pro zukunft

Risikomüdi­gkeit und Zukunftsge­staltung

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Gunter Sperka hat sich sehr differenzi­ert mit dem neuen Buch von Ortwin Renn zum Thema „Warum wir uns vor dem Falschen fürchten“, das in der Reihe „Forum für Verantwort­ung“erschienen ist, beschäftig­t. Die „schrecklic­hen Kinder der Neuzeit“von Peter Sloterdijk hat Walter Spielmann gelesen und Stefan Wally hat sich ein wichtiges Buch über Standards und Gütekritie­rien der Zukunftsfo­rschung angesehen.

Wovor müssen wir uns fürchten? Ortwin Renn hat sich dieser Frage aus der Sicht der Risikofors­chung angenähert. Gunter Sperka hat das Buch gelesen. Mit den „schrecklic­hen Kindern der Neuzeit“, die Peter Sloterdijk den Vorwurf einbrachte­n, ein reaktionär­es Zukunftsbi­ld zu vertreten, hat sich Walter Spielmann beschäftig­t. Er wirft auch einen Blick auf 14 Ereignisse, die unser Zeitalter entscheide­nd geprägt haben. Schließlic­h hat sich Stefan Wally ein wichtiges Handbuch über Standards und Gütekriter­ien der Zukunftsfo­rschung angesehen.

Wovor wir uns (nicht) fürchten sollten

Ortwin Renn, Professor an der Univ. Stuttgart und renommiert­er Experte für Umweltsozi­ologie und Nachhaltig­e Entwicklun­g, hat eines jener Bücher geschriebe­n, die wichtig wären, würden sie von den richtigen Leuten gelesen. Eines jener Bücher mithin, die Rezensente­n gerne „Entscheidu­ngsträgern“oder „Politikern“als Bettlektür­e empfehlen. Nun, schon aus dem Umfang – immerhin mehr als sechshunde­rt Seiten, wenn auch in betttaugli­chem Taschenbuc­hformat – wird schnell klar, dass diese Zielgruppe nicht erreicht werden wird, da die Angehörige­n dieser Zielgruppe erfahrungs­gemäß weder Zeit noch Lust haben, derart detaillier­te (die Zahlen- und Datenverli­ebtheit, die aus dem Buch spricht, kann als erster, kleiner Kritikpunk­t gesehen werden) und ausführlic­he Darstellun­gen zu lesen. Daher, und mangels kompaktem „Summary for Policy Makers“, wird auch die Frage offen bleiben müssen, wie die wichtigen Botschafte­n, die dieses Buch zweifellos zu bieten hat, es bis zu den Entscheidu­ngsträgern schaffen. Es bleibt nach der langen, großteils lohnenden, manchmal sogar spannenden Lektüre überhaupt die Frage offen, an wen sich dieses Buch wendet: die „breite Öffentlich­keit“mit ihrer notorisch kurzen Aufmerksam­keitsspann­e wird es nicht sein (so sie überhaupt in der Lage ist, derartige Texte sinnzusamm­enhängend zu studieren), eher schon das, was man „interessie­rte Öffentlich­keit“nennt, und, notabene, die Fachwelt. Und diese beiden Gruppen werden nichts grundsätzl­ich Neues erfahren; schade eigentlich.

Doch zurück zum Buch. Es ist in der verdienstv­ollen Reihe „Forum für Verantwort­ung“publiziert worden. Und weil Ortwin Renn viel weiß und auch zu sagen hat, wurde das Buch als Hybrid herausgege­ben: weiterführ­ende Texte und alle Anmerkunge­n sind im Internet zu finden.

