Eine Bestandsaufnahme
Die Terroranschläge von Paris zu Beginn dieses Jahres haben die Welt verändert. Kaum ein Tag, an dem nicht von der Bedrohung durch islamistische Fundamentalisten, von den Gräueltaten der Kämpfer des „Islamischen Staats“und von der Notwendigkeit, darauf en
Kaum ein Tag, an dem nicht von der Bedrohung durch islamistische Fundamentalisten und den Gräueltaten der Kämpfer des IS geschrieben wird. Neben den Beiträgen des tagespolitischen Journalismus gibt es mittlerweile eine Reihe an Publikationen, Vorträge und Interviews zum Thema, die sich Walter Spielmann angesehen hat.
Was bedeutet Islamismus?
In einer schmalen, aber, der Tradition der Reihe entsprechend, gehaltvollen Annäherung an seinen Gegenstand legt Tilman Seidensticker, Islamwissenschaftler an der Friedrich-schiller-universität in Jena, einleitend dar, dass es „eine allgemein akzeptierte Definition des Begriffs Islamismus nicht gibt“(S. 9), um kurz darauf folgende Definition für die weitere Darstellung anzubieten: „Beim Islamismus handelt es sich um Bestrebungen zur Gestaltung von Gesellschaft, Kultur, Staat und Politik anhand von Werten und Normen, die als islamisch angesehen werden.“(ebd.) Grundsätzlich habe man es immer mit einer „subjektiven Auswahl und Interpretation aus der breiten (…) islamischen Tradition zuzüglich neuer Elemente, etwa zur „Herrschaft der Rechtsgelehrten“(nach Khomeini) zu tun [ebd.]. Die „Distanzierung von (unterschiedlich großen) Teilen der religiös-politischen Geschichte“, die „Verabsolutierung des Islams für die Gestaltung des individuellen, gesellschaftlichen und staatlichen Lebens kombiniert mit dem Ziel einer weitgehenden Durchdringung der Gesellschaft“sowie „die Forderung, statt der westlichen Volkssouveränität die ‚Souveränität Gottes‘ ins Werk zu setzen“, seien als empirische Merkmale des Islamismus auszumachen. Mit einer konzisen Darstellung des geschichtlichen Hintergrunds, der prägenden Exponenten, wichtiger Organisationen und Parteien sowie der Rechtfertigung zum Gebrauch von Gewalt bietet der Band reichhaltige Basisinformationen zum Verständnis des islamischen Fundamentalismus.
Islamismus: Bestandsaufnahme
Islamismus als Bedrohung?
Der algerische Schriftsteller Boualem Sansal, 2011 mit dem Friedenspreis des Deutschen Buchhandels geehrt, hat mit diesem Essay - anders als es der Titel nahelegt - eine sachliche Analyse zur Genese und zur aktuellen Bedeutung des Islamismus vorgelegt, die mit Gewinn und Verwunderung zugleich zu lesen ist: Anregend und wertvoll in der Schilderung von Details, aber auch widersprüchlich in der zentralen Beurteilung der Materie.
Eingangs schildert Sansal den Hintergrund und Verlauf des islamistischen Terrors in seiner Heimat, der zwischen 1991 und 2006 mehr als 200.000 Todesopfer forderte, und bietet daran anschließend einen detaillierten Überblick zur Geschichte und Ausdifferenzierung des Islams. Nachvollziehbar plädiert der Autor für die Unterscheidung von Islam und Islamismus, stellt aber die Unterschiede nur ungenügend dar. Wohl zu Recht kritisiert er, dass in Europa zwar über den Islamismus, kaum jedoch über die Werthaltungen des Islams diskutiert werde.
Den Islam sieht Boualem Sansal „weltweit auf Expansionskurs“; hält aber die Ursachen hierfür für „nach wie vor unbekannt“: ein „vermehrtes Bedürfnis nach Spiritualität in einer vom Materialismus dominierten Welt“, eine „Renaissance des Panarabismus oder des Panislamismus“, und eine „Form kultureller Identitätsfindung in einer Welt, die auf der Suche nach einer neuen Orientierung ist“, könnten s. E. als Gründe in Betracht kommen. (S. 55).
