Die Deutschland-illusion
Ein Hort der Stabilität in einem krisengeschüttelten Europa, stolzer Exportweltmeister umgeben von schwachen Nachbarn, Garant für die Umsetzung der europäischen Austeritätspolitik, so lauten die oft vorgetragenen Lobeshymnen auf Deutschland. Das Land mit
Wie es aussieht, ist Deutschland weitgehend ohne Schrammen durch die Finanzkrise gekommen. Entsprechend laut tönen oft die Lobeshymnen auf das Land mit Kanzlerin Angela Merkel an der Spitze. Trügt der Eindruck? Alfred Auer hat sich einige kritische ökonomische und politische Einschätzungen angesehehen.
Dinge, die nichts kosten
Einen ganz anderen Zugang wählt die Volkswirtin Andrea Tichy in ihrem Buch mit dem provokanten Titel „Die besten Dinge kosten nichts“. Die Autorin verneint keineswegs die Notwendigkeit einer materiellen Basis, die in modernen Ökonomien in arbeitsteiliger Weise geschaffen wird. Doch Lebensqualität auf den Erwerb von Gütern und Besitz zu reduzieren, führe in die Irre, so Tichy, die dies an mittlerweile ja zahlreich verfügbaren Studien belegt. Sieben Dinge bzw. Verhaltensweisen führt Tichy aus, „die uns gesünder, glücklicher und gelassener machen“: „Sonne tanken“, „Zu Fuß gehen“, „Fasten“, „Lebendiges Wasser trinken“, „Wildpflanzen sammeln“, „Gemeinschaft leben“sowie – ja, Sie lesen richtig – „Pflegen statt Putzen“. Die Aufzählung mag für manchen wie die Ansammlung esoterischer Ratschläge klingen. Die Autorin geht die Sache jedoch mit viel Sachverstand, altem und neuem Wissen über Gesundheit und Vitalität, garniert mit zahlreichen Befunden aus einschlägigen Studien an. Sie vermittelt so Erkenntnisse über die gesunderhaltende Wirkung von Natur und Sonnenlicht, bewusster Ernährung sowie sozialer Kontakte. Dass selbst Aufräumen zur „Energiequelle“werden kann, argumentiert die Au torin wie folgt: Entrümpeln wirke befreiend, körperliche Arbeit helfe Kalorien abzubauen und selbst Schmutz zu beseitigen, biete ein Übungsfeld „für Geduld, Rhythmus, Achtsamkeit und Durchhaltekraft“(S. 5).
Das Buch stellt nicht den Anspruch, eine alternative Wirtschaftsweise zu entwickeln, es gibt aber wertvolle praktische Hinweise, wie jede(r) sich ein Stück weit dem Konsumzwang der gegenwärtigen Ökonomie entziehen und damit auf deren Veränderung zurückwirken kann. So versteht die Autorin ihr schön gestaltetes Buch als eine Art „Gegenmanifest zum überbordenden Konsum von Waren und Kommunikation“(S. 11), was ihr hervorragend gelungen ist. H. H. Lebensstil: Ökonomie
Tichy, Andrea: Die besten Dinge kosten nichts. Sieben wirksame Verhaltensweisen, die uns gesünder, glücklicher und gelassener machen. Frankfurt/m.: Quell Verl., 2014. 184 S., €17,90 [D],
18,20 [A], sfr 25,- ; ISBN 978-3-9815402-4-6
Alternativlos
Bundeskanzlerin Angela Merkel hat 2010 den Sparkurs und ein weiteres Hilfspaket für Griechenland als „alternativlos“bezeichnet und damit das „Unwort des Jahres“geprägt. Die auslobende Jury merkte damals kritisch an, dass damit „die Politikverdrossenheit in der Bevölkerung“verstärkt würde (vgl. S. 8). Daniel Dettling stellt in „The European online“(v. 4.11.2014 www.theeuropean.de/ danieldettling/9193-kurbjuweit-die-deutschen-und-dasende-der-politik) die Frage, ob nicht auch die Politiker „alternativlos“seien, „die perfekt zu einem Land passen und die Stimmung der Bürger am besten treffen? Waren, so betrachtet, nicht auch Konrad Adenauer, Willy Brand und Helmut Kohl alternativlos?“ Und ist nicht auch Frau Merkel für Deutschland in diesem Sinne „alternativlos“? Antworten darauf sucht Spiegel-redakteur Dirk Kurbjuweit in seiner aktuellen Analyse. Er will die Eigentümlichkeiten und auch die Traditionen beschreiben, in denen Angela Merkel steht oder mit denen sie bricht. Vehement kritisiert er die „Kraft der Unauffälligkeit“, ihre politische Kontrollkultur, ihren kühlen Nationalismus und ihre Strategie der Schonung. In diesem Zusammenhang interessiert auch, wie Deutschland in der Welt wahrgenommen wird und wie es um die deutsche Außenpolitik bestellt ist (exemplarisch dargestellt am Bundeswehr-einsatz in Afghanistan). Einen „Gipfel der Selbstschonung” – als Desaster der Diplomatie – nennt der Autor die Stimmenthaltung im UN-SI-