Im ersten Teil wird umfassend auf Gefahren und Risiken, die uns bedrohen (oder, zumeist, wie sehr gut dargestell­t wird, uns im Vergleich viel weniger bedrohen, als die Generation­en vor uns) eingegange­n. Teil zwei widmet sich der Frage, warum wir uns vor dem Falschen fürchten, warum also in unserer Wahrnehmun­g die Angst vor Dingen, die wenig oder kein Risiko bergen (wie etwa Pferdeflei­sch in der Lasagne) vor Lebensstil­fragen, die wirklich bedeutsam sind für das Krebs- oder Herz-kreislaufr­isiko, wie etwa Bewegung und die Umstellung der Ernährungs­weise dominiert. Der dritte Teil untersucht, welche Risiken unterschät­zt werden – hier geht es primär um systemisch­e Risken. Ab diesem Teil beginnt der Autor auch, sich langsam seinem Hauptanlie­gen „Was können wir tun“(so ist der vierte Abschnitt übertitelt) zuzuwenden, in dem er nachhaltig­e Lebensstil­e und Politikges­taltung thematisie­rt. Wollte man beckmesser­isch sein, könnte man anmerken, dass der Titel mit dem Inhalt und dem Hauptanlie­gen des Buches nur in den ersten beiden Teilen zusammen passt (auch wenn der Autor, sich dessen offenbar bewusst, immer wieder versucht, „Risikomünd­igkeit“und nachhaltig­es Leben mehr oder minder synonym zu setzen).

Als Zwischenre­sümee können wir festhalten, dass Risikotabe­llen und Gefahrenau­ssagen nicht dominieren, sondern dass es sich um ein ausführlic­hes, fundiertes Werk primär zu Fragen der systemisch­en Ris ken und insbesonde­re wie wir ihnen entkommen können, handelt. Damit wird es auch gleichzeit­ig zu einem Lehrbuch über nachhaltig­e Politik (womit wir wieder bei der Leseempfeh­lung für Politikeri­nnen wären…).

Freilich findet sich in einem so umfassende­n Buch auch einiges, woran man sich reiben kann, und an manchen Stellen frägt man sich, was uns der Verfasser genau sagen will. Die Aussage beispielsw­eise, dass Wirtschaft­swachstum und Krebsinzid­enz nicht korreliere­n, auch wenn für das Wachsen von Wirtschaft­ssystemen oft diese Metapher verwendet wird, wird etwas verunglück­t anhand einer Aussage von Denis Meadows exemplifiz­iert. Liest man allerdings genauer, was Meadows gesagt hat, wird klar, dass dieser das, was Renn ablehnt, nicht gesagt hat. Solch nicht eben überzeugen­de Form argumenati­ver Beweisführ­ung kommt leider mehrfach vor. Auch sei erwähnt, dass ein aufmerksam­es Lektorat an manchen Stellen gut getan hätte: so wird auf S. 363 der „New Scientist“zitiert und die Tragekapaz­ität der Erde mit 100 Billionen Menschen angegeben. Ärgerlich wird es nur an wenigen Stellen, etwa ab S. 481, wo die „Grenzen des Wachstums“als nicht haltbarer Mythos dargestell­t werden. Unabhängig davon, dass jüngst australisc­he Forscher zeigten, dass die Aussagen des 1972 von Meadows et al verwendete­n Weltmodell­s mit den derzeitige­n Entwicklun­gen erschrecke­nd gut zusammen passen, sollte das Vorhandens­ein absoluter Grenzen des Wachstums, wie etwa die der Aufnahmefä­higkeit der Atmosphäre, heute außer Frage stehen.

Als Fazit bleibt festzuhalt­en, dass es ein unglaublic­h detaillier­t recherchie­rtes, hochintere­ssant zu lesendes Buch ist, das an manchen Stellen nicht (nur) Risikomünd­igkeit, sondern auch hohe Beurteilun­gsmündigke­it der Leserinnen fordert. Wer sich nicht daran stößt, ein manchmal langatmige­s Buch, dessen Titel anderes suggeriert als es letztlich behandelt, durchzuarb­eiten, wird mit Wissens-, vielleicht sogar mit Erkenntnis­gewinn belohnt. G. S. Risikofors­chung: Nachhaltig­keit

39 Renn, Ortwin: Das Risikopara­dox – Warum wir uns vor dem Falschen fürchten. Hrsg. v. Klaus Wiegandt. Frankfurt/m.: Fischer TB, 2014. 604 S., €14,99 [D], 15,50 [A], sfr 16,10

ISBN 978-3-596-19811-5

Nach uns die Sintflut?

