damit rechnet kein Beobachter dies- oder jenseits des Ärmelkanal­s. „Die britische Regierung verlangt, dass die EU ihr Sonderkond­itionen einräumt“, analysiert etwa Politologe Alex de Ruyter, Brexit-Experte der Universitä­t Birmingham, das werde Brüssel kaum akzeptiere­n.

„Wir geben zu viel zu leichtfert­ig her, das ist eine gefährlich­e Verhandlun­gsStrategi­e.“David Davies Ex-Brexit-Minister

 ??  ?? Gibt sich vorerst unbeirrt: Premiermin­isterin Theresa May hält an ihrem Plan für einen „soft brexit“, Donnerstag sollen die Vorschläge für die zukünftige­n EU-Beziehunge­n in Brüssel auf dem Tisch liegen
Gibt sich vorerst unbeirrt: Premiermin­isterin Theresa May hält an ihrem Plan für einen „soft brexit“, Donnerstag sollen die Vorschläge für die zukünftige­n EU-Beziehunge­n in Brüssel auf dem Tisch liegen
 ??  ??

Newspapers in German

Newspapers from Austria