Der Islamismus, so Sansal in diesem 2013 verfassten Essay, sei „als solcher weder absurd noch wirk lich gefährlich“. Es handle sich aber um eine „ultraorthodoxe Strömung mit dem Ziel einer radikalen Transformation der muslimischen Länder und letztlich der Welt, die politische und religiöse, soziale und kulturelle Aspekte umfasst“(S. 74).
Wie dieser Bewegung in Anbetracht einer zunehmenden „Schwäche der westlichen Demokratien“,
einer anhaltenden globalen Umwelt- und Wirtschaftskrise sowie einer „verfehlten Einwanderungsund Integrationspolitik“in Europa, aber auch angesichts der nachweislichen Rückständigkeit der arabischen Völker (staatlicher und religiöser Rigorismus, verbissener Nationalismus, die Unterdrückung der Frauen und der Jugend sind nur einige der Folgen) zu begegnen sei, lässt der Autor weitgehend unbeantwortet.
Die Revolutionen des „Arabischen Frühlings“, so Sansals Resümee, haben den Islamismus stark gemacht, und es sei damit zu rechnen, dass er „künftig einen größeren Aktionsspielraum haben wird, zumal Chinesen, Russen, Brasilianer, Südafrikaner etc. problemlos mit ihm zusammenarbeiten können und ihn mit allem beliefern, was auch immer er von ihnen wird ordern wollen“(S. 134). Keine guten Aussichten!
Islamismus: Bedrohungspotenzial
Wie faschistisch ist der Islam?
Breit rezipiert, aber auch kontrovers diskutiert wurde eine Analyse des in Kairo geborenen, in Deutschland lebenden Autors Hamed Abdel-samad, der ob seiner Behauptung, dass der Islam von jeher faschistisch geprägt sei, mit einer Todes-fatwa belegt wurde. Der an den Universitäten Erfurt und München lehrende Islamexperte ist Mitglied der Deutschen Islamkonferenz und setzt sich trotz dieser Bedrohung für einen aufgeklärten Islam in einer säkularisierten Gesellschaft ein.
Davon ausgehend, dass bereits der Ur-islam faschistische Züge entwickelt habe, begründet Abdel-samad seine These unter anderem mit dem im Islam ausgeprägten „Kult der Überlieferung“und der traumatisierenden Erfahrung einer „verspäteten Nationenbildung“im arabischen Raum (die auch in Italien und Deutschland zur Ausbildung des Faschismus geführt hätten).
Man kann im Islam und mehr noch in der islamistischen Radikalisierung gewiss faschistische Tendenzen feststellen, sollte aber vor allem auch Differenzen benennen, etwa jene, dass der Nationalsozialismus die Religion nicht zur Beanspruchung seines barbarischen Herrschaftsanspruchs missbrauchte, oder auch, dass der islamistische Terror (noch) nicht als eine staatstragende Ideologie in Erscheinung tritt, die sich die Ausrottung „artfremder Rassen“zum Ziel gesetzt hat. Nicht außer Acht zu lassen ist vor allem, dass der Islam über viele Jahrhunderte als Vermittler abendländischer Kultur in Erscheinung trat.
Freilich ist dem Autor recht zu geben, dass es in den autoritären Regimen des Nahen Ostens immer wieder faschistoide Tendenzen und massive Formen von Unterdrückung gibt. Umso wertvoller und wichtiger ist sein Nachweis, dass es von Marokko bis Ägypten immer mehr junge Menschen gibt, die sich für einen aufgeklärten, säkularisierten Islam oder auch das Recht auf Konfessionslosigkeit stark machen (vgl. Kapitel 9). Dass andererseits die religiös-politische Radikalisierung im Zeichen des Islams in Europa zunehmend als Ablehnung des Establishments und „westlicher Werte“zu verstehen ist, steht dazu in einem markanten Gegensatz. Um dieser Entwicklung entgegenzuwirken, setzt Abdel-samad u. a. auf „die schweigende Mehrheit der in Europa lebenden Muslime“. Anstatt sich „apolitisch“zu verhalten und den Einsatz für einen säkularisierten Islam einigen Reformern zu überlassen, sei auch sie gefordert, „den Extremisten etwas entgegenzusetzen“. Tun sie es nicht, lau fen auch sie Gefahr als Dschihadisten oder Suffisten angesehen zu werden. (vgl. S. 193f.)
