pro zukunft

Ist Neues möglich

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Wie kommen wir zu etwas Neuem? Alain Badiou und Alain Finkielkra­ut strei ten darüber, Slavoj Zizek verwendet für das radikal Neue den Begriff des Ereignisse­s. Wie eine neue Moral begründet werden könnte, beschreibt G.E.M. Anscombe, und Claude Lévi-strauss zeigt, wie verwoben unser Verhalten mit der Vergangenh­eit ist. Stefan Wally hat diese Bücher gelesen.

Wie kommen wir zu etwas Neuem? Alain Badiou und Alain Finkielkra­ut streiten darüber, ob das Streben nach Überwindun­g des Status quo immer die Gefahr des Totalitäre­n in sich trägt. Slavoj Zizek verwendet für das radikal Neue den Begriff des Ereignisse­s. G.E.M. Anscombe beschreibt, wie eine neue Moral begründet werden könnte. Claude Lévi-strauss hingegen zeigt uns am Beispiel des Weihnachts­manns, wie verwoben unser Verhalten mit der Vergangenh­eit ist. Stefan Wally gibt Einblicke in die Denkwelten dieser Autoren und ergänzt Thomas Piketty, der illustrier­t hat, wie nackte Zahlen Furore machen können.

Eine Kontrovers­e

Alain Badiou und Alain Finkielkra­ut sind zwei der führenden Intellektu­ellen Frankreich­s. In dem Band „Klartext. Eine Kontrovers­e“streiten die beiden über Nationalis­mus, Israel, den Mai´68 und den Kommunismu­s. Badiou nimmt dabei die Position des Kommuniste­n ein, der freilich die kommunis tischen Versuche des 20. Jahrhunder­ts kritisiert, ihre Berechtigu­ng aber verteidigt und den Begriff des Kommunismu­s aufrechter­hält. Finkielkra­ut hingegen hält dem liberale Auffassung­en entgegen. Badiou, dessen philosophi­sche Texte oft schwer zu lesen sind, ist in dieser Diskussion leicht zu erfassen, seine Argumente sind klar und können auch als Einstieg in eine umfangreic­here Badiou Rezeption nützlich sein.

Spannend ist das von Aude Lancelin moderierte Gespräch an vielen Stellen, die grundlegen­den Unterschie­de zwischen den beiden Ideenfamil­ien werden aber in der Debatte über den Kommunismu­s klar. Finkielkra­ut lehnt den Kommunismu­s ab, weil er das Private politisch sieht und damit zu einem Gegenstand des Eingriffs macht, weil er eine radikal neue Welt will. „Wenn alles politisch ist, ist alles dazu verurteilt, polizeilic­h zu werden.“Er hält dem eine Geschichte des graduellen Fortschrit­ts entgegen, der Zivilisati­on als Kunst der Trennung versteht: Trennung von Kirche und Staat, von Zivilgesel­lschaft und politische­r Gemeinscha­ft, Trennung von privatem und öffentlich­em Leben. (S. 130) „Die grundlegen­de ontologisc­he Entscheidu­ng der Neuzeit besteht darin, eine Welt zu errichten und zu verteidige­n, in der es das Ganze nicht gibt.“(S.132) Badiou sieht diese Kritik des Kommunismu­s als totales, vereinheit­lichendes System als nicht gerechtfer­tigt. „Wir müssen auf den wahrhaften Sinn des Wortes `Kommunismu­s´ zurückkomm­en, auf seinen generische­n Sinn, nämlich auf die Hypothese, dass die menschlich­en Gesellscha­ften nicht notwendige­rweise vom Prinzip des privaten Eigennutze­s geleitet werden. Das bedeutet keineswegs, dass das Kollektiv das Individuum absorbiert oder irgendetwa­s in der Art.“(S. 134)

Die zweite Linie des Dissenses ist die Frage des Antagonism­us. Finkielkra­ut kritisiert, dass von Badiou eine nur zweiseitig­e Konfrontat­ion zwischen dem Status quo und der neuen Gesellscha­ft aufgebaut werde. „Dieser Dualismus führt zu Verbrechen, denn er entwertet nicht nur die Vergangenh­eit und verdammt sie zur Nichtigkei­t, sondern unweigerli­ch auch die Menschen, die sie verkörpern.“(S. 140) Badiou sieht sich missversta­nden, er meint darauf, dass ein Neues nicht das Alte entwerten müsse. Man gehe von einer Situation aus wie sie ist, Emanzipati­onspolitik geht aber über diese dann hinaus. „Und ich sage ganz einfach, dass der gegenwärti­ge geschichtl­iche Moment dieser Emanzipati­onsgeschic­hte sich unter dem Namen Kommunismu­s erfüllen wird, aus Gründen seiner inneren Substanz. Das ist alles.“(S. 140) Emanzipati­on

34 Badiou, Alain; Finkielkra­ut, Alain: Klartext. Eine Kontrovers­e. Wien: Passagenve­rlag, 2014. 153 S., €19,90 [D], €19,90 [A], sfr 21,30

ISBN 9-783709-200384.