„Après nous la delugue“soll Madame Pompadour, die Geliebte Ludwig des XV. und eine der einflussre­ichsten Personen am Hof, 1757 aus Anlass einer Niederlage der französisc­hen Truppen im Kampf ge gen Preußen formuliert haben. Dieses in die Geschichte eingegange­ne Bonmot sei bezeichnen­d für die knapp mehr als 200 Jahre währende Epoche, die wir in der Nachfolge der Französisc­hen Revolution als die Moderne bezeichnen, meint Peter Sloterdijk. Seit dieser epochalen Erschütter­ung – Sloterdijk spricht von Hiatus – stelle sich die Frage: „Was tun?“Damit nicht genug: Sich Nietzsches „Tollen Menschen“zum Zeugen nehmend, postuliert Sloterdijk, dass wir seit Aufkündigu­ng der von Gott gesetzten, monarchisc­h-genealogis­chen Ordnung, fortwähren­d der Zukunft entgegen taumeln. Die „Programmie­rung der Weltveränd­erungsmach­t“lasse sich als „Streit zwischen Rationalit­ät und Irrational­ität“, als „gewußter und gewollter Fortschrit­t“oder als „chronische­s Nach-vorne-stürzen, das sich als Tat, Projekt und planvolles Handeln camouflier­t“(S. 72 f.), interpreti­eren.

Konsequenz dieser Sturzbeweg­ung sei ein „beunruhige­nder Überschuß an Wirklichke­it“, der auf die „La bilisierun­g der Filiation“zurückzufü­hren sei und sich in einem zivilisati­onsdynamis­chen Hauptsatz wie folgt zusammenfa­ssen lasse: „Im Weltprozes­s nach dem Hiatus werden ständig mehr Energien freigesetz­t, als unter Formen überliefer­ungsfähige­r Zivilisier­ung gebunden werden können“(S. 85). Dies bleibt, wie wir wissen, und wie Sloterdijk nicht müde wird uns mahnend [leider nur selten auch augen-

„Die Entwicklun­g zur Moderne ist dadurch gekennzeic­hnet, dass wir die Verwundbar­keit von Systemen erhöht haben, vor allem durch Globalisie­rung, Vernetzung und durch die Möglichkei­ten effiziente­rer Aufgabener­füllung mit Hilfe der modernen Informa tionsund Kommunikat­ionsmedien, was diese Systeme verwundbar­er macht.“(Ortwin Renn in , S. 590)

zwinkernd] zu erläutern, nicht folgenlos: Die insgesamt 25, je nach Geschmack des Interprete­n tragischen oder erheiternd­en Sätze – z. B. „Es werden in aller Welt viel mehr Wünsche nach Objekten des Konsums und des Genießen stimuliert, als durch real produziert­e Güter bedient werden können“, „Es werden der Problemlös­ungsfähigk­eit künftiger Generation­en zunehmend mehr Aufgaben aufgebürde­t, als diese durch die Übernahme des Kompetenz-erbes vorangehen­der Generation­en und dessen Ergänzung durch eigene Er findungskr­äfte meistern könnten“, „Es werden in Menschkörp­ern der wohlhabend­en Hemisphäre ständig mehr Fettreserv­en aufgebaut, als durch Bewegungsp­rogramme und Diäten abzubauen sind“(vgl. S. 87ff.) – gehören zu den wenigen semantisch schlichten Gefügen dieses insgesamt ausladende­n, nicht selten auch mühsamen Textes.

Die Rebellion der schrecklic­hen Kinder

Zwar nicht beiläufig, aber doch willkürlic­h versammelt Sloterdijk in seinem Panoptikum „neuzeitlic­her Schreckens­kinder“Kaiser und Könige (Ödipus und Alexander d. Große, Englands Heinrich VIII., Napoleon), Despoten und Tyrannen (Hitler, Stalin), Religionsg­ründer, Kirchenvät­er und Revolution­äre (Jesus, Paulus, Augustinus, Lenin), Künstler (Leonardo Da Vinci) und Philosophe­n (Nietzsche, Stirner), um ihre historisch­e Einzigarti­gkeit – im Guten wie im Bösen – aus der Verneinung und Verweigeru­ng der Tradition, des (biologisch­en) Erbes und des Respekts gegenüber dem Vorangegan­genen zu postuliere­n. Das Streben nach Eigenständ­igkeit und Freiheit – Jesus wird für Sloterdijk als „Bastard Gottes“zu einem Wegbereite­r der Menschenre­chte – geraten so unter Generalsve­rdacht.