Islam: Faschismus
Die Ideologie des IS
In einem Interview, das auf Youtube zu sehen ist, gibt Jürgen Todenhöfer gleichermaßen interessante, fragwürdige wie unerwartete Einblicke, die er im Verlauf eines zehntägigen Aufenthaltes auf dem Ge biet des IS gewinnen konnte. Die Kampfstärke des IS mache, so der deutsche Nahost- und Terrorexperte, mit rund 40.000 Mann nur 0,02 der muslimischen Bevölkerung weltweit aus und doch sei diese Bewegung aufgrund ihrer militärischen Stärke und Entschlossenheit durchaus in der Lage, weitere Staaten des Nahen Ostens, etwa Jordanien und auch Saudi-arabien zu unterwerfen. Das langfristige Ziel des IS, so des Autors zu hinterfragende These, sei die Ausrottung aller nicht-abrahamitischen Religionen und aller Muslime, die nicht der eigenen radikalen Glaubensrichtung folgen. Damit freilich nicht vereinbar ist die Hinrichtung und Ver folgung von christlichen Kopten und Assyrern. Mit seiner vor allem über die sozialen Medien verbreiteten Strategie des Grauens wolle der IS nicht nur Luftangriffe, sondern vor allem den Einsatz von Bodentruppen provozieren, um im Kampf gegen Ungläubige als Märtyrer zu sterben. Die nach den jüngsten Exzessen betriebenen militärischen Schläge spielten dem IS in die Karten, und nichts sei unsinniger, als dem Terror mit militärischer Gewalt zu begegnen. „Bomben sind ein Terror-zuchtprogramm“, so Todenhöfer pointiert.
Menschen, die vor allem durch den militärischen Einsatz der USA traumatisiert und radikalisiert wur den, könne nur mit Mitteln der Politik begegnet wer-
„Die Islamisten sind flexible Opportunisten. Für sie ist die Religion eine Art Selbstbedienungsladen, in dem sie zu jedem Anlass das Passende finden. Sie plündern nach Belieben den mächtigen Baum des Islam.“(Boualem Sansal in , S. 82)
„Wir werden weder Trost noch Identitätsstiftendes in Religionen oder veralteten Konzepten von Nationen finden, die davon leben, andere auszuschließen. Die Zukunft gehört der Multikulturalität und der Flexibilität. Wer Identitätshygiene betreibt und hohe Mauern um seine Kultur oder Religion baut, hat längst verloren.“(H. Abdel-samad in , S. 206)
den. Würde etwa der Irak die sunnitische Bevölkerung am politischen Leben beteiligen, wäre dem IS ebenso der Boden zu entziehen, wie dies auch in Syrien durch eine Allianz mit dem Assad-regime zu erreichen wäre. Der Westen aber, so das Resümee des Interviewten, sei nicht bereit, entsprechende Initiativen zu ergreifen.
Eine vor allem politisch interessante Analyse, die nicht zuletzt auch einen globalen strategischen Aspekt mit in Betracht zieht: Mit 9/11 und dem Ende der Sowjetunion hätten Us-militärs mit dem Einsatz gegen den Terror wieder ein Motiv gehabt, um strategische und geopolitische Stärke unter Beweis zu stellen; eine Ansicht, die freilich in den westlichen Medien kaum diskutiert wird.