cherheitsrat bei der Abstimmung über einen Krieg gegen Gaddafi und die damit verbundene Isolierung im Kreis der Verbündeten. Charakteristisch ist für Kurbjuweit aber v. a. die Kontrolle der Sprache. Journalisten gehen „mit einer minimalen Hoffnung ins Kanzleramt, dass sie etwas Ungewöhnliches sagen oder wenigstens griffig formulieren wird. Alle wissen, dass sie höchstwahrscheinlich enttäuscht werden. So ist es dann auch.“(S. 77) Die Stufe des Entsetzens erreicht seinen Höhepunkt, wenn man merkt, dass das überarbeitete Interview noch öder wirkt als das Gespräch im Büro der Kanzlerin.
Kurbjuweit beschäftigt sich seit Jahren mit der Bundeskanzlerin und bereits vor fünf Jahren ist sein Buch „Angela Merkel. Die Kanzlerin für alle“erschienen. Er arbeitet sich aber nicht nur an Frau Merkel ab, sondern analysiert darüber hinaus auch die gegenwärtige deutsche Politik im Allgemeinen, die er als inhaltsleer und konformistisch bezeichnet. Und auch der oben bereits zitierte Daniel Dettling meint, dass die Deutschen die von Merkel ausgehende Langeweile zu lieben scheinen. Gerade eine große Koalition böte, so Dettling, die Chance schwierige Reformen anzugehen und umzusetzen. Davon sei aber nichts zu merken.
Angesprochen wird auch das Thema „Politische Partizipation“. Allerdings interessieren die großen Themen von einst wie Krieg und Frieden, Soziale Gerechtigkeit und Bürgerrechte (in Zeiten von NSA) sowie Umwelt und Natur nicht mehr sonderlich, so Kurbjuweit. „Es gibt keine Stimmung für eine Revolution, obwohl die Welt selten so ungerecht war wie in den vergangenen Jahren.“(S. 231) Im Gegensatz zu den Wutbürgern von heute wollten die Bewegungen gegen Nachrüstung und Atomkraft in den 80er-jahren nicht nur etwas verhindern, sondern auch „eine Gesellschaft des friedlichen Miteinanders, der umweltschonenden Lebensweise, der tiefgreifenden Gerechtigkeit und annähernden Gleichheit“(S. 248). Die Wutbürgerbewegung heute hält der Autor für ein Projekt der Selbstschonung und sieht sie im Einklang mit der „Schonungspolitik“Merkels. Sie sorgt bundesweit dafür, dass sich nicht allzu viel ändert. Die Wutbürger übernehmen lediglich auf lokaler Ebene die Partizipationserwartungen. Problematisch würden diese, so Kurjuweit, immer dann, wenn sich ein kleiner Teil des Volkes gegen die Entscheidung eines größeren Teils wehrt wie im Falle von „Stuttgart 21“(vgl. S. 274).
Abschließend legt der Autor in einem Zwölf-punkte-plan sein Konzept einer tragfähigen Politik dar. Die Stichworte dazu lauten: Einführung eines Mehrheitswahlrechts, längere Legislaturperioden, kürzere Kanzlerschaften, eine Konzentration der Wahlen, weniger Bundesländer, Bildungspolitik als Bundesaufgabe, Einführung einer Bürgerversiche rung, Stärkung des Plebiszits, Schaffung einer gemeinsamen Europäischen Finanz-, Wirtschafts- und Verteidigungspolitik. Frau Merkel sollte, so der leicht ironische Nachsatz, die nächste Präsidentin des Europäischen Rates werden. Spätestens dann wird es eine „Alternative“für die Kanzlerschaft in Deutschland brauchen. Politik: Deutschland
23 Kurbjuweit, Dirk: Alternativlos. Merkel, die Deutschen und das Ende der Politik. München: Hanser, 2014. 287 S., €19,90 [D], 20,50 [A], sfr 21,30
ISBN 978-3-446-24620-1 Die Deutschland-blase Das Modell Deutschland sei richtungsweisend für ganz Europa, heißt es immer wieder. Nun haben sich gleich zwei Autoren aufgemacht, diesen Nimbus mehr oder weniger ins Wanken zu bringen. Der erste ist Olaf Gersemann, Wirtschaftsjournalist der WELT, der davon ausgeht, dass das Aus für eine große Wirtschaftnation [so sinngemäß der Untertitel seines Buches] drohen könnte.