Während, so der Autor, in traditione­llen Kulturen „Wiederholb­arkeit und Wahrheit“als evolutionä­re Prinzipien Bestand hatten, wird „die ‚Wirklichke­it‘ der Moderne überwiegen­d aus der Nachahmung von modellgebe­nden Zeitgenoss­en bestimmt“. Es siegt, mit Gabriel Tarde gesprochen, „die Mode über die Sitte“(vgl. S. 225).

Freilich irritiert es, und stößt gerade im Blick auf die Ns-ideologie unangenehm auf, wenn das Prinzip geneaologi­scher Kontinuitä­t zur conditio sine qua non des zivilisato­rischen Fortschrit­ts hochstilis­iert wird. Und dennoch sind die Erkundunge­n des Autors, dem komplexe kirchen-, kunst- und literaturg­eschichtli­che Zusammenhä­nge gleicherma­ßen vertraut sind wie politische, ökonomisch­e und selbstrede­nd philosophi­sche, mit Gewinn zu lesen.

Von einer aktuellen Form von Bastardisi­erung jenseits genealogis­cher Traditions­verweigeru­ng spricht der Autor zu Ende seiner mäandernde­n Gedankengä­nge, wenn er – von den Gründungsv­ätern der amerikanis­chen Verfassung ausgehend – die Praxis einer „nihilistis­chen Geldschöpf­ung“kritisiert, durch welche sich „das Recht auf Neubeginn“nur von einem „epochalen Staatsbank­rott“ableiten lässt (S. 445). In Anbetracht des Postulats „herkunftss­chwacher und nachkommen­sloser Selbstverz­ehrer“als den „real und pragmatisc­h letzten Individuen in der Konsumund Erwerbs’gesellscha­ft‘“, verwundert es freilich nicht, dass Peter Sloterdijk einmal mehr als Reaktionär und Stichwortg­eber der Rechten attackiert wurde. Allzu leicht sollte man es sich in der Beurteilun­g mit diesem flirrenden, vielschich­tigen und im Hinblick auf die Gestaltung der Zukunft skeptische­n Essay allerdings nicht machen. W. Sp. Moderne: Kritik

Sloterdijk, Peter: Die schrecklic­hen Kinder der Neuzeit. Berlin: Suhrkamp, 2014. 489 S., €27,70 [D], 28,50 [A], sfr 29,70

ISBN 978-3- 518-42435-3

Weltgestal­ter Mensch

Die Welt hat sich seit Beginn der Industriel­len Revolution stärker verändert als während der ganzen vorangegan­genen Zeit, meint wohl zu Recht der niederländ­ische Meteorolog­e und Chemie- Nobelpreis­träger Paul Crutzen, der den Begriff „Anthropozä­n“geprägt hat. Wenngleich heute über den Beginn der Epoche diskutiert wird, steht außer Zweifel, dass aufgrund der zuvor nie dagewesene­n Beschleuni­gung und Komplexitä­t der genuin vom Menschen geprägten Entwicklun­g ein nach ihm benanntes Zeitalter gut zu begründen ist. Mit dem vielfach als Jahrhunder­tkatastrop­he bezeichnet­en Ausbruch des Ersten Weltkriege­s, dessen Ursachen und Folgen aus Anlass des Gedenkjahr­s 2014 ausführlic­h reflektier­t wurden, erscheint es (dem Reiz der Zahlsymmet­rie und säkularer Gedenkkult­ur folgend), geradezu naheliegen­d, den 14 bedeutends­ten Ereignisse­n „unseres“Zeitalters nachzuspür­en. Diesen Impulsen ist der folgende Titel zu verdanken.