IS: Hintergründe und Gegenstrategien
Syrischer Jihad
Die Formierung eines militanten Islamismus in der syrischen Stadt Hama (1963/1964) und der sich daran anschließende Krieg (bis 1982), der Irakkrieg als Auftakt zum zweiten syrischen Dschihad und eine Darstellung des Zusammenhangs zwischen den Bewegungen des Arabischen Frühlings und dem Dschihad sind Ausgangspunkt einer umfangreichen, mit zahlreichen Originaltexten angereicherten Darstellung zur Genese des IS, die der 1982 geborene Islamwissenschaftler und im Verfassungsschutz tätige Autor mit diesem Band vorliegt. Ausführlich schildert Behnam T. Said die Entwicklung des IS im Irak und in Syrien sowie die Auseinandersetzung zwischen Alquaida und ISIS um die Errichtung des Kalifats, beschreibt die „grenzenlose Ideologie“dieser Bewegung und benennt – mit Verweis auch auf die Geschichte des spanischen Bürgerkrieges – die Rolle ausländischer Kämpfer in Syrien. Ein eigenes Kapitel widmet Said den im Westen tätigen Wegbereitern deutschsprachiger IS- Kämpfer. Da bei wird ausführlich auf die Rolle des in Wien tätigen Mohamed Mahmoud und, gewissermaßen stellvertretend, auf die Geschichte des Berliner Ex-rappers Denis Cuspert und dessen Motive eingegangen, sich dem IS anzuschließen. Interessant im Kontext der jüngsten Anschläge in Europa ist der Hinweis auf eine Studie des dänischen Terrorismusexperten Thomas Hegghammer, wonach westliche Dschihadisten „mehrheitlich dazu ten dieren, sich militanten Gruppen im Ausland anzuschließen und dass nur eine Minderheit in dem erfassten Zeitraum [1990-2010] versuchte, Anschläge vor der Haustüre zu begehen“(S. 168). Die europäischen Staaten, so ein weiterer Befund, hätten kaum legale Möglichkeiten, Is-sympathisanten an der Ausreise zu hindern, da sie „keinen Strafbestand für die Teilnahme an einem im Ausland stattfindenden Krieg kennen“(S. 172).
Bei den Auseinandersetzungen in Syrien, so Said, handle es sich nicht um einen Bürgerkrieg; vielmehr werde in „einer seit Langem schwelenden Rivalität um die Vorherrschaft im Nahen und Mittleren Osten“(unter Einbeziehung geopolitischer Interessen) gekämpft (vgl. S. 175ff.). Mit der Pro klamation des Islamischen Staates im Juni 2014 werde sich, so eine abschließende Prognose des Autors, „das ethnische, religiöse, soziale, wirtschaftliche und politische Gefüge des Nahen und Mittleren Ostens langfristig und schwerwiegend verändern“(S. 197).
IS: Hintergründe und Folgen
Die Rückkehr des Kalifats
Einen kenntnisreichen, differenzierenden Blick auf die historische Entwicklung, die kulturelle und soziale Bedeutung des Islamischen Staats (und der daraus ableitbaren Unterstützung, die dieses Regime in weiten Teilen der Bevölkerung findet) sowie nicht zuletzt eine klare Benennung der politischen Feh ler der USA und ihrer Verbündeten leistet Loretta Napoleoni, ausgewiesene Expertin für die ökonomischen Grundlagen des internationalen Terrorismus. Die Autorin, unter anderem Beraterin der UN, beleuchtet die technologische Modernität der Bewegung, verweist auf das archaische Motiv eines eigenen islamischen Staates (in Analogie zum zionistischen Projekt) und reflektiert die herausragende Bedeutung des Kalifen Abubakr al-baghdadi, der, 2009 aus einem Us-gefangenenlager in Irak entlassen, zum „Phoenix aus der Asche“werden konnte. Neben vielen historisch interessanten Aspekten weiß die Autorin aber auch um die mögliche Attraktivität dieses wegen seiner militanten Radikalität verabscheuenswerten Modells einer streng hierarchisch strukturierten Gesellschaft, die in „perfekter Harmonie mit al-tahuid, dem Mandat Gottes [lebt]. Tatsächlich verspricht diese idealisierte Nation Muslimen nicht nur Erlösung von Jahrhunder ten der Erniedrigung, sondern auch eine politische Utopie für die Sunniten des 21. Jahrhunderts: ein mächtiges philosophisches Konstrukt, das Gelehrte über Jahrhunderte zu schaffen versuchten und dabei stets scheiterten. Dies ist die politische Kraft, die der Westen bis in den Sommer 2014 hinein ignorierte“(S. 89). Es ist höchste Zeit, dieses Versäumnis nachzuholen und, hoffentlich, die richtigen Konsequenzen daraus zu ziehen. Dieses Buch leistet dazu einen entscheidenden Beitrag.
