Nachhaltigkeit Wie umsteuern?
Hans Holzinger stellt im Kontext der geforderten „Großen Transformation“Publikationen vor, die Analysewissen und Handlungsvorschläge vereinen. Appelle an den Einzelnen werden nicht reichen, so sein Fazit, notwendig ist eine politische Umsteuerung.
Als Krise bezeichnet der Sozialwissenschaftler Davide Brocchi die sich auftuende Lücke zwischen Wahrnehmung und Wirklichkeit. Ein Sensorium für eine möglichst umfassende Realitätswahrnehmung zu entwickeln, gilt daher als wichtige Voraussetzung für nachhaltige Zukunftssteuerung. Hans Holzinger stellt im Kontext der geforderten „Großen Transformation“(s. PZ 2012/3) Publikationen vor, die beides vereinen: Analysewissen und Handlungsvorschläge. Der Tenor dabei: Appelle an den Einzelnen werden nicht reichen, sie dienen vielmehr der Selbstberuhigung und Ablenkung. Notwendig ist eine politische Umsteuerung, die neue Rahmenbedingungen für alle setzt.
Globale Trends
Die Anforderungen an die Institutionen globaler Politikgestaltung hätten seit dem Erscheinen der letzten Ausgabe von Globale Trends vor drei Jahren so stark zugenommen, dass von einem „permanenten Überdruck“im System der internationalen Beziehungen gesprochen werden müsse, so die Herausgeber der Globalen Trends 2013 um Thomas Debiel, Direktor des Instituts für Entwicklung und Frieden an der Universität Duisburg-essen, welches gemeinsam mit der Stiftung Entwicklung und Frieden für die Herausgabe verantwortlich zeichnet.
Das über Jahrzehnte geschürte Misstrauen gegenüber den Vereinten Nationen sowie ihre durch Blockadepolitik ausgehebelte Problemlösungsfähigkeit habe dazu beigetragen, den „institutionalisierten Multilateralismus“auszuhöhlen, so die Expertinnen weiter. Zentrale Zukunftsfragen wie die Reduktion von Treibhausgasen oder die Umstellung der globalen Energieversorgung auf erneuerbare Energien blieben ungelöst. Die damit verbundene „Fragmentierung der Politikgestaltung“führe zu einer „neuen Unübersichtlichkeit“, die tendenziell die Ungleichgewichte verstärkt. Die Mächtigeren – darunter neue Schwellenländer – würden ihre Interessen gegenüber weniger Mächtigen durchsetzen (S. 11).
Zudem sehen die Autorinnen neue Kräfte, die auch das Souveränitätsverständnis der Staaten verändern: „Gesellschaftliche Protestbewegungen wehren sich zunehmend gegen die mangelnde Bereitstellung nationaler wie globaler Gemeinschaftsgüter durch die Politik sowie ihr Versagen gegenüber dominierenden Marktkräften.“(ebd.) Die wachsenden Mittelschichten in Entwicklungsländern seien dabei „eine zentrale Kraft“. Das Internet biete neue Chancen auf politische Teilhabe sowie transnationale Vernetzung und Öffentlichkeit.
Fragmentierung globalen Regierens
Die “Fragmentierung globalen Regierens“eröffnet nach Ansicht der Autorinnen durchaus Chancen, etwa wenn sich im Gefolge der Un-milleniumsziele Stiftungen in Public Private Partnerships in der Armutsbekämpfung engagieren oder wenn Anstrengungen zu neuen Wirtschaftsregulierungen unternommen werden, wie die aus dem G8-zusammenhang entstandene „Extractive Industry Transparency Initiative“oder die maßgeblich von den G20 ausgehenden Bestrebungen zur Reform des Internationalen Währungsfonds in der Finanzkrise 2007/2008. Zugleich berge ein „Weltregieren á la carte“aber Risiken: Partikularinteressen können in den Vordergrund treten, die Vielzahl an Initiativen und Formaten könne zu unnötigen Transaktionsund Kommunikationskosten führen. Begünstigt würde zudem eine Art „Forum shopping“, bei dem die Akteure immer wieder nach der Institution mit der für sie günstigsten Lösung suchen (S. 14).