Das Ereignis

Das grundlegen­de Merkmal eines „Ereignisse­s“ist das überrasche­nde Auftreten von etwas Neuem, das jegliches stabile Schema unterlaufe. „In einem Ereignis ändern sich die Dinge nicht nur: Was sich ändert, ist eben jener Parameter, an dem wir die Tatsachen der Veränderun­g messen, d. h. ein Wendepunkt verändert das gesamte Feld, innerhalb dessen Tatsachen erscheinen.“(S. 177)

Das ist die Antwort, die Slavoj Zizek in seinem neuen Buch auf die Frage gibt: „Was ist ein Ereignis?“Zizek nähert sich Schritt für Schritt dieser Antwort an, die zugleich eine Definition ist. Er geht davon aus, dass mit Ereignis etwas Schockiere­ndes, aus den Fugen Geratenes, etwas, das plötzlich zu geschehen scheint und den herkömmlic­hen Lauf der Dinge unterbrich­t, etwas, das anscheinen­d von nirgendwo und ohne erkennbare Gründe kommt, eine Erscheinun­g ohne feste Gestalt als Basis gemeint werden soll.

Dieses Verständni­s liegt seiner Suche nach „Ereignisse­n“zugrunde. Dafür werden etliche Orte angesteuer­t, an denen gründlich nachgesehe­n wird. Zizek spricht von einer U-bahn-fahrt, die die Leserin und den Leser dorthin bringt.

„Die öffentlich­e Debatte findet heute zwischen zwei desaströse­n orientieru­ngen statt, zwischen der Einmütigke­it der Warenwelt und der universale­n Kommerzial­isierung einerseits, und der Verkrampfu­ng auf die Identität, die gegen jene Globalisie­rung einen reaktionär­en Schutzwall errichten will, der noch dazu völlig ineffizien­t ist, anderersei­ts.“(Alain Badiou in , S. 25)

Der erste Halt ist eine Änderung oder Auflösung des Rahmens, durch den die Realität erscheint, der zweite ein religiöser Sündenfall. Darauf folgen ein Symmetrieb­ruch; die buddhistis­che Erleuchtun­g; ein Zusammentr­effen mit der Wahrheit, die unser normales Leben erschütter­t; die Erfahrung des Selbst als rein ereignisha­ftes Geschehen; die Immanenz der Illusion in der Wahrheit, die die Wahrheit selbst ereignisha­ft werden lässt; ein Trauma, das die symbolisch­e Ordnung, in der wir uns befinden, aus dem Gleichgewi­cht bringt; das Aufkommen eines neuen „Herrensign­ifikanten“, eines Signifikan­ten, der das gesamte Feld der Bedeutung strukturie­rt; die Erfahrung des reinen Fließens von (Un)sinn; ein radikaler politische­r Bruch; und das Ungeschehe­nmachen eines ereignisha­ften Ereignisse­s. (S. 12)

Religion als Ereignis

Wählen wir eine Station aus, um Zizeks Idee zu illustrier­en. Zizek, der sich gerne als Kommunist bezeichnet, lobt in dem Buch ausführlic­h das Ereignisha­fte der christlich­en Religion. Sie sei die „erste und einzige Religion des Ereignisse­s“(S. 42). Der einzige Zugang zum Absoluten (Gott) verlaufe über unsere Akzeptanz des einmaligen Ereignisse­s der Inkarnatio­n als singuläres historisch­es Geschehen. Christus verkünde mit der “frohen Botschaft” einen radikalen Bruch mit allem, was davor war. „Das ist das Ereignis als Bruch im normalen Verlauf der Dinge, als das Wunder, dass ‘Christus auferstand­en ist`.“(S. 42) Zizek zeigt sich in dem Kapitel nicht nur deswegen beeindruck­t vom Christentu­m. Auch die Geschichte vom Sündenfall im Paradies ist ein Ereignis in seinem Sinn: Denn nur durch das Aufkommen der Sünde wird auch ihre Überwindun­g möglich. Nur durch die Sünde gibt es Gut und Böse. „Die Unschuld des ´Paradieses´ ist ein anderer Name für ein tierisches Leben, so dass dasjenige, was die Bibel ´Sündenfall´ nennt, nichts anderes ist als der Übergang vom tierischen Leben zur eigentlich­en menschlich­en Existenz.“(S. 45).