IS: Politische Utopie
„Bomben sind ein Terror-zuchtprogramm. Sie wirken so, als würde man mit einem Stock auf einen auf einen Bienenschwarm einschlagen, wenn man von einer gestochen wurde.“(Jürgen Todenhöfer in 14 )
Der politische Islam
In der aktuellen, vielfach verkürzten und oberflächlichen Diskussion um die Bedeutung des Islam und seine politischen Ziele im Nahen Osten werden so gut wie ausschließlich Meinungen in Form von Kommentaren und Analysen verhandelt. Selten jedoch werden programmatische Schriften und Reden von Vordenkern des politischen Islams im Original wiedergegeben und kritisch reflektiert. Imad Mustapha, 1980 in Deutschland geboren, leistet als Politologe und freischaffender Publizist mit dem hier vorgelegten Buch einen wertvollen Beitrag, diesem Defizit entgegenzuwirken. Anhand von Originaltexten von führenden Vertretern muslimischer Reformbewe gungen zeigt er die Entwicklung von Ideen und politischen Utopien seit Beginn des 19. Jahrhunderts ebenso auf wie die Entstehungsgrundlagen eines religiös-ideologischen Selbstverständnisses islamischer Bewegungen und Parteien. Anhand ausgewählter Texte werden Grundzüge der islamischen Politik zwischen Staatlichkeit und nationalem Widerstand ausgeleuchtet und sozialökonomische Positionen wie das „Zakat“als „freiwillig-obligatorischer Modus sozialer Wohlfahrt“oder auch die Grundzüge einer islamischen Wirtschaft mit dem Postulat menschlicher Würde als höchstem Ziel erläutert. Ein wichtiger Beitrag zum Verständnis einer fremden Kultur und zur Verständigung jenseits politischer Manipulation. Politischer Islam Feindbild Islam Einen dezidiert kritischen Blick auf die Islam-rezeption des Westens wirft Werner Ruf [Jg. 1937], von 1982-2003 Inhaber eines Lehrstuhls an der Universität Kassel mit den Schwerpunkten internationale und intergesellschaftliche Beziehungen. Ruf sieht den vom Westen inszenierten „Krieg gegen den Terror“als „gegenzivilisatorisches Projekt“(vgl. S. 22ff.), betont die grundsätzlich respektvolle Haltung des Islam gegenüber Juden- und Christentum und arbeitet zugleich überzeugend die Grundzüge des radikalen Fundamentalismus heraus, der auf die Wiederherstellung des ursprünglich von Mohammed erlassenen Gesetzes zum Ziel hat. Ausführlich – und darin liegt einer der wesentlichen, vielfach nicht reflektierten Aspekte der aktuellen Entwicklung – kommt Ruf auf die strategische Bedeutung des Nahen und Mittleren Ostens als einzige Region mit noch nennenswerten Erdölressourcen zu sprechen und erläutert die damit verbundene Nato-strategie. Historisch argumentierend, hält Ruf die These der jüdisch-christlichen Tradition des Abendlandes für zumindest fragwürdig und sieht die Judenverfolgung des europäischen Mittelalters und die nun aufbrechende Stimmung gegen den Islam als „zwei Seiten einer Medaille“(vgl. S. 74ff.). Ein eigenes Kapitel widmet Werner Ruf der „Islamhetze“und ihren Akteuren (wobei das Spektrum von Ralph Giordano, Thilo Sarrazin und Henryk M. Broder über den an dieser Stelle schon erwähnten Hamad Abdel-samad bis hin zu den eher links orientierten „Antideutschen“reicht). Dass im Zeichen des neuen Antiislamismus die europäische Rechte die Freundschaft zu Israel entdeckt und im Kampf gegen die Islamisierung die Prinzipien der Rechtsstaatlichkeit und der Toleranz untergraben werden, sind weitere, ernstzunehmende Argumente, die eine breite Öffentlichkeit und (selbst)kritische Überprüfung verdienen.