Die Globalen Trends 2013 geben profunde Analysen und sie scheuen sich auch nicht, Vorschläge für Zukunftslösungen zu unterbreiten. In insgesamt 20 Beiträgen erörtern ausgewiesene Experten und Expertinnen Themen wie die Informalisierung der Weltpolitik, den Aufstieg neuer Mächte, den Wandel der staatlichen Souveränität, die Frage von Gewaltkonflikten und militärischen Interventionen oder die Chancen und Grenzen von Demokratisierung. Es werden „Lehren aus dem arabischen Frühling gezogen“, die Chancen digitaler Medien ausgelotet („Revolution 2.0?“) sowie neue Herausforderungen an das Völkerrecht angesichts moderner Formen der Sklaverei (Menschenhandel) analysiert. Neben „Frieden“und „Entwicklung“gilt „Globale Nachhaltigkeit“als dritter Schwerpunkt des Bandes. Dabei geht es um Aspekte wie „Ölressourcen als Machtmittel“, „Wege zu einer nachhaltigen Energieversorgung“, „Ernährungssicherung als globale Herausforderung“oder „Land-
nutzungswandel als neuer Konfliktherd“. Selbstredend ist auch der Weltklimapolitik als „Sisyphusaufgabe der Weltgesellschaft“ein Kapitel gewidmet. So wird der limitierende Faktor für die globale Energieversorgung im 21. Jahrhundert nicht im Versiegen der fossilen Energierohstoffe, sondern in der notwendigen Eindämmung des Klimawandels gesehen. Kurz gesagt: die Herausforderung besteht darin, gar nicht alle verfügbaren fossilen Ressourcen zu verfeuern.
Gestützt auf die neueste internationale Fachliteratur und auf eine Vielzahl von Daten aus einer Reihe von internationalen Berichten und Analysen geben die Beiträge fachlich fundierte Informationen, illustriert mit anschaulichen Grafiken und Tabellen. H. H. Trends: globale
2 Globale Trends 2013. Frieden, Entwicklung, Umwelt. Hrsg. v. Stiftung Entwicklung und Frieden, Institut für Entwicklung und Frieden. Frankfurt: Fischer 2012. 351 S., € 16,99 [D], 17,50 [A], sfr 23,50
ISBN 978-3-596-19423-0
Atlas der Globalisierung
Folgt dem „Kampf der Kulturen“nun das „Verschmelzen der Welten“?, fragt Serge Halimi, Direktor von Le Monde Diplomatique in der Einleitung zum aktuellen Atlas der Globalisierung im Hinblick darauf, dass China und die anderen Schwellenländer dem durch den Finanzcrash von 2007 marode gewordenen Kapitalismus wieder auf die Beine geholfen hätten. China, das der Westen im 19. Jahrhundert „erdrückt und zerstückelt“hatte, werde nun zu dessen „Werkbank und Bankier“. Doch Halimi sieht diese Entwicklung kritisch, wenn er von einer neuen „globalen Oligarchie“spricht: „Sie baut in China Fabriken, investiert ihr Vermögen in Londoner, New Yorker und Pariser Immobilien, holt sich die Nannys aus den Philippinen, schickt ihre Kinder nach Havard und bunkert ihr Geld in Steueroasen“. Während einige Wenige den Sprung auf die Hitliste der reichsten Milliardäre schaffen, komme der Wohlstand bei den einfachen Menschen nur begrenzt oder gar nicht an. Doch es gäbe Widerstand. Halimi setzt auf die „Demonstranten in Sido Bouzaid und auf dem Thahirplatz“, die „Aktivisten der Puerto del Sol und von Occupy Wall Street“, die „Arbeiter von Shenzen und die chilenischen Studenten“, die „wie schon 1848, 1918 und 1968 – das Unwahrscheinliche möglich und dem Fatalismus ein Ende“bereiten würden (alle Zitate S. 7).