Im Folgenden erzählt uns der Autor, dass sowohl die Politik als auch die tragenden Institutionen im Land sowie weite Teile der Bevölkerung durch den wirtschaftlichen Aufschwung trotz der Finanzkrise blind geworden seien für die immer sichtbarer werdenden Schwächen des Systems. Gersemann beschäftigt sich in seiner Analyse weder mit Verteilungsfragen noch mit Gerechtigkeitslücken, sondern sorgt sich um das langfristige Wirtschaftswachstum, den Industriestandort, den freien Handel und den demografischen Wandel. Er plädiert u. a. für eine niedrigere Einkommensteuer, einen schlankeren Staat und weniger Kündigungsschutz. Nach seiner Ansicht wird sich sehr viel ändern müssen, damit manches so bleiben kann, wie es ist. Es könnte nämlich sein, dass dem älter und kleiner werdenden Deutschland die Kräfte nicht etwa nur allmählich ausgehen, sondern plötzlich (vgl. S. 260).
Zusammenfassend lautet sein Fazit, dass Deutschlands gegenwärtiges wirtschaftliches und ökonomisches Potenzial weit überschätzt wird. Deshalb wendet er den Begriff der (Spekulations-)blase auf die deutsche Volkswirtschaft insgesamt an. Seine überaus pessimistische Einschätzung begründet er mit zahlreichen Zahlen und Fakten. „Vier Millionen Vergessene“lautet die Überschrift zum Kapitel über die Beschäftigungsschwäche der deutschen Wirtschaft. Man müsse, so Gersemann, nicht drei, wie dies immer geschehe, sondern vier Millionen Arbeitslose zäh-
len, denn eine Million werde von der BFA (Bundesagentur für Arbeit) lediglich als unterbeschäftigt gezählt, und übersieht dabei, dass es 2005 noch knapp 5 Millionen Arbeitslose gab. Ein weiteres Thema ist die Wachstumsschwäche: Zwischen 1993 und 2013 gehörte Deutschland mit einer durchschnittlichen Wachstumsrate von 1,29% nach Angaben des IWF weltweit zu den 12 wachstumsschwächsten Ländern noch hinter Burundi und Tonga. Gersemann warnt insbesondere davor, sich mit einem schwachen Wachstum oder gar „Nullwachstum“abzufinden, denn eine „Kultur des Weniger“sei keineswegs zu empfehlen. Das würde unser Sozialsystem nicht verkraften und schon gar nicht jene 17 Millionen Menschen in Deutschland, die in einem Haushalt mit einem Nettoeinkommen von weniger als 1.500 Euro pro Monat, 5 Millionen davon mit weniger als 900 Euro, leben.
Zudem leide die deutsche Wirtschaft an einer fortschreitenden Investitionsschwäche. „Was hier durchscheint, ist ein kontrollierter Rückbau: Im Vorgriff auf die Vergreisung unserer Gesellschaft beginnen unsere Unternehmen, ihre Zelte abzubauen.“(S. 187) Zu allem Überdruss macht der Autor auch noch eine eklatante Strukturschwäche aus. Die hohen Exportüberschüsse seien ein Verstoß gegen das Gebot des außenwirtschaftlichen Gleichgewichts und Folge vor allem einer internen Abwertung durch übermäßige Lohnzurückhaltung, die zu Lasten der Binnennachfrage gehe. Insgesamt zeichnet Gersemann den Zustand und die Zukunft der deutschen Wirtschaft in düsteren Farben. Wer allerdings Therapievorschläge erwartet, wird enttäuscht, denn des Autors Absicht ist es ausschließlich, eine Diagnose zu erstellen (vgl. S. 265). Und er setzt, wie erwähnt, auf ein dringend benötigtes Wirtschaftswachstum nicht ohne Seitenhieb auf die Bestrebungen zur Um verteilung. Am Schluss des Buches ringt sich Gersemann zu zehn Vorschlägen durch, die seiner Ansicht nach sofort in Angriff genommen werden müssten: 1. Einführung eines Kinderwahlrechts 2. Tragfähigkeitsanalysen für alles 3. Investitionsgebot für den Staat 4. Energiesubventionen in Forschung umlenken 5. Weniger Berufe im dualen System (verwandte Ausbildungsberufe zusammenlegen, 300 Ausbildungsberufe reduzieren)