Zur Rolle des Erdöls als Motiv für das Engagement des Wesens im Nahen Osten und zum Zusammenhang mit 9/11 s. auch Daniele Ganser auf You Tube zu seinem Buch „Europa im Erdölrausch“. Islam: Feindbild Möglichkeiten, die Angst zu überwinden Wir leben - so die einleitende Feststellung der renommierten Us-amerikanischen Philosophin und Rechtswissenschaftlerin Martha Nussbaum - in einer „Zeit der Angst und Verdächtigungen“. Und: Wir täten gut daran, „angesichts unserer eigenen Bilanz als vermeintlich tolerante und respektvolle Kultur bescheiden zu werden. (…) Unsere Situation schreit geradezu nach kritischer Selbst-reflexion, sofern wir die Wurzeln der schlimmen Ängste und Verdächtigungen freilegen wollen, die gegenwärtig alle westlichen Gesellschaften entstellen“(S. 13). Im Geiste Sokrates‘ wäre eine ethische Herangehensweise anzuraten, die in Anbetracht der grassierenden religiösen Intoleranz dreierlei erfordert: 1.) „Politische Grundsätze des gleichen Respekts vor allen Bürgern und ein Verständnis dessen, was diese Grundsätze für die heutige Konfrontation mit religiösen Unterschieden bedeuten (…) 2.) Rigorose Kritik, die Unverein barkeiten aufspürt und kritisiert, gerade auch jene, die Ausnahmen für einen selbst zulassen und den Stachel im Auge des anderen bemerken, ohne den Balken im eigenen Auge zu erkennen; 3.) Eine systematische Ausbildung des „inneren Auges“, der Vorstellungskraft, die uns erkennen lässt, wie die Welt vom Standpunkt anderer Religionen oder Ethnien aussieht.“(ebd.)
Indem die Autorin das narzistische Gefühl der
Angst als Grundlage der (religiösen) Intoleranz offenlegt und deren (biologische und kulturelle) Ursachen seziert, gelingt es ihr, politische Konsequenzen (Minarettverbot, Breivik-attentat u. a. m.) neu zu sehen und zu bewerten. Damit wird der Weg frei, Möglichkeiten eines respektvollen Miteinanders auszuloten, der für Nussbaum in dem Grundprinzip des „gleichen Respekts für das Gewissen“liegt. Demnach haben alle Menschen gleiche Würde. Wie oft es geschieht, andere für etwas zu kritisieren, was man selbst keinesfalls besser macht, zeigt Martha Nussbaum exemplarisch an der Diskussion über das Burka-verbot: keines der vorgebrachten Argumente – fehlende Sicherheit, Diskriminierung, Nötigung oder Gesundheitsgefährdung – hält ihrem Einwand stand. Mit einem Plädoyer für Respekt und die Einübung von „mitfühlender Phantasie“, der Erörterung des Diskurses rund um „Park 51“(die Errichtung einer muslimischen Erinnerungsstätte für die Opfer von 9/11) wendet sich Nussbaum zuletzt der Frage zu, was in Anbetracht einer in der Tat gefährlichen Zeit, in der wir leben zu tun oder, besser wohl, einzuüben sei: die Fähigkeit zu kritischer Prüfung und zu Selbstkritik in einem Geist der Neugier und der Freundschaft. Ein großartiges Buch! Religiöse Toleranz
Wie funktionieren Dialoge?