Der vorliegende Atlas der Globalisierung, der wie alle seine Vorgängerausgaben, durch prägnante Analysen und anschauliche Grafiken besticht, bietet – gleich den Globalen Trends (s. o.) – eine Fülle an Informationen zu allen wichtigen Zukunftsfeldern der Ökonomie, Gesellschaft und globalen Ressourcen. „Der lange Abschied vom Wachstum“, „Globale Instanzen ohne Konzepte“, „Seltene Rohstoffe, kostbar und umkämpft“, „Das Ende des fossilen Zeitalters“oder „Neue Player im Ölgeschäft“– so einige der Kapitel dieses Nachschlagewerks über die „Welt von morgen“. Thematisiert werden Fragen des Welthandels und der globalen Agrarmärkte, der Rolle von Bildung und Wissen, Sozialpolitik oder Neuen Medien im Globalisierungsprozess sowie der Gefahr möglicher zukünftiger Konflikte – etwa im Kontext von Ressourcenverknappungen. Den Herausgeberinnen ist es auch in der vorliegenden Ausgabe gelungen, ausgewiesene Expertinnen zu gewinnen. So schreibt etwa Mycle Schneider, Verfasser des World Nuclear Status-report, über das „programmierte Ende der Atomkraft“(S. 164f). Bedingt werden auch alternative Zukunftswege angesprochen, etwa die Entwicklung neuer Wohlstandsindikatoren, die Begrünung von Wüsten oder eben neue soziale Bewegungen, sei es im arabischen Raum, in Lateinamerika oder Asien („Die Welt im Aufbruch“(S. 148ff). Ein wertvolles Nachschlagewerk. H. H. Trends: globale
3 Atlas der Globalisierung. Die Welt von morgen. Hrsg. v. Le Monde Diplomatique und taz. Berlin: taz Verlags- und Betriebs Gmbh 2012. 176 S. € 14,[D], 14,40 [A], sfr 19,60 ; ISBN 978-3-937683-38-6
Beschissatlas
Brisantes enthält auch ein anderer Atlas, von dessen Namen man sich nicht abschrecken lassen sollte, der „Beschissatlas“von Ute Scheub und Yvonne Kuschel. Die Journalistin Scheub hat eine Vielzahl an „Zahlen und Fakten zu Ungerechtigkeiten in Wirtschaft, Gesellschaft und Umwelt“– so der sachliche Untertitel – zusammengetragen. Die Künstlerin Kuschel hat diese mit anschaulichen wie bissig-witzigen Illustrationen versehen. So versucht gleich auf den ersten Seiten eine besorgte Frau den Planeten in ihren Armen zu schützen, während über ihr riesige Atombomben drohen. Das „Dorf Welt“wird anhand von hundert Menschen dargestellt, die zunächst nur als 100 Menschen erscheinen, dann etwa als 61 Asiaten, 15 Afrikaner, 11 Europäer und 13 Amerikaner oder als 89 Heterosexuelle und 11 Homosexuelle oder als 51 Normalgewichtige, 14 Hungernde, 14 Mangelernährte, 14 zu Dicke und 7 Fettleibige. 12 Formen von „Beschiss“werden insgesamt aus-
geführt – vom „Ernährungs- und Arbeitsbeschiss“über den „Verteilungs- und Verschuldungsbeschiss“sowie dem „Geschlechter- und Migrationsbeschiss“bis hin zum „Demokratie-, Natur-, Klima-, Verkehrs,rüstungsund Glücksbeschiss“. Mit frappanten Vergleichen und Rechenbeispielen werden die Absurditäten des gegenwärtigen Zustandes der Welt anschaulich gemacht: „Wer 1 Milliarde Euro besitzt, muss bei einer Jahresverzinsung seines Vermögens von 5 % täglich 137.000 Euro ausgeben, um NICHT reicher zu werden“, so ein Beispiel (S. 60). „In den USA kontrolliert 1 % der Reichsten etwa 90% allen Vermögens“, so ein anderes, das den Slogan der Occupy Walls Street-bewegung „Wir sind die 99 Prozent“begründet hat (S. 65). Unter der Frage „Wer hat den längsten?“werden die Yachten der Milliardäre vorgestellt: Jene von Roman Abramowitsch misst 162,5 Meter „und damit 50 Zentimeter mehr als das Boot des Emirs von Dubai“(ebd.). Ökonomische Zusammenhänge werden gut verständlich erklärt: „Schulden sind Umverteilungsmaschinen zugunsten der Besitzenden.“(S. 72) Dass Reichere auch hinsichtlich Bildungs- und Karrierechancen bevorzugt sind, wird ebenso erhellt wie deren längere Lebenserwartung: „Hier tun die Armen den Reichen den Gefallen, zwischen 8 und 11 Jahren früher zu sterben und den Begüterten so indirekt ein längeres Leben mit einer üppigeren Rente zu ermöglichen.“(S. 69) Ein letzter Vergleich: „Der reguläre Jahresetat der Vereinten Nationen betrug 2010/2011 2,6 Milliarden Dollar - nur wenig mehr, als das Us-militär an einem Tag kostet.“(S. 176).