6. Freibeträge für lebenslanges Lernen
7. Weg mit dem NC (Numerus clausus)
8. Weniger Kündigungsschutz
9. Alle Akademiker rein. Allen Ausländer nach Studium eine unbegrenzte Arbeits- und Aufenthaltserlaubnis geben.
10. Niedrigere Einkommenssteuersätze
Diese 10-Punkte-therapie wirkt unkoordiniert und beiläufig; sie lädt ebenso zur Diskussion ein wie die Thesen des Autors. Politik: Deutschland
24 Gersemann, Olaf: Die Deutschland-blase. Das letzte Hurra einer großen Wirtschaftsnation. München: DVA, 2014. 319 S., €19,99 [D], 20,60 [A], sfr 21,40 ISBN 9783421046574
Die Deutschland-illusion
Auch der Präsident des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung und Politikberater (inzwischen Chefökonom der Bundesregierung) Marcel Fratzscher ist davon überzeugt, dass es Deutschland viel schlechter geht als alle denken. Ganz so düster wie Gersemann zeichnet er allerdings nicht. Nach seinem Befund ist Deutschlands Wirtschaft zweigeteilt: Einerseits ist das Land so gut wie kein anderes in Europa durch die Finanzund Schuldenkrise gekommen, andererseits seien Armut und Vermögensungleichheit gestiegen und die Chancengleichheit gesunken. Das deutsche Durchschnittsvermögen ist nicht nur niedrig, es ist auch ungleich verteilt. Deutschland hat die höchste Vermögensungleichheit im Euro-raum. Zudem hat Deutschland seit dem Jahr 2000 weniger Wachstum zu verzeichnen als andere europäische Staaten; zudem seien zwei von drei Arbeitnehmerinnen heute schlechter gestellt als vor 15 Jahren.
Die zentrale These des Buches lautet, dass Deutschland drei Illusionen unterliegt. Die erste ist die, dass die wirtschaftliche Zukunft gesichert sei. Die zweite liegt im Glauben, Deutschland brauche Europa nicht und seine wirtschaftliche Zukunft läge außerhalb des Kontinents. Die dritte ist die Vorstellung, Europa sei nur auf Deutschlands Geld aus. Europa braucht eine dynamische deutsche Wirtschaft, so Fratzscher weiter, denn „in der Stärke der deutschen Wirtschaft liegt der Schlüssel für Europas langfristigen wirtschaftlichen Erfolg“(S. 14f.). Als große Herausforderungen sieht der Ökonom zum einen die erfolgreiche Vollendung der Währungsunion, zum anderen eine tiefere wirtschaftliche Integration, und nicht zuletzt brauche Europa eine Neuordnung seiner Institutionen im Sinne der Subsidiarität.
Der Autor kritisiert eine kurzfristig wirkende Umverteilung wie die Mütterrente und die Rente mit 63 (Schätzungen zufolge wird das mehr als zehn Milliarden Euro jährlich kosten, vgl. S. 64f.) und fordert stattdessen ein „nachhaltiges Wachstum“(S. 220). Insgesamt wünscht er sich einen richtigen Mix aus Ausgabenund Steuerpolitik, „der die Anreize für private Akteure richtig setzt und gleichzeitig eine stabilisierende Wirkung für die Wirtschaft hat“(S. 68). Bei aller Kritik sollten wir nach Ansicht Fratzschers aber drei große und wichtige wirtschaftspolitische Erfolge Deutschlands anerkennen: den Abbau der Arbeitslosigkeit, die hohe Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Exportsektoren und die Konsolidierung der
öffentlichen Haushalte. Letztere stelle das Vertrauen der Finanzmärkte wieder her und sorge für öffentliche Investitionen. Die Zahlen liefert der Autor gleich mit, wenn er vorrechnet, dass die jährliche Investitionslücke allein in Deutschland 3 Prozent der Wirtschaftsleistung oder 80 Milliarden Euro beträgt (S. 82). Schließlich spart Fratzscher nicht mit Therapievorschlägen. Eine langfristige Chance sieht er in der Energiewende. Wir dürften „nicht ignorieren, dass die Klimapolitik und die Verringerung von Co2-emissionen ganz zentrale