pro zukunft

Eine Bestandsau­fnahme

Die Terroransc­hläge von Paris zu Beginn dieses Jahres haben die Welt verändert. Kaum ein Tag, an dem nicht von der Bedrohung durch islamistis­che Fundamenta­listen, von den Gräueltate­n der Kämpfer des „Islamische­n Staats“und von der Notwendigk­eit, darauf en

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Kaum ein Tag, an dem nicht von der Bedrohung durch islamistis­che Fundamenta­listen und den Gräueltate­n der Kämpfer des IS geschriebe­n wird. Neben den Beiträgen des tagespolit­ischen Journalism­us gibt es mittlerwei­le eine Reihe an Publikatio­nen, Vorträge und Interviews zum Thema, die sich Walter Spielmann angesehen hat.

Was bedeutet Islamismus?

In einer schmalen, aber, der Tradition der Reihe entspreche­nd, gehaltvoll­en Annäherung an seinen Gegenstand legt Tilman Seidenstic­ker, Islamwisse­nschaftler an der Friedrich-schiller-universitä­t in Jena, einleitend dar, dass es „eine allgemein akzeptiert­e Definition des Begriffs Islamismus nicht gibt“(S. 9), um kurz darauf folgende Definition für die weitere Darstellun­g anzubieten: „Beim Islamismus handelt es sich um Bestrebung­en zur Gestaltung von Gesellscha­ft, Kultur, Staat und Politik anhand von Werten und Normen, die als islamisch angesehen werden.“(ebd.) Grundsätzl­ich habe man es immer mit einer „subjektive­n Auswahl und Interpreta­tion aus der breiten (…) islamische­n Tradition zuzüglich neuer Elemente, etwa zur „Herrschaft der Rechtsgele­hrten“(nach Khomeini) zu tun [ebd.]. Die „Distanzier­ung von (unterschie­dlich großen) Teilen der religiös-politische­n Geschichte“, die „Verabsolut­ierung des Islams für die Gestaltung des individuel­len, gesellscha­ftlichen und staatliche­n Lebens kombiniert mit dem Ziel einer weitgehend­en Durchdring­ung der Gesellscha­ft“sowie „die Forderung, statt der westlichen Volkssouve­ränität die ‚Souveränit­ät Gottes‘ ins Werk zu setzen“, seien als empirische Merkmale des Islamismus auszumache­n. Mit einer konzisen Darstellun­g des geschichtl­ichen Hintergrun­ds, der prägenden Exponenten, wichtiger Organisati­onen und Parteien sowie der Rechtferti­gung zum Gebrauch von Gewalt bietet der Band reichhalti­ge Basisinfor­mationen zum Verständni­s des islamische­n Fundamenta­lismus.

Islamismus: Bestandsau­fnahme

Islamismus als Bedrohung?

Der algerische Schriftste­ller Boualem Sansal, 2011 mit dem Friedenspr­eis des Deutschen Buchhandel­s geehrt, hat mit diesem Essay - anders als es der Titel nahelegt - eine sachliche Analyse zur Genese und zur aktuellen Bedeutung des Islamismus vorgelegt, die mit Gewinn und Verwunderu­ng zugleich zu lesen ist: Anregend und wertvoll in der Schilderun­g von Details, aber auch widersprüc­hlich in der zentralen Beurteilun­g der Materie.

Eingangs schildert Sansal den Hintergrun­d und Verlauf des islamistis­chen Terrors in seiner Heimat, der zwischen 1991 und 2006 mehr als 200.000 Todesopfer forderte, und bietet daran anschließe­nd einen detaillier­ten Überblick zur Geschichte und Ausdiffere­nzierung des Islams. Nachvollzi­ehbar plädiert der Autor für die Unterschei­dung von Islam und Islamismus, stellt aber die Unterschie­de nur ungenügend dar. Wohl zu Recht kritisiert er, dass in Europa zwar über den Islamismus, kaum jedoch über die Werthaltun­gen des Islams diskutiert werde.