Doch nicht nur Schändlichkeiten werden aufgezeigt; jedes Kapitel endet mit einem Abschnitt „So kann es auch gehen“. H. H. Gesellschaftskritik
4 Kuschel, Yvonne; Scheub, Ute: Beschissatlas. Zahlen und Fakten zu Ungerechtigkeiten in Wirtschaft, Gesellschaft und Umwelt. 208 S. € 19,99 [D], 20,60 [A], sfr 28,50 ; ISBN 978-3-453-28037-3
Wende überall?
„Wende überall? Von Vorreitern, Nachzüglern und Sitzenbleibern“– so das Thema des Jahrbuchs Ökologie 2013. In bewährter Manier – und das heißt hier auf höchstem Niveau – werden darin Befunde und Trends aus den zentralen Nachhaltigkeitsfeldern Energie, Verkehr, Landwirtschaft, Ernährung, Wirtschaft und Wissenschaft analysiert und Transformationspotenziale ausgelotet. Ähnlich wie die Autorinnen von Globale Trends (s. o.) warnt einleitend Christoph Bals von Germanwatch davor, die mageren Ergebnisse von „Rio 2012“als Anlass für die Abkehr von globalen Verhandlungen zu nehmen. Dies würde bedeuten, „endgültig das Recht der Stärkeren an die Stelle des – ohnedies schwachen – Völkerrechts zu setzen und die nationalen Regierungen aus der Pflicht zu lassen.“(S. 15)
Durchaus Erfreuliches wird von der Energiewende berichtet – der Begriff gilt mittlerweile in den USA als deutsches Spezifikum und wurde ähnlich wie „Kindergarten“und „Rucksack“ins eigene Vokabular aufgenommen. Peter Hennicke und Dorothea Hauptstock vom Wuppertal Institut kommen in einer vergleichenden Analyse einschlägiger Energieszenarien zum Schluss: „Eine Reduktion von C02 um 80 Prozent bis zum Jahr 2050 ist in Deutschland auch ohne Atomenergie technisch und wirtschaftlich möglich“(S. 25) Auch den bisher eingeleiteten Veränderungsschritten, allen voran dem Erneuerbare-energiegesetz, wird ein positives Zeugnis ausgestellt. Anders ist dies hinsichtlich der Verkehrs- und Ernährungswende, wo trotz erfolgreicher Nischenakteure noch kein Paradigmenwechsel in Sicht ist. Martin Held und Jörg Schindler fordern von der Politik klare Signale für eine Verkehrswende nach dem Motto: „Von der fossilen Verkehrspolitik zur postfossilen Mobilitätspolitik“(S. 48) Weert Canzler und Andreas Knie entwerfen das Zukunftsbild einer „integrierten Elektromobilität“, in der ein moderner Öffentlicher Verkehr mit E-autos, Pedelecs und Elektroroller kombiniert würde. Nicht mehr der Besitz, sondern die Verfügbarkeit über Fahrzeuge würde in Zukunft – abgewickelt über eine einfach zu handhabende Mobility-card – die zentrale Rolle spielen, so die Experten. Als neue Zielgruppe machen sie insbesondere die „technologie-affinen Urbaniten“der jüngeren Generation aus, bei denen der Anteil der Pkw-neuzulassungen drastisch sinke (S. 53).
