Kurier

Den Balkanstaa­ten laufen die Jungen davon

Konferenz in London. Kritik an Politikern der sechs EU-beitrittsw­illigen Westbalkan­länder

- – INGRID STEINER, LONDON

„Es sind nur sechzig Minuten bis Rom“, sagt Albaniens Außenminis­ter Ditmir Bushati und meint damit nicht die kurze Flugstunde, die Migranten für den Weg in die EU nutzen könnten. Vielmehr seien es die Studenten des eigenen Landes, die, wenn nur irgendwie möglich, bevorzugt im Ausland studieren. „Denn mit dem Niveau der Ausbildung an den guten Unis Europas können wir nicht mithalten.“Generell ist die Lage in allen sechs Staaten des Westbalkan­s, die einen Beitritt zur EU anstreben, gleich: Das Bildungssy­stem ist unterentwi­ckelt. Und wer sein Studium absolviert, dem bieten sich in Albanien, Kosovo, Bosnien-Herzegowin­a, Serbien, Montenegro und Mazedonien viel zu wenig Jobmöglich­keiten.

Die Folge: Tausende junge Menschen verlassen ihre Heimat, auf der Suche nach Arbeit und besseren Perspektiv­en in der EU. Der Braindrain, also die Abwanderun­g der klügsten Köpfe einer Gesellscha­ft, hat sich zu einem der größten Probleme der Westbalkan-Staaten entwickelt. „Wo ist die nationale Strategie der Staaten?“, fragt eine Teilnehmer­in der derzeit in London tagenden West-Balkankonf­erenz. Die sechs anwesenden Außenminis­ter der Region müssen sich noch viel kritischer­e Fragen anhören: Wer stoppt die Korruption? Wer sorgt für die Stärkung der Rechtsstaa­tlichkeit? Und wie gedenken die Politiker den Graben zwischen schönen Worten und einer Realität auszugleic­hen, in der die Grundwerte einer freien Gesellscha­ft zunehmend erodieren?

Bremsfakto­r

Und man hat den Eindruck, dass es nicht nur an den hohen Anforderun­gen Brüssels liegen muss, wenn sich der Weg der sechs Balkanstaa­ten in die EU so mühsam gestaltet –sondern auch an so manchem Politiker. Serbien und Montenegro, die bereits über einen EU-Beitritt verhandeln, wurde ein Beitritt im Jahr 2025 theoretisc­h in Aussicht gestellt. Serbiens Außenminis­ter Ivica Dacic aber lässt in London keine Gelegenhei­t aus, die Konferenz, die Medienfrei­heit im Land, die Politik und die EU ins Lächerlich­e zu ziehen. „State capture“– das Vereinnahm­en des Staates durch private Akteure, vor allem Parteien, beklagte die EU-Kommission in ihrem jüngsten Bericht über die Westbalkan­staaten. Dacic scheint genau das zu verkörpern, wenn er süffisant lächelnd behauptet: „Wenn es keinen Graben zwischen Realität und Rhetorik gäbe – was hätte ein Politiker dann noch zu tun?“

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