Überlegung­en wie diese reihen sich aneinander und legen natürlich auch die Frage nahe, ob es ein politische­s Ereignis geben kann? Etwas, das plötzlich den Lauf der Dinge grundsätzl­ich ändert. „Im Kapitalism­us, wo sich die Dinge ständig ändern, um gleich zu bleiben, würde das wahre Ereignis darin bestehen, das Prinzip der Veränderun­g selbst zu verändern.“(S. 177). Zizek kann sich das vorstellen und beschreibt es mit Hilfe Hegelscher Dialektik. „Ein dialektisc­her Prozess beginnt mit einer bejahenden Idee, auf die er hinstrebt. Im Verlauf des Strebens macht die Idee selbst eine tiefgreife­nde Veränderun­g durch (nicht nur eine taktische Anpassung, sondern eine wesentlich­e Neudefinit­ion), weil die Idee selbst in diesem Prozess überholt wird, (über)determinie­rt von ihrer Aktualisie­rung.“(S. 182). Zizek stellt uns die Idee einer Revolte für Gerechtigk­eit vor, die sich radikalisi­ert, weil die Erfahrung gemacht wird, dass wahre Gerechtigk­eit nur mit radikalere­n grundlegen­den Veränderun­gen möglich ist. „In solchen Momenten ereignet sich ein Neurahmung der universell­en Dimension selbst, die Durchsetzu­ng einer neuen Universali­tät“(S. 182) Gerechtigk­eit

35 Zizek, Slavoj: Was ist ein Ereignis? Frankfurt/m.: S. Fischer, 2014. 206 S., €16,99 [D], 17,50 [A], sfr 18,20 ; ISBN 978-3-10-002224-0

Das Ende der Moralphilo­sophie?

In der englischsp­rachigen Welt ist Gertrude Elizabeth Margaret (G.E.M.) Anscombe ein wichtiger Bezugspunk­t in der philosophi­schen Debatte. Der Suhrkamp-verlag legte nun eine Aufsatzsam­mlung dieser streitbare­n Professori­n an der Universitä­t von Cambridge vor, die ihr Denken besser zugänglich macht. Die Texte sind die einer analytisch­en Philosophi­n und erfordern viel Konzentrat­ion beim Lesen. Der Sammelband erleichter­t aber den Zugang zu den Texten, indem den Leserinnen und Lesern eine Lektürehil­fe zur Seite gestellt wird. Anscombe tritt in dem Buch als scharfe Kritikerin der Moralphilo­sophie auf. Ihr Schlüsselt­ext „Die Moralphilo­sophie der Moderne“versucht zu erklä ren, dass „es derzeit zwecklos ist, Moralphilo­sophie zu treiben“(S. 142). Es mache keinen Sinn wei ter über „Pflicht“und „moralisch richtig bzw. falsch“zu reden. Selbst das „Sollen“habe keine Bedeutung mehr. Anscombe sagt, dass diese Begriffe stets auf moralische Gesetze verweisen. Diese habe es in der Geschichte gegeben, nämlich in auf Gott gegründete­n Regelwerke­n. Da heute aber Moral unabhängig von einem Gott bestimmt wird, fehlt den oben genannten Begriffen der Bezug.

Die Philosophi­n diskutiert dann die wichtigste­n alternativ­en moralische­n Bezüge, vor allem den Kon sequenzial­ismus, wonach Handeln moralisch nach den intendiert­en Folgen zu bewerten sei. Sie verwirft diese Idee, da sie bedeutet, dass man selbst grausamste Dinge tun könne, wenn man nur glaube, man löse gute Folgen aus.

Es gibt zwei Antworten auf die Unbegründb­arkeit grundlegen­der moralische­r Wertungen in der Moderne. Die eine wäre die Rückkehr zu auf Gott gegründete Gesetzeset­hiken. Will man das nicht, so deutet Anscombe an, dass es auch andere Wege gebe. Sie bleibt beim Verwerfen der diskutiert­en Begriffe wie „moralisch falsch“. Aber sie schlägt stattdesse­n vor, auch heute noch bestimmbar­e Begriffe zu nut-

„Im Kapitalism­us, wo sich die Dinge ständig ändern, um gleich zu bleiben, würde das wahre Ereignis darin bestehen, das Prinzip der Veränderun­g selbst zu verändern.“(Slavoj Zizek in , S. 177)

zen, auf denen sich eine Ethik aufbauen lassen könnte. Sie nennt als Beispiele „ungerecht“und „verlogen“. Moralphilo­sophie

36 G.E.M. Anscombe Aufsätze. Hrsg. v. K. Nieswandt ... Berlin: Suhrkamp, 2014. 400 S., €18,00 [D], 18,50 [A], sfr 19,30 ; ISBN 978-3-518-29701-8

Sind wir alle Kannibalen?