Hinsichtlich Ernährungswende beklagt Franztheo Gottwald, dass über die bekannten Nischen der Biolandwirtschaft hinaus die grundsätzliche Umstellung noch ausstehe – sowohl in Deutschland als auch weltweit. Ähnliches gilt für die Wirtschaft insgesamt bzw. für den produzierenden Sektor. Stefan Schaltegger und Erik G. Hansen skizzieren erste Erfolge an den Beispielen Textil- und Energiebranche. Uwe Schneidewind und Hans-jochen Luhmann fordern in der Folge eine Transformation des Wissenschaftssystems in zwei Richtungen: Durch „Transformationsforschung“sollen die Bedingungen, Hürden und Chancen für den Wandel untersucht werden; und „transformatorische Forschung“soll Wandlungsprozesse aktiv befördern, was neue Prioritätensetzungen auch in der Wissenschaftslandschaft und deren finan-
ziellen Dotierungen erfordere. Parallel dazu werden von Gerd Michelsen „Transformationsbildung“– als Verstehen-lernen von Wandungsprozessen – sowie „transformative Bildung“vorgeschlagen. Notwendig hierfür sei die Verankerung von Nachhaltigkeit in der Lehrerinnenausbildung ebenso wie in Lehrmaterialien.
Weitere Beiträge gelten spezifischen Aspekten der Nachhaltigkeit wie der Rolle von „Umwelt-think Tanks“, neuen Finanzallianzen und den Chancen und Grenzen von „Green Economy“, häufig zu wenig beachteten Problemen wie dem Flächenverbrauch, der Nahrungsmittelverschwendung, den Schiffsemissionen und der Meeresverschmutzung. Wie immer werden auch diesmal konkrete Projekte wie eine Co2-neutrale Universität, Initiativen für „Energie in Bürgerhand“, ein erstes Solarflugzeug sowie die Umweltinstitutionen „Nova-institut für Ökologie und Innovation“, „Grüne Liga e. V. – Netzwerk ökologischer Bewegungen“und „Slow Food Deutschland e. V.“vorgestellt.
Besonders eingegangen sei noch auf einen Beitrag des Sozialwissenschaftlers Davide Brocchi, der auf die begrenzten Krisenreaktionspotenziale von Gesellschaften eingeht. Krisen deutet der Autor als „Lücke zwischen Wahrnehmung und Wirklichkeit“(S. 131), was am Verhalten der Europäer im Sommer 1939 kurz vor dem Ausbruch des 2. Weltkriegs ebenso abzulesen sei wie am Ausbruch der Finanzkrise im Sommer 2008. In beiden Fällen herrschte weitgehende Verdrängung. Im Sommer 1939 gingen die meisten Menschen auf Urlaub, „wie an jedem warmen Sommer davor“(S. 130) und Warnungen wie das 2003 erschienene Buch „The Coming Crash in the Housing Market“oder der 2006 erschienene Titel „Der Crash kommt“wurden einfach ignoriert. Brocchi sieht vier Hürden für komplexe Wahrnehmung: Menschen können nicht die ganze Wirklichkeit wahrnehmen, sie wollen es nicht (z. B. Konformitätszwang), sie müssen es nicht (Arbeitsteilung, Macht) und viertens sie dürfen es nicht (Geheimhaltung wichtiger Dinge, Ablenkung durch Unterhaltung und „tittytainment“). Wie lässt sich nun die Wahrnehmungsfähigkeit schärfen? Brocchi spricht von „gesellschaftlichen Sinnesorganen“, die die Wachsamkeit und das „Empfinden des Schmerzes“(S. 135) fördern und nennt fünf Gruppen: die Zivilgesellschaft, die Künste, die Naturund Geisteswissenschaften einschließlich eines investigativen Journalismus, des Weiteren die Migranten (!) als „Botschafter anderer gesellschaftlicher, kultureller und ökologischer Realitäten“sowie schließlich Pioniere und Subkulturen als „gesellschaftliche Labors“(S. 135). Notwendig sei eine „Kulturwende“(s. Beitrag Heike Leitschuh, S. 16), denn der „Hyperkonsum, die Hyperinformation, die Leistungsgesellschaft oder die Erlebnisgesellschaft“hätten die menschlichen Grenzen nicht erweitert, sondern das menschliche Leben verstopft: „Viele Menschen haben keine Zeit und keine freien Räume mehr für echte Veränderungen.“(S. 136) Brocchi fordert daher dreierlei: eine De-globalisierung, die das Leben wieder überschaubarer macht, eine De-virtualisierung, die die sinnliche Wahrnehmung schärft, sowie schließlich eine De-medialisierung, die tatsächliche politische Partizipation vor ledigliches Informiertwerden als Zuschauer des Geschehens stellt. Konzepte wie die Rückkehr zum menschlichen Maß (Kohr, Schumacher) oder einer Postwachstumsökonomie (Paech) würden damit in den Vordergrund treten. Oder wie es Heike Leitschuh in ihrem Beitrag über die Notwendigkeit neuer „Deutungseliten“formuliert: „Mut zu Emotionen, Nachhaltigkeit Gesichter geben und die Aussicht auf mehr Lebensqualität adressieren!“Ein in der Tat spannender Ansatz! H. H.