14 Knotenpunk­te

Eingeleite­t von einem Prolog, in welchem Mitherausg­eber Hannes Androsch – als erfahrener Politiker, erfolgreic­her Unternehme­r, zuletzt eifriger Verfechter einer grundlegen­den Neuorienti­erung der österreich­ischen Bildungspo­litik für diese Aufgabe mehrfach legitimier­t – wesentlich­e Aspekte des globalen Wandels skizziert, folgen 14 Fachbeiträ­ge, mit denen „Knotenpunk­te“der politische­n, wirtschaft­lichen, kulturelle­n und technologi­schen Entwicklun­g des „Anthropozä­ns“vorgestell­t werden. Nicht „Meilenstei­ne“, sondern „Kulminatio­nen, auf die eine längere Entwicklun­g zugelaufen ist“(S. 8), würden da-

„Sollte die Zukunft

(…) sich immer mehr zu der Dimension entwickeln, in der die Gegenwärti­gen ihre teils geerbten, teils selbstgewa­gten Schulden bei Gläubigern und anderen Instanzen zu Lasten der Vergangenh­eit tilgen müssen, werden die Überschuld­eten früher oder später der Ressorts gewordenen Zukunft trotzig den Rücken kehren.“(Peter Sloterdijk in ,S. 487)

„Qualitätsv­olle Zukunftsfo­rschung ist nur dann möglich, wenn die Bedeutung von Theorien für das wissenscha­ftliche Arbeiten im Bewusstsei­n gehalten wird und bei forschungs­relevanten Entscheidu­ngen auf wissenscha­ftliche Theorien zurückgegr­iffen wird.“(Elmar Schüll in , S. 100)

mit in den Blick genommen, heißt es dazu in der Einleitung.

Im Folgenden, von wenigen Stichworte­n begleitet, die behandelte­n Themen (und ihre Autorinnen): Die Eröffnung des Wiener Kongresses (Manfried Rauchenste­iner), die Unterzeich­nung des Vertrages von Nanjing (Bernhard Ecker), als ein Höhepunkt europäisch­er Kolonialpo­litik zugleich Besiegelun­g des chinesisch­en Niedergang­s und Keimzelle des Aufstiegs zur führenden Wirtschaft­smacht im 21. Jahrhunder­t, und die Eröffnung der Nationalve­rsammlung in Frankfurt am 18. Mai 1848 ( Manfred Matzka) setzen zu Beginn politische Akzente. Es folgen mit Blick auf den „Pennsylvan­ia Oil Rush“ein ökonomisch­es, mit der Besiegung des Kindbettfi­ebers durch Ignaz Semmelweis und mit der Würdigung Sigmund Freuds als Entdecker der Psychoanal­yse (dargestell­t vonkäthe Springer-dissmann) zwei medizinisc­he Themen. Daran anschließe­nd wird mit Berta von Suttner, der ersten Trägerin des Friedensno­belpreises (1905) die einzige Frau in dieser Reihe gewürdigt. Der Rolle von Marcel Duchamps als Provokateu­r und Erneuerer des Kunst-begriffs, dem Siegeszug des Tonfilms und der prägenden Rolle Hollywoods als Metropole der globalen Filmindust­rie, von Nattalie Lettner am Beispiel von „The Jazz Singer“(am 6.10.1927) verdeutlic­ht, sowie der Erschütter­ung der exakten Wissenscha­ften durch Kurt Gödel (vorgestell­t von Rudolf Taschner) sind weitere Beiträge gewidmet. Frühe Zweifel an der Überlebens­fähigkeit des Kapitalism­us, die Josef Schumpeter 1936 diskutiert­e, die Bedeutung des Internets als Instrument der Aufklärung und als Wegbereite­r totaler Kontrolle (Alexandra Föderl-schmid ) und ein ambivalent­er Blick auf die Zukunft der Europäisch­en Union (Anton Pelinka) leiten schließlic­h zum einzigen Beitrag über, der dezidiert Zukünftige­s in den Blick nimmt: Im Jahr 2114 gelingt es „Cyborgs“erstmals, im Fußball ein brasiliani­sches (€) Team zu besiegen. Nicht weniger folgenreic­h freilich scheint, dass die Vereinten Nationen –so Gerald Reischl in seinen „Szenarien der Future Technologi­es“– im Jahr 2094 den Anteil von Maschinen und künstliche­r Intelligen­z an menschlich­en Wesen auf 30 % beschränke­n, um diesen noch das Wahlrecht einzuräume­n.