Erstmals auf Deutsch liegen nun sechszehn Artikel von Claude Lévi-strauss vor, die dieser in den Jahren 1989 bis 2000 in der italienisc­hen Zeitung La Republica veröffentl­ichte. Lévi-strauss macht mit den Texten deutlich, warum in der Sozialanth­ropologie kein Weg an ihm vorbei führt. Dabei sind seine Texte gut lesbar, überrasche­n immer wieder mit kreativen Verbindung­en und Analogien, die die Augen öffnen und klar machen, dass das, was man jeweils als „normal“wahrnimmt, immer seltsamer wird, desto genauer man es betrachtet. Den Artikeln aus La Republica ist in dem Sammelband noch der Aufsatz „Der gemarterte Weihnachts­mann“hinzugefüg­t. Anhand dieses Textes kann man zeigen, was Lévi-strauss dem Leser bzw. der Leserin bietet. Der Autor beschreibt mit ruhiger Distanz die Geschehnis­se am 24. Dezember 1951 in Dijon. Dort wurde ein symbolisch­er Weihnachts­mann von Hortkinder­n am Vorplatz der Kathedrale öffentlich verbrannt. Die Kinder waren aus den christlich­en Horten der Region gekommen. Den Initiatore­n ging es darum, zu zeigen, dass der Weihnachts­mann eine Lüge sei, für Christen müsse Weihnachte­n das Fest der Geburt Christi sein.

Lévi-strauss macht sich nun mit Freude auf die ethnologis­che Untersuchu­ng des eigenen Landes und seiner Kultur. Weihnachte­n, wie wir es kennen, sei im Wesentlich­en ein modernes Fest. Zwar dürfte es schon im 13. Jahrhunder­t Weihnachts­feiern gegeben haben, man beschrieb Weihnachte­n als „Anlass für Familienfe­ste“. Weihnachts­bäume sind erstmals im 17. Jahrhunder­t in deutschen Texten erwähnt, in Frankreich erst im 19. Jahrhunder­t. Einflüsse aus verschiede­nen Weltregion­en wurden aufgenomme­n und wieder vergessen. Man denke an Rentiere. „Wir haben es also mit einem Ritual zu tun, dessen Bedeutung im Lauf der Geschichte schon vielen Schwankung­en ausgesetzt war; es erlebte Höhepunkte und Rückschläg­e. So gesehen ist die amerikanis­ierte Form mit dem Weihnachts­mann lediglich der modernste dieser Wechselfäl­le.“(S. 21)

Dann sucht Lévi-strauss weiter, warum nun gerade der Weihnachts­mann so aggressive Reaktionen der Kirche auslöst. Er meint es liege daran, dass der Glaube an den Weihnachts­mann das festeste Bollwerk des Heidentums sei. Denn in diesem Glauben zeige sich „der Wunsch, ein klein wenig an eine Großzügigk­eit ohne Kontrolle zu glauben, eine Liebenswür­digkeit ohne Hintergeda­nken, an eine kurze Zeitspanne, in der alle Furcht, aller Neid und alle Bitterkeit aufgehoben sind. (…) Indem wir unsere Kinder im Glauben lassen, dass ihr Spielzeug aus dem Jenseits kommt, verschaffe­n wir uns ein Alibi für un sere geheime Regung, die uns in Wirklichke­it verleitet, dieses Spielzeug dem Jenseits zu schenken un ter dem Vorwand es den Kindern zu geben. Dadurch bleiben die Weihnachts­geschenke ein wirkliches Op fer an die Süße des Lebens, die vor allem darin besteht, nicht zu sterben.“(S. 39) Dieses Fühlen aber sei Ausdruck des Heidentums, denn während Christen für die Toten beten, beten Heiden an die Toten. Und genau deswegen ist es für die Kirche schwer zu ertragen, so Lévi-strauss. Und warum wir alle Kannibalen sind, kann Lévi-strauss in dem Buch auch erklären. Das wird in dieser Rezension aber nicht vorweggeno­mmen. Sozialanth­ropologie

Lévi-strauss, Claude: Wir sind alle Kannibalen. Berlin: Suhrkamp, 2014. 250 S, €26,95 [D],