Wandel: Nachhaltigkeit
5 Wende überall? Von Vorreitern, Nachzüglern und Sitzenbleibern. Jahrbuch Ökologie 2013. Red. Udo Ernst Simonis. Stuttgart: Hirzel 2012. 256 S., € 21,90 [D], 22,60 [A], sfr 30,70
ISBN 978-3-7776-227810
Öko-konsum reicht nicht
„Nachhaltiger und umweltbewusster Konsum ist absolut notwendig, wenn eine Trendwende erreicht werden soll. Die gegenwärtige Debatte zum nachhaltigen Konsum läuft jedoch in die falsche Richtung. Sie schiebt den individuellen Konsumenten eine Verantwortung zu, die sie weder tragen wollen noch können.“Damit umreißt Armin Grundwald vom Karlsruher Institut für Technologie die zentrale These seines Buches „Ende einer Illusion“(Zitat S. 13f). Der Experte – er ist zugleich Direktor des Büros für Technikfolgenabschätzung des Deutschen Bundestags – konstatiert diese Verantwortungsabschiebung als Folge der Enttäuschung über die Wirkmächtigkeit von Politik, Wirtschaft und NGOS seit Beginn der Debatten über Nachhaltigkeit. Er beschreibt Fallen im Diskurs über Nachhaltigkeit – vom Glauben an Information über falsche Moralisierung und Drohgebärden über den Weltuntergang bis hin zu Gewissensberuhigung und Ablasshandel – Muster, die kulturgeschichtlich bereits im Alten Testament grundgelegt wurden, doch in Bezug auf den not-
wendigen Wandel wenig hilfreich seien: „Alarmismus und Katastrophismus sind wiederkehrende Muster, an die wir uns fast gewöhnt haben. Sie gehören geradezu zum Inventar unserer Medienwelt und der Moralisierung.“(S. 54) Grunwald zitiert beispielsweise eine Meldung der Bild-zeitung aus dem Frühjahr 2007, als gerade ein neuer Ipcc-bericht erschienen war: „Schafft es die Menschheit nicht bis zum Jahr 2020, den Treibhauseffekt zu stoppen, löscht sie sich selbst aus – unter entsetzlichen Qualen.“(ebd). Die Moralisierung des Konsums führe dazu, dass wir uns permanent selbst befragen müssen, was der Gewissenserforschung im Beichtstuhl ähnle, der Ablasshandel sei daher die logische Konsequenz, etwa durch die Leistung von Co2ausgleichzsahlungen für Flüge. Grunwald zweifelt nicht an der Notwendigkeit eines nachhaltigeren Konsums, jedoch daran, ob der moralische Druck das richtige Mittel sei und nennt als wesentliche Hürde das Mobilisierungsproblem („Nur als Massenphänomen kann nachhaltiger Konsum den Erwartungen entsprechen.“S. 65), die Überforderung der Konsumenten, die bei Konsumentscheidungen etwa unter Zeitdruck stünden, der Mangel an Systemwissen („Um Wasser zu sparen, wäre es beispielsweise sinnvoller, weniger Fleisch zu essen als weniger zu duschen.“S. 72) sowie Bumerang- und Reboundeffekte (Aufwiegen der Effizienzgewinne durch mehr Konsum). Schließlich führe Freiwilligkeit zum Trittbrettfahrer-dilemma.