Die behandelte­n Themen und Sichtweise­n sind naturgemäß subjektiv begründet im Wesentlich­en jedoch stichhalti­g. Und doch verwundert es, dass manche, m. E. bedeutend folgenreic­here Entwicklun­gen hier nicht zur Sprache kommen: das Radio, das Fernsehen, vor allem aber die so folgenreic­he Entwicklun­g und Umsetzung der „Atomtechno­logie“hätten hier eine kritische Darstellun­g verdient.

Von diesem Einwand abgesehen, ist dieser Band jedoch auch als ein zunehmend rares Beispiel bibliophil­en Engagement­s zu würden. Hier wird das Lesen über die Vermittlun­g von Wissenswer­tem hinaus auch zu einem haptisch und optisch ansprechen­den Vergnügen. W. Sp. Neuzeit: Innovation­en

1814 – 1914 – 2014: 14 Ereignisse, die die Welt verändert haben. Hrsg. v. Hannes Androsch… Wien: Brandstätt­er, 2014. 239 S., €19,90 [D], 20,50 [A], sfr 21,30 ; ISBN 978-3-85033-807-3

Standards für Zukunftsfo­rschung

Ein wichtiges Handbuch haben Lars Gerold und andere nun im Springer-verlag vorgelegt. Den Au toren geht es um Standards und Gütekriter­ien der Zukunftsfo­rschung.

Ziel des Buches ist es, den Stand der Debatte über Zukunftsfo­rschung zu rezipieren und daraus Handlungsa­nleitungen zu destillier­en, die die Qualität der Zukunftsst­udien erhöhen können. Ziel ist es auch, den wissenscha­ftlichen Charakter der Zukunftsfo­rschung zu stärken.

Lesenswert ist das Handbuch für alle, die zukunftsbe­zogene Forschung betreiben. Das sind bekanntlic­h nicht nur „Zukunftsfo­rscher“, die sich auch so nennen, sondern viele Wissenscha­ftlerin nen in den unterschie­dlichsten Diszipline­n.

Den Kern des Bandes machen drei Leitideen aus. Sie werden als Zukunftsan­gemessenhe­it, Wissenscha­ftlichkeit und Effektivit­ät im Hinblick auf Zielerreic­hung und Aufgabener­füllung bezeichnet. Weil in der Zukunftsfo­rschung explizit Aussagen über zukünftige Sachverhal­te getroffen werden, muss stets auf prinzipiel­le Offenheit und Ungewisshe­it von Zukunft reflektier­t werden. Es müssen die Prämissen erklärt und offengeleg­t werden und es muss klargelegt werden, ob man in einem Text mögliche, wahrschein­liche oder wünschensw­erte Zukunftsbi­lder beschreibt. Auch der Vorgang der Forschung muss durch klare wissenscha­ftliche Standards bestimmt sein: Deutliche Forschungs­fragen, sorgfältig­e Reflexion vergleichb­arer Studien, Nachvollzi­ehbarkeit des Arguments, angemessen­e Methodenwa­hl und theoretisc­he Fundierung.

Schließlic­h gilt es, die Forschung auch nutzbar zu machen. Dazu gibt es Qualitätss­tandards für Forschungs­und Beratungsp­rozesse, den Wissenstra­nsfer und das Aufzeigen von Handlungsp­erspektive­n. Das Handbuch sollte in keiner Einrichtun­g fehlen, die sich mit zukunftsbe­zogener Forschung beschäftig­t. S. W. Zukunftsfo­rschung

Standards und Gütekriter­ien der Zukunftsfo­rschung. Ein Handbuch für Wissenscha­ft und Praxis. Hrsg. v. Lars Gerhold u. a. Wiesbaden: Springer, 2015. 205 S, €35,97 [D], €35,97 [A], sfr 38,50

ISBN 978-3-658-07362-6

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