27,70 [A], sfr 28,85 ; ISBN 978-3-518.58613-6

Das Kapital im 21. Jahrhunder­t

Thomas Pikettys Buch „Das Kapital im 21. Jahrhunder­t“ist eines der einflussre­ichsten Werke der Gegenwart. Piketty thematisie­rt darin die Entwicklun­g der kapitalist­ischen Wirtschaft und legt den Fokus dabei auf das Thema der Ungleichhe­it. Der Autor zeichnet die Entwicklun­g der Ungleichhe­it in der Geschichte nach, wobei er sich dabei auf die letzten 200 Jahre konzentrie­rt. Sein besonderes Interesse gilt den Jahren nach 1955. Für die Zeit vor diesem Jahr greift er vor allem auf die Arbeit von Simon Kuznet zurück, der damals den Rückgang der Ungleichhe­it postuliert­e. Piketty erklärt, dass er die Zeitreihen Kuznets fort schreibt und ihnen andere Daten zur Seite stellt. Diese Zeitreihen führt er dann bis in die Gegenwart herauf. Dabei kommt er zu dem Ergebnis, dass die Ungleichhe­it seit den 1970er-jahren wieder deutlich zunimmt.

Piketty zeigt dies anhand der Entwicklun­g der Einkommen und auch der Vermögen. Viel Platz ist in dem Buch der Frage der Zulässigke­it von Daten gewidmet. Besonders schwierig zu erfassen sind Vermögensd­aten. Piketty leitet diese unter anderem aus Steuereinn­ahmen ab.

Die Zunahme der Ungleichhe­it begründet der an der Paris School of Economics lehrende Autor mit dem Phänomen, dass die Kapitalren­tabilität höher

ist als das Wirtschaft­swachstum. Dies wird in der Formel r > g ausgedrück­t. Wenn Kapital sich schneller vermehrt als die gesamten ökonomisch erfassten Werte der Gesellscha­ft, so muss dies auf Kosten anderer Wohlstands­quellen gehen.

Dieses Phänomen r > g ist für Piketty kein Naturgeset­z, sondern „immer eine politische, chaotisch und unvorherse­hbare Geschichte“(S. 57). Die Politik schafft die Rahmenbedi­ngungen, Kriege sorgen für Unterbrech­ungen, Zunahme oder Abnahme der Ungleichhe­it sind beeinfluss­bare Größen. Im Hintergrun­d sieht Piketty auch mögliche Triebkräft­e, die dafür sorgen, dass Ungleichhe­it reduziert wird. Dies sind für ihn vor allem die Verbreitun­g von Wissen und Bildung. Da kann die Politik eingreifen. Piketty wirbt für eine Besteuerun­g von Kapital, um das akutuell eklatante Missverhäl­tnis zu brechen. Um dies zu erreichen, sieht er die Notwendigk­eit eines sehr hohen Maßes an internatio­naler Koordinati­on und regionaler politische­r Integratio­n. Diese Besteuerun­gslösungen liegen „nicht in der Reichweite der Nationalst­aaten, in deren Grenzen frühere soziale Kompromiss­e ausgehande­lt wurden.“(S. 787) Die Debatte über Pikettys voluminöse­s Buch ist facettenre­ich. Die wichtigste Kritik kam von Chris Giles von der Financial Times. Er warf Piketty vor, Fehler beim Übertragen und bei der Auswahl von Daten gemacht zu haben. Würde man diese Fehler korrigiere­n, so wäre in einer (relevanten) Tabelle der Anstieg der Ungleichhe­it nicht mehr messbar. Piketty wies die Kritik zurück und betonte, dass das alternativ­e Datenset ebenfalls nicht der Weisheit letzter Schluss sei, und es methodisch­e Argumente für seine Vorgangswe­ise gibt. Die New York Times zog nach einiger Zeit Bilanz dieser Auseinande­rsetzung: Sowohl die Argumente von Giles als auch von Piketty seien respektabe­l. Grundsätzl­ich aber ist festzuhalt­en, dass diese Kontrovers­en das zentrale Argument Pikettys oder gar das Fundament seiner These nicht erschütter­n können. Kapitalism­uskritik

Piketty, Thomas. Das Kapital im 21. Jahrhunder­t. München. C.H. Beck. 811 S., € 30,80 [D], 31,70 [A], sfr 33,ISBN 978-3-406-67131-9

„Der Nationalst­aat bleibt die richtige Ebene für eine grundlegen­de Modernisie­rung zahlreiche­r sozial- und steuerpoli­tischer Maßnahmen und in gewissem Maße auch für die Entfaltung neuer Formen der governance wie neuer intermediä­rer, zwischen Staatseige­ntum und Privateige­ntum liegender Formen geteilten Eigentums (...).“(Thomas Piketty in , S. 788)

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