Als Hauptproblem sieht Grundwald jedoch den „Trend zur Selbstberuhigung“: „Je stärker die Nachhaltigkeits-, Umwelt- und Klimaprobleme sichtbar werden, umso mehr wird über nachhaltigen Konsum geredet.“(S. 87) Es gehe aber darum, den Kurs des „Tankers“namens Menschheit oder Weltgesellschaft zu ändern: „Der Kurs betrifft das Ganze, und das ist immer eine öffentliche Angelegenheit mit all den Anforderungen an Dialog, Transparenz und Legitimation, die keine Sache des privaten Konsums ist.“(S. 89) Da der Kurs uns alle gleichermaßen betreffe, seien wir nicht als Konsumenten, sondern als Bürger gefragt. Das Engagement auf öffentlichen Plattformen, in Dialogen, in (Massen)-medien sowie zivilgesellschaftlichen Organisationen mache dabei ebenso Sinn wie das Drängen auf neue Gesetze (das deutsche EEG nennt Grunwald dabei als Vorbild). Letztlich sei eine Art TÜV der Nachhaltigkeit für alle neuen Gesetzesvorhaben nötig, die Nachhaltigkeitsprüfung sei in die Gesetzesfolgenabschätzung zu integrieren. Der Experte verweist schließlich auf etwas, was in der Politik wohl unterschätzt wird, nämlich, „dass viele Menschen den Sinn (nachhaltigkeits)-politischer Maßnahmen durchaus einsehen, auch wenn sie zunächst zu individuellen Nachteilen führen“(S. 99). Als Beispiel nennt er Steuererhöhungen „Niemand begrüßt sie, aber wenn es gute Argumente gibt und sie demokratisch beschlossen und verbindlich umgesetzt werden, werden sie akzeptiert.“(ebd.)
H. H. Nachhaltigkeit: Politik
6 Grunwald, Armin: Das Ende einer Illusion. Warum ökologisch korrekter Konsum die Umwelt nicht retten kann. München: oekom, 2012. 128 S., € 9,75 [D], 10,04 [A], sfr 13,60
ISBN-13: 978-3-86581-309-1
Wirtschaft zum Glück
Transformationsforschung widmet sich den Bedingungen des Wandels. Eine davon sind konkrete Projekte, die andere Wege versuchen und damit neue kollektive Erfahrungen zur Verfügung stellen. Denn Ideen werden nur wirksam, wenn es Menschen gibt, die sie in die Tat umsetzen. Solche „Pioniere des Wandels“im Bereich neuer Unternehmensformen stellt ein von der „WOZ“– selbst ein genossenschaftlich geführtes Medienprojekt in Zürich – herausgegebenes Buch „Wirtschaft zum Glück“vor. Bettina Dytrich und Pit Wuhrer haben darin gemeinsam mit Ko-autorinnen Betriebe porträtiert, deren Ziel nicht der Profit, sondern die Orientierung am Gemeinwohl sowie an einer kooperativen Unternehmenskultur ist. Manche Ansätze seien aus der Not geboren, andere vom Wunsch von Menschen getragen, ihr Geld sinnvoll anzulegen, so das Herausgeber-duo. Insgesamt wird ein Trend zu neuen Unternehmensformen konstatiert, die – wie im Falle von Genossenschaften – ja nicht wirklich neu erfunden werden müssen, sondern nur neu zu beleben sind: „So entstehen zum Beispiel in Griechenland überall Netze der Solidarität und gegenseitigen Hilfe, die kollektiv ein Überleben ermöglichen. In Spanien kommt es wieder zu Landbesetzungen, die von erfahrenen Landarbeiterinnen-kooperativen unterstützt werden. In Deutschland erlebt die Genossenschaftsbewegung eine neue Blüte, in Dänemark betreiben inzwischen weit über tausend Bürgerinnen-gemeinschaften Windparks, und im krisengeschüttelten Britannien ist die Kooperative Wirtschaft in den letzten drei Jahren um zwanzig Prozent gewachsen.“(S. 10) Doch auch im Bereich der Lebensmittelversorgung würden sich neue Erzeuger-verbraucher-kooperativen entwickeln, etwa Food-