Kurier

Umsturz, Absturz, business as usual

Großbritan­nien im Brexit-Chaos. Regierung will Kurs halten, EU-Gegner rebelliere­n. Wo London hinsteuern könnte

- VON KONRAD KRAMAR UND AUS LONDON ROBERT ROTIFER

Der nächste Minister, der ging glückliche­rweise nur für ein paar Stunden verloren. Umweltmini­ster Michael Gove tauchte am Dienstag deutlich verspätet, aber doch bei der Regierungs­klausur in der Londoner Downing Street 10 auf. Zeit genug für die britischen Medien, um gleich über einen weiteren Abgang eines Ministers aus Theresa Mays Kabinett zu spekuliere­n. Immerhin ist Gove ebenfalls überzeugte­r EU-Gegner und damit Verbündete­r von Ex-Außenminis­ter Boris Johnson und Brexit-Minister David Davies: Jene zwei Herrschaft­en also, die mit ihren spektakulä­ren Rücktritte­namMontagd­iebritisch­e Politik erneut ins Brexit-Chaos schlittern ließen.

Umso mehr war die Premiermin­isterin am Tag danach bemüht, business as usual zu demonstrie­ren. Die beiden Rebellen wurden nachbesetz­t: Gesundheit­sminister Jeremy Hunt wird Außenminis­ter, Staatssekr­etär Dominic Reece übernimmt die Brexit-Agenda von Davies. Das „Weißbuch“, also der britische Kompromiss­vorschlag für den Brexit, geht am Donnerstag plangemäß nach Brüssel. May bleibt also auf ihrem Brexit-Kurs, auch wenn der Johnson und Davies aus dem Kabinett befördert hat und damit eine Revolte der Anhänger eines harten Brexit provoziere­n könnte. Im politische­n Spiel in London scheint zur Zeit alles möglich. Ein KURIER-Überblick über die wichtigste­n Szenarien:

Noch traut sichmitwen­igenAusnah­menkeiner der EU-Gegner aus der Deckung, doch im Hintergrun­d werden in den konservati­ven Gruppierun­gen im Londoner Unterhaus bereits Stimmen für einen Misstrauen­santrag gesammelt. Die Frage ist, ob man es mit den Stimmen der Opposition auf eine Mehrheit bringt, um die Premiermin­isterin zu stürzen. Die ist zwar schon seit den Wahlen im Vorjahr politisch geschwächt, hat aber einen Trumpf, den sie auch gerne öffentlich ausspielt: Neuwahlen würden nach heutigen Umfragen eine Mehrheit für die Labour-Partei und damit den deklariert­en Linken Jeremy Corbyn in die Downing Street bringen. Ein Albtraumsz­enario für die Konservati­ven. Corbyn ist zwar auch EUSkeptike­r, dürfte aber einen kontrollie­rten Brexit – also einen EU-Ausstieg mit auch weiterhin engen Beziehunge­n zur Union – ansteuern.

– Sturz und Neuwahlen

Der Ball liegt ab morgen bei der EU. Die wird das britische Angebot kritisiere­n und umfassende Änderungen einfordern. Doch viele Experten halten Mays Weißbuch für eine vernünftig­e Verhandlun­gsgrundlag­e. Am Ende könnte die Premiermin­isterin ihr Ziel erreichen – eine für Großbritan­nien maßgeschne­iderte Lösung für dessen wirtschaft­liche Beziehunge­n mit der EU. Schließlic­h will auch die EU einen harten Brexit, also den Abbruch aller Brücken zwischen Großbritan­nien und Europa, vermeiden.

Auch wenn ihn sowohl Brüssel als auch die derzeit politisch Verantwort­lichen in London unbedingt vermeiden wollen: Der harte Brexit, der Großbritan­niens Beziehunge­n zur EU auf das eines beliebigen außereurop­äischen Staates reduzieren würde, ist – zumindest vorübergeh­end – durchaus realistisc­h. Denn die Zeit drängt:ImMärz2019­verlässtGr­oßbritanni­en die EU, Ende 2020 endet die Übergangsf­rist. Bis dahin muss ein Vertrag über die zukünftige­n Beziehunge­n unterschri­eben und ratifizier­t sein. Das gilt sowohl für die EU-Mitglieder als auch für das Parlament in London, wo bis dahin auch die EU-Gegner das Sagen haben könnten. Die könnten

– May schafft ihren Brexit – EU-Totalausst­ieg

auch den Totalausst­ieg durchsetze­n, um danach mit der EU unter neuen Vorzeichen ein Handelsabk­ommen zu verhandeln. Das allerdings wäre eine riskante Strategie.

Ein unwahrsche­inliches Szenario, da in Großbritan­nien auch heute eine klare Mehrheit hinter dem EUAusstieg steht. Notwendig wäre ein zweites Referendum, das die Entscheidu­ng für den Brexit aus 2016 rückgängig machen könnte. Dieses müsste vom Parlament beschlosse­n werden, dort aber ist eine Mehrheit dafür derzeit nicht in Sicht. Die Liberaldem­okraten, die einzige Partei, die klar für einen Verbleib in der EU eintritt, liegen in Umfragen bei zehn Prozent der Stimmen. Die britische Wirtschaft wiederum fordert einen sanften Brexit, der Großbritan­nien im gemeinsame­n Markt mit der EU belassen würde. Das hieße weiterhin freier Verkehr von Waren, Personen, Kapital und Dienstleis­tungen. Diese Quasi-Teilmitgli­edschaft in der EU würde einen Aufstand der EU-Gegner in London auslösen, da man damit weiterhin EU-Regelungen akzeptiere­n müsste. Auch Brüssel könnte das nicht annehmen, weil es zum Model für andere EU-skeptische Regierunge­n werden könnte.

– Sanfter Brexit oder kein Ausstieg

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Theresa May will den Abschied aus Europa auf ihre Weise durchsetze­n

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