In dem abschließend vorgestellten Band wird der Frage nachgegangen, wie Dialoge als Voraussetzung der Verständigung zwischen Kulturen, wissenschaftlichen Disziplinen und auch Religionen funktionieren. Anstatt auf die Entwicklung eines allgemein gültigen Modells abzuziehen, werden in diesem Band der Schriftenreihe „Wertewelten“anhand von nicht weniger als 20 Beiträgen verschiedene Aspekte des „Dialogischen“thematisiert. So geht es etwa um den „Dialog über Recht“, „Verfassungsdialog und die theologische Verfassung“, die Bedeutung des Schweigens im Deutschjapanischen Vergleich, um Erfahrungen im Umgang mit Gewalt am Beispiel Südafrikas oder um den „Hallyu“, eine asiatische Praxis des Dialogs zwischen Interkulturalität und Transkulturalität. In einem Beitrag von Ulrike Kistner wird aber auch dem Zusammenhang von Gemeinschaft und Gewaltbereitschaft unter dem Aspekt der “Grenzen von Dialogizität” nachgespürt. Dialog
Literatur- und Quellennachweise
Abdel-samad, Hamed: Der islamische Faschismus. Eine Analyse. München: Droemer, 2014. 223 S., €18,- [D], 18,50 [A], sfr 19,40 ; ISBN 978-3-426-27627-3
Ganser, Daniele: Die Terroranschläge vom 11. September 2001 und die Folgen. Vortrag, gehalten am 7. Sept. 2012 in Thun / Schweiz. https://www.youtube.com/watch?v=vhqhf2fzho4 (abgerufen am 2.3.2015)
6 Kulturen des Dialogs. Hrsg. v. Heinz-dieter Assmann … Baden-baden: Nomos, 2010. 214 S., €24,- [D], 24,70 [A], sfr 25,80
ISBN 978-3-8329-6219-7
7 Napoleoni, Loretta: Die Rückkehr des
Kalifats. Der Islamische Staat und die Neuordnung des Nahen Ostens. Zürich: Rotpunktverlag, 2015.
158 S., €18,90 [D], 19,50 [A], sfr 20,30
ISBN 978-3-85869-640-3
8 Nussbaum, Martha: Die neue religiöse Intoleranz. Ein Ausweg aus der Politik der Angst. Darmstadt: Wissenschaftl. Buch-ges., 2014.
220 S., €39,95 [D], 41,15 [A], sfr 42,90
ISBN 978-3-534-26460-5
9 Mustafa, Imad: Der politische Islam.
Zwischen Muslimbrüdern, Hamas und Hizbollah.
Wien: Promedia-verl., 2014 (2. Aufl.). 230 S.,
€17,90 [D], 25,10 [A], sfr 19,20
ISBN 978-3-85371-360-0
10 Ruf, Werner: Der Islam – Schrecken des Abendlands. Wie sich der Westen sein Feindbild konstruiert. Köln: Papyrossa-verl., 2014 (2. Aufl.). 141 S., €11,90 [D], 12,30 [A], sfr 12,80
ISBN 978-3-89438-484-5
11 Said, Behnam T.: Islamischer Staat: Is-miliz, al-qaida und die deutschen Brigaden. München:
C. H. Beck, 2014 [3.Aufl.]. 223 S. 14,95 [D],
15,40 [A], sfr 21,90
ISBN 978-3-406-67210-1
12 Sansal, Boualem: Allahs Narren. Wie der Islamismus die Welt erobert. Ein Essay zur Sache. Gifkendorf: Merlin-verl., 2014 [5. Aufl.]. 164 S.,
€14,95 [D], 15,40 [A], sfr 16,05
ISBN 978-3-87536-903-8
13 Seidensticker, Tilman: Islamismus. Geschichte, Vordenker, Organisationen. München: C. H. Beck, 2014 (2. Aufl.). 127 S.,
€8,95 [D], 9,20 [A], sfr 9,60
ISBN 978-3-406-66069-6
Todenhöfer, Jürgen: Die bisher nicht gestellten Fragen zum IS. RT Deutsch Interview mit Jürgen To denhöfer. www.youtube.com/watch?v=ubhhjjaf7me (abgerufen am 16.2.2015)
Weiters zu empfehlen:
Akyol, Cigdem: Generation Erdogan.
Die Türkei – ein zerrissenes Land im 21. Jahrhundert. Wien: Kremayr & Scheriau, 2015. 208 S.,
€22,- [D], 22,70 [A], sfr 23,60
ISBN 978-3-218-00969-0