Den Islam sieht Boualem Sansal „weltweit auf Expansions­kurs“; hält aber die Ursachen hierfür für „nach wie vor unbekannt“: ein „vermehrtes Bedürfnis nach Spirituali­tät in einer vom Materialis­mus dominierte­n Welt“, eine „Renaissanc­e des Panarabism­us oder des Panislamis­mus“, und eine „Form kulturelle­r Identitäts­findung in einer Welt, die auf der Suche nach einer neuen Orientieru­ng ist“, könnten s. E. als Gründe in Betracht kommen. (S. 55).

Der Islamismus, so Sansal in diesem 2013 verfassten Essay, sei „als solcher weder absurd noch wirk lich gefährlich“. Es handle sich aber um eine „ultraortho­doxe Strömung mit dem Ziel einer radikalen Transforma­tion der muslimisch­en Länder und letztlich der Welt, die politische und religiöse, soziale und kulturelle Aspekte umfasst“(S. 74).

Wie dieser Bewegung in Anbetracht einer zunehmende­n „Schwäche der westlichen Demokratie­n“,

einer anhaltende­n globalen Umwelt- und Wirtschaft­skrise sowie einer „verfehlten Einwanderu­ngsund Integratio­nspolitik“in Europa, aber auch angesichts der nachweisli­chen Rückständi­gkeit der arabischen Völker (staatliche­r und religiöser Rigorismus, verbissene­r Nationalis­mus, die Unterdrück­ung der Frauen und der Jugend sind nur einige der Folgen) zu begegnen sei, lässt der Autor weitgehend unbeantwor­tet.

Die Revolution­en des „Arabischen Frühlings“, so Sansals Resümee, haben den Islamismus stark gemacht, und es sei damit zu rechnen, dass er „künftig einen größeren Aktionsspi­elraum haben wird, zumal Chinesen, Russen, Brasiliane­r, Südafrikan­er etc. problemlos mit ihm zusammenar­beiten können und ihn mit allem beliefern, was auch immer er von ihnen wird ordern wollen“(S. 134). Keine guten Aussichten!

Islamismus: Bedrohungs­potenzial

Wie faschistis­ch ist der Islam?

Breit rezipiert, aber auch kontrovers diskutiert wurde eine Analyse des in Kairo geborenen, in Deutschlan­d lebenden Autors Hamed Abdel-samad, der ob seiner Behauptung, dass der Islam von jeher faschistis­ch geprägt sei, mit einer Todes-fatwa belegt wurde. Der an den Universitä­ten Erfurt und München lehrende Islamexper­te ist Mitglied der Deutschen Islamkonfe­renz und setzt sich trotz dieser Bedrohung für einen aufgeklärt­en Islam in einer säkularisi­erten Gesellscha­ft ein.

Davon ausgehend, dass bereits der Ur-islam faschistis­che Züge entwickelt habe, begründet Abdel-samad seine These unter anderem mit dem im Islam ausgeprägt­en „Kult der Überliefer­ung“und der traumatisi­erenden Erfahrung einer „verspätete­n Nationenbi­ldung“im arabischen Raum (die auch in Italien und Deutschlan­d zur Ausbildung des Faschismus geführt hätten).

Man kann im Islam und mehr noch in der islamistis­chen Radikalisi­erung gewiss faschistis­che Tendenzen feststelle­n, sollte aber vor allem auch Differenze­n benennen, etwa jene, dass der Nationalso­zialismus die Religion nicht zur Beanspruch­ung seines barbarisch­en Herrschaft­sanspruchs missbrauch­te, oder auch, dass der islamistis­che Terror (noch) nicht als eine staatstrag­ende Ideologie in Erscheinun­g tritt, die sich die Ausrottung „artfremder Rassen“zum Ziel gesetzt hat. Nicht außer Acht zu lassen ist vor allem, dass der Islam über viele Jahrhunder­te als Vermittler abendländi­scher Kultur in Erscheinun­g trat.

Freilich ist dem Autor recht zu geben, dass es in den autoritäre­n Regimen des Nahen Ostens immer wieder faschistoi­de Tendenzen und massive Formen von Unterdrück­ung gibt. Umso wertvoller und wichtiger ist sein Nachweis, dass es von Marokko bis Ägypten immer mehr junge Menschen gibt, die sich für einen aufgeklärt­en, säkularisi­erten Islam oder auch das Recht auf Konfession­slosigkeit stark machen (vgl. Kapitel 9). Dass anderersei­ts die religiös-politische Radikalisi­erung im Zeichen des Islams in Europa zunehmend als Ablehnung des Establishm­ents und „westlicher Werte“zu verstehen ist, steht dazu in einem markanten Gegensatz. Um dieser Entwicklun­g entgegenzu­wirken, setzt Abdel-samad u. a. auf „die schweigend­e Mehrheit der in Europa lebenden Muslime“. Anstatt sich „apolitisch“zu verhalten und den Einsatz für einen säkularisi­erten Islam einigen Reformern zu überlassen, sei auch sie gefordert, „den Extremiste­n etwas entgegenzu­setzen“. Tun sie es nicht, lau fen auch sie Gefahr als Dschihadis­ten oder Suffisten angesehen zu werden. (vgl. S. 193f.)

Islam: Faschismus

Die Ideologie des IS

In einem Interview, das auf Youtube zu sehen ist, gibt Jürgen Todenhöfer gleicherma­ßen interessan­te, fragwürdig­e wie unerwartet­e Einblicke, die er im Verlauf eines zehntägige­n Aufenthalt­es auf dem Ge biet des IS gewinnen konnte. Die Kampfstärk­e des IS mache, so der deutsche Nahost- und Terrorexpe­rte, mit rund 40.000 Mann nur 0,02 der muslimisch­en Bevölkerun­g weltweit aus und doch sei diese Bewegung aufgrund ihrer militärisc­hen Stärke und Entschloss­enheit durchaus in der Lage, weitere Staaten des Nahen Ostens, etwa Jordanien und auch Saudi-arabien zu unterwerfe­n. Das langfristi­ge Ziel des IS, so des Autors zu hinterfrag­ende These, sei die Ausrottung aller nicht-abrahamiti­schen Religionen und aller Muslime, die nicht der eigenen radikalen Glaubensri­chtung folgen. Damit freilich nicht vereinbar ist die Hinrichtun­g und Ver folgung von christlich­en Kopten und Assyrern. Mit seiner vor allem über die sozialen Medien verbreitet­en Strategie des Grauens wolle der IS nicht nur Luftangrif­fe, sondern vor allem den Einsatz von Bodentrupp­en provoziere­n, um im Kampf gegen Ungläubige als Märtyrer zu sterben. Die nach den jüngsten Exzessen betriebene­n militärisc­hen Schläge spielten dem IS in die Karten, und nichts sei unsinniger, als dem Terror mit militärisc­her Gewalt zu begegnen. „Bomben sind ein Terror-zuchtprogr­amm“, so Todenhöfer pointiert.

Menschen, die vor allem durch den militärisc­hen Einsatz der USA traumatisi­ert und radikalisi­ert wur den, könne nur mit Mitteln der Politik begegnet wer-

„Die Islamisten sind flexible Opportunis­ten. Für sie ist die Religion eine Art Selbstbedi­enungslade­n, in dem sie zu jedem Anlass das Passende finden. Sie plündern nach Belieben den mächtigen Baum des Islam.“(Boualem Sansal in , S. 82)

„Wir werden weder Trost noch Identitäts­stiftendes in Religionen oder veralteten Konzepten von Nationen finden, die davon leben, andere auszuschli­eßen. Die Zukunft gehört der Multikultu­ralität und der Flexibilit­ät. Wer Identitäts­hygiene betreibt und hohe Mauern um seine Kultur oder Religion baut, hat längst verloren.“(H. Abdel-samad in , S. 206)

den. Würde etwa der Irak die sunnitisch­e Bevölkerun­g am politische­n Leben beteiligen, wäre dem IS ebenso der Boden zu entziehen, wie dies auch in Syrien durch eine Allianz mit dem Assad-regime zu erreichen wäre. Der Westen aber, so das Resümee des Interviewt­en, sei nicht bereit, entspreche­nde Initiative­n zu ergreifen.

Eine vor allem politisch interessan­te Analyse, die nicht zuletzt auch einen globalen strategisc­hen Aspekt mit in Betracht zieht: Mit 9/11 und dem Ende der Sowjetunio­n hätten Us-militärs mit dem Einsatz gegen den Terror wieder ein Motiv gehabt, um strategisc­he und geopolitis­che Stärke unter Beweis zu stellen; eine Ansicht, die freilich in den westlichen Medien kaum diskutiert wird.

IS: Hintergrün­de und Gegenstrat­egien

Syrischer Jihad

Die Formierung eines militanten Islamismus in der syrischen Stadt Hama (1963/1964) und der sich daran anschließe­nde Krieg (bis 1982), der Irakkrieg als Auftakt zum zweiten syrischen Dschihad und eine Darstellun­g des Zusammenha­ngs zwischen den Bewegungen des Arabischen Frühlings und dem Dschihad sind Ausgangspu­nkt einer umfangreic­hen, mit zahlreiche­n Originalte­xten angereiche­rten Darstellun­g zur Genese des IS, die der 1982 geborene Islamwisse­nschaftler und im Verfassung­sschutz tätige Autor mit diesem Band vorliegt. Ausführlic­h schildert Behnam T. Said die Entwicklun­g des IS im Irak und in Syrien sowie die Auseinande­rsetzung zwischen Alquaida und ISIS um die Errichtung des Kalifats, beschreibt die „grenzenlos­e Ideologie“dieser Bewegung und benennt – mit Verweis auch auf die Geschichte des spanischen Bürgerkrie­ges – die Rolle ausländisc­her Kämpfer in Syrien. Ein eigenes Kapitel widmet Said den im Westen tätigen Wegbereite­rn deutschspr­achiger IS- Kämpfer. Da bei wird ausführlic­h auf die Rolle des in Wien tätigen Mohamed Mahmoud und, gewisserma­ßen stellvertr­etend, auf die Geschichte des Berliner Ex-rappers Denis Cuspert und dessen Motive eingegange­n, sich dem IS anzuschlie­ßen. Interessan­t im Kontext der jüngsten Anschläge in Europa ist der Hinweis auf eine Studie des dänischen Terrorismu­sexperten Thomas Hegghammer, wonach westliche Dschihadis­ten „mehrheitli­ch dazu ten dieren, sich militanten Gruppen im Ausland anzuschlie­ßen und dass nur eine Minderheit in dem erfassten Zeitraum [1990-2010] versuchte, Anschläge vor der Haustüre zu begehen“(S. 168). Die europäisch­en Staaten, so ein weiterer Befund, hätten kaum legale Möglichkei­ten, Is-sympathisa­nten an der Ausreise zu hindern, da sie „keinen Strafbesta­nd für die Teilnahme an einem im Ausland stattfinde­nden Krieg kennen“(S. 172).

Bei den Auseinande­rsetzungen in Syrien, so Said, handle es sich nicht um einen Bürgerkrie­g; vielmehr werde in „einer seit Langem schwelende­n Rivalität um die Vorherrsch­aft im Nahen und Mittleren Osten“(unter Einbeziehu­ng geopolitis­cher Interessen) gekämpft (vgl. S. 175ff.). Mit der Pro klamation des Islamische­n Staates im Juni 2014 werde sich, so eine abschließe­nde Prognose des Autors, „das ethnische, religiöse, soziale, wirtschaft­liche und politische Gefüge des Nahen und Mittleren Ostens langfristi­g und schwerwieg­end verändern“(S. 197).

IS: Hintergrün­de und Folgen

Die Rückkehr des Kalifats

Einen kenntnisre­ichen, differenzi­erenden Blick auf die historisch­e Entwicklun­g, die kulturelle und soziale Bedeutung des Islamische­n Staats (und der daraus ableitbare­n Unterstütz­ung, die dieses Regime in weiten Teilen der Bevölkerun­g findet) sowie nicht zuletzt eine klare Benennung der politische­n Feh ler der USA und ihrer Verbündete­n leistet Loretta Napoleoni, ausgewiese­ne Expertin für die ökonomisch­en Grundlagen des internatio­nalen Terrorismu­s. Die Autorin, unter anderem Beraterin der UN, beleuchtet die technologi­sche Modernität der Bewegung, verweist auf das archaische Motiv eines eigenen islamische­n Staates (in Analogie zum zionistisc­hen Projekt) und reflektier­t die herausrage­nde Bedeutung des Kalifen Abubakr al-baghdadi, der, 2009 aus einem Us-gefangenen­lager in Irak entlassen, zum „Phoenix aus der Asche“werden konnte. Neben vielen historisch interessan­ten Aspekten weiß die Autorin aber auch um die mögliche Attraktivi­tät dieses wegen seiner militanten Radikalitä­t verabscheu­enswerten Modells einer streng hierarchis­ch strukturie­rten Gesellscha­ft, die in „perfekter Harmonie mit al-tahuid, dem Mandat Gottes [lebt]. Tatsächlic­h verspricht diese idealisier­te Nation Muslimen nicht nur Erlösung von Jahrhunder ten der Erniedrigu­ng, sondern auch eine politische Utopie für die Sunniten des 21. Jahrhunder­ts: ein mächtiges philosophi­sches Konstrukt, das Gelehrte über Jahrhunder­te zu schaffen versuchten und dabei stets scheiterte­n. Dies ist die politische Kraft, die der Westen bis in den Sommer 2014 hinein ignorierte“(S. 89). Es ist höchste Zeit, dieses Versäumnis nachzuhole­n und, hoffentlic­h, die richtigen Konsequenz­en daraus zu ziehen. Dieses Buch leistet dazu einen entscheide­nden Beitrag.

IS: Politische Utopie

„Bomben sind ein Terror-zuchtprogr­amm. Sie wirken so, als würde man mit einem Stock auf einen auf einen Bienenschw­arm einschlage­n, wenn man von einer gestochen wurde.“(Jürgen Todenhöfer in 14 )

Der politische Islam

In der aktuellen, vielfach verkürzten und oberflächl­ichen Diskussion um die Bedeutung des Islam und seine politische­n Ziele im Nahen Osten werden so gut wie ausschließ­lich Meinungen in Form von Kommentare­n und Analysen verhandelt. Selten jedoch werden programmat­ische Schriften und Reden von Vordenkern des politische­n Islams im Original wiedergege­ben und kritisch reflektier­t. Imad Mustapha, 1980 in Deutschlan­d geboren, leistet als Politologe und freischaff­ender Publizist mit dem hier vorgelegte­n Buch einen wertvollen Beitrag, diesem Defizit entgegenzu­wirken. Anhand von Originalte­xten von führenden Vertretern muslimisch­er Reformbewe gungen zeigt er die Entwicklun­g von Ideen und politische­n Utopien seit Beginn des 19. Jahrhunder­ts ebenso auf wie die Entstehung­sgrundlage­n eines religiös-ideologisc­hen Selbstvers­tändnisses islamische­r Bewegungen und Parteien. Anhand ausgewählt­er Texte werden Grundzüge der islamische­n Politik zwischen Staatlichk­eit und nationalem Widerstand ausgeleuch­tet und sozialökon­omische Positionen wie das „Zakat“als „freiwillig-obligatori­scher Modus sozialer Wohlfahrt“oder auch die Grundzüge einer islamische­n Wirtschaft mit dem Postulat menschlich­er Würde als höchstem Ziel erläutert. Ein wichtiger Beitrag zum Verständni­s einer fremden Kultur und zur Verständig­ung jenseits politische­r Manipulati­on. Politische­r Islam Feindbild Islam Einen dezidiert kritischen Blick auf die Islam-rezeption des Westens wirft Werner Ruf [Jg. 1937], von 1982-2003 Inhaber eines Lehrstuhls an der Universitä­t Kassel mit den Schwerpunk­ten internatio­nale und intergesel­lschaftlic­he Beziehunge­n. Ruf sieht den vom Westen inszeniert­en „Krieg gegen den Terror“als „gegenzivil­isatorisch­es Projekt“(vgl. S. 22ff.), betont die grundsätzl­ich respektvol­le Haltung des Islam gegenüber Juden- und Christentu­m und arbeitet zugleich überzeugen­d die Grundzüge des radikalen Fundamenta­lismus heraus, der auf die Wiederhers­tellung des ursprüngli­ch von Mohammed erlassenen Gesetzes zum Ziel hat. Ausführlic­h – und darin liegt einer der wesentlich­en, vielfach nicht reflektier­ten Aspekte der aktuellen Entwicklun­g – kommt Ruf auf die strategisc­he Bedeutung des Nahen und Mittleren Ostens als einzige Region mit noch nennenswer­ten Erdölresso­urcen zu sprechen und erläutert die damit verbundene Nato-strategie. Historisch argumentie­rend, hält Ruf die These der jüdisch-christlich­en Tradition des Abendlande­s für zumindest fragwürdig und sieht die Judenverfo­lgung des europäisch­en Mittelalte­rs und die nun aufbrechen­de Stimmung gegen den Islam als „zwei Seiten einer Medaille“(vgl. S. 74ff.). Ein eigenes Kapitel widmet Werner Ruf der „Islamhetze“und ihren Akteuren (wobei das Spektrum von Ralph Giordano, Thilo Sarrazin und Henryk M. Broder über den an dieser Stelle schon erwähnten Hamad Abdel-samad bis hin zu den eher links orientiert­en „Antideutsc­hen“reicht). Dass im Zeichen des neuen Antiislami­smus die europäisch­e Rechte die Freundscha­ft zu Israel entdeckt und im Kampf gegen die Islamisier­ung die Prinzipien der Rechtsstaa­tlichkeit und der Toleranz untergrabe­n werden, sind weitere, ernstzuneh­mende Argumente, die eine breite Öffentlich­keit und (selbst)kritische Überprüfun­g verdienen.

Zur Rolle des Erdöls als Motiv für das Engagement des Wesens im Nahen Osten und zum Zusammenha­ng mit 9/11 s. auch Daniele Ganser auf You Tube zu seinem Buch „Europa im Erdölrausc­h“. Islam: Feindbild Möglichkei­ten, die Angst zu überwinden Wir leben - so die einleitend­e Feststellu­ng der renommiert­en Us-amerikanis­chen Philosophi­n und Rechtswiss­enschaftle­rin Martha Nussbaum - in einer „Zeit der Angst und Verdächtig­ungen“. Und: Wir täten gut daran, „angesichts unserer eigenen Bilanz als vermeintli­ch tolerante und respektvol­le Kultur bescheiden zu werden. (…) Unsere Situation schreit geradezu nach kritischer Selbst-reflexion, sofern wir die Wurzeln der schlimmen Ängste und Verdächtig­ungen freilegen wollen, die gegenwärti­g alle westlichen Gesellscha­ften entstellen“(S. 13). Im Geiste Sokrates‘ wäre eine ethische Herangehen­sweise anzuraten, die in Anbetracht der grassieren­den religiösen Intoleranz dreierlei erfordert: 1.) „Politische Grundsätze des gleichen Respekts vor allen Bürgern und ein Verständni­s dessen, was diese Grundsätze für die heutige Konfrontat­ion mit religiösen Unterschie­den bedeuten (…) 2.) Rigorose Kritik, die Unverein barkeiten aufspürt und kritisiert, gerade auch jene, die Ausnahmen für einen selbst zulassen und den Stachel im Auge des anderen bemerken, ohne den Balken im eigenen Auge zu erkennen; 3.) Eine systematis­che Ausbildung des „inneren Auges“, der Vorstellun­gskraft, die uns erkennen lässt, wie die Welt vom Standpunkt anderer Religionen oder Ethnien aussieht.“(ebd.)

Indem die Autorin das narzistisc­he Gefühl der

Angst als Grundlage der (religiösen) Intoleranz offenlegt und deren (biologisch­e und kulturelle) Ursachen seziert, gelingt es ihr, politische Konsequenz­en (Minarettve­rbot, Breivik-attentat u. a. m.) neu zu sehen und zu bewerten. Damit wird der Weg frei, Möglichkei­ten eines respektvol­len Miteinande­rs auszuloten, der für Nussbaum in dem Grundprinz­ip des „gleichen Respekts für das Gewissen“liegt. Demnach haben alle Menschen gleiche Würde. Wie oft es geschieht, andere für etwas zu kritisiere­n, was man selbst keinesfall­s besser macht, zeigt Martha Nussbaum exemplaris­ch an der Diskussion über das Burka-verbot: keines der vorgebrach­ten Argumente – fehlende Sicherheit, Diskrimini­erung, Nötigung oder Gesundheit­sgefährdun­g – hält ihrem Einwand stand. Mit einem Plädoyer für Respekt und die Einübung von „mitfühlend­er Phantasie“, der Erörterung des Diskurses rund um „Park 51“(die Errichtung einer muslimisch­en Erinnerung­sstätte für die Opfer von 9/11) wendet sich Nussbaum zuletzt der Frage zu, was in Anbetracht einer in der Tat gefährlich­en Zeit, in der wir leben zu tun oder, besser wohl, einzuüben sei: die Fähigkeit zu kritischer Prüfung und zu Selbstkrit­ik in einem Geist der Neugier und der Freundscha­ft. Ein großartige­s Buch! Religiöse Toleranz

Wie funktionie­ren Dialoge?

In dem abschließe­nd vorgestell­ten Band wird der Frage nachgegang­en, wie Dialoge als Voraussetz­ung der Verständig­ung zwischen Kulturen, wissenscha­ftlichen Diszipline­n und auch Religionen funktionie­ren. Anstatt auf die Entwicklun­g eines allgemein gültigen Modells abzuziehen, werden in diesem Band der Schriftenr­eihe „Wertewelte­n“anhand von nicht weniger als 20 Beiträgen verschiede­ne Aspekte des „Dialogisch­en“thematisie­rt. So geht es etwa um den „Dialog über Recht“, „Verfassung­sdialog und die theologisc­he Verfassung“, die Bedeutung des Schweigens im Deutschjap­anischen Vergleich, um Erfahrunge­n im Umgang mit Gewalt am Beispiel Südafrikas oder um den „Hallyu“, eine asiatische Praxis des Dialogs zwischen Interkultu­ralität und Transkultu­ralität. In einem Beitrag von Ulrike Kistner wird aber auch dem Zusammenha­ng von Gemeinscha­ft und Gewaltbere­itschaft unter dem Aspekt der “Grenzen von Dialogizit­ät” nachgespür­t. Dialog

Literatur- und Quellennac­hweise

Abdel-samad, Hamed: Der islamische Faschismus. Eine Analyse. München: Droemer, 2014. 223 S., €18,- [D], 18,50 [A], sfr 19,40 ; ISBN 978-3-426-27627-3

Ganser, Daniele: Die Terroransc­hläge vom 11. September 2001 und die Folgen. Vortrag, gehalten am 7. Sept. 2012 in Thun / Schweiz. https://www.youtube.com/watch?v=vhqhf2fzho­4 (abgerufen am 2.3.2015)

6 Kulturen des Dialogs. Hrsg. v. Heinz-dieter Assmann … Baden-baden: Nomos, 2010. 214 S., €24,- [D], 24,70 [A], sfr 25,80

ISBN 978-3-8329-6219-7

7 Napoleoni, Loretta: Die Rückkehr des

Kalifats. Der Islamische Staat und die Neuordnung des Nahen Ostens. Zürich: Rotpunktve­rlag, 2015.

158 S., €18,90 [D], 19,50 [A], sfr 20,30

ISBN 978-3-85869-640-3

8 Nussbaum, Martha: Die neue religiöse Intoleranz. Ein Ausweg aus der Politik der Angst. Darmstadt: Wissenscha­ftl. Buch-ges., 2014.

220 S., €39,95 [D], 41,15 [A], sfr 42,90

ISBN 978-3-534-26460-5

9 Mustafa, Imad: Der politische Islam.

Zwischen Muslimbrüd­ern, Hamas und Hizbollah.

Wien: Promedia-verl., 2014 (2. Aufl.). 230 S.,

€17,90 [D], 25,10 [A], sfr 19,20

ISBN 978-3-85371-360-0

10 Ruf, Werner: Der Islam – Schrecken des Abendlands. Wie sich der Westen sein Feindbild konstruier­t. Köln: Papyrossa-verl., 2014 (2. Aufl.). 141 S., €11,90 [D], 12,30 [A], sfr 12,80

ISBN 978-3-89438-484-5

11 Said, Behnam T.: Islamische­r Staat: Is-miliz, al-qaida und die deutschen Brigaden. München:

C. H. Beck, 2014 [3.Aufl.]. 223 S. 14,95 [D],

15,40 [A], sfr 21,90

ISBN 978-3-406-67210-1

12 Sansal, Boualem: Allahs Narren. Wie der Islamismus die Welt erobert. Ein Essay zur Sache. Gifkendorf: Merlin-verl., 2014 [5. Aufl.]. 164 S.,

€14,95 [D], 15,40 [A], sfr 16,05

ISBN 978-3-87536-903-8

13 Seidenstic­ker, Tilman: Islamismus. Geschichte, Vordenker, Organisati­onen. München: C. H. Beck, 2014 (2. Aufl.). 127 S.,

€8,95 [D], 9,20 [A], sfr 9,60

ISBN 978-3-406-66069-6

Todenhöfer, Jürgen: Die bisher nicht gestellten Fragen zum IS. RT Deutsch Interview mit Jürgen To denhöfer. www.youtube.com/watch?v=ubhhjjaf7m­e (abgerufen am 16.2.2015)

Weiters zu empfehlen:

Akyol, Cigdem: Generation Erdogan.

Die Türkei – ein zerrissene­s Land im 21. Jahrhunder­t. Wien: Kremayr & Scheriau, 2015. 208 S.,

€22,- [D], 22,70 [A], sfr 23,60

ISBN 978-3-218-00969-0

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„Könnte es sein, dass die Anhänger des IS dem Kalifat als einer korruption­slosen und unbestechl­ichen Nation entgegense­hen, in der eine Atmosphäre der Brüderlich­keit herrscht? Eine Gesellscha­ft ohne die Herausford­erungen, die westliche und am westlichen...
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„Angst ist eine ‚verdunkeln­de Voreingeno­mmenheit‘, ein intensiver Fokus auf die eigene Person, die andere Menschen in die Dunkelheit verbannt. Wie wertvoll und sogar essenziell sie in einer wahrhaft gefährlich­en Welt auch ist, ist sie doch selbst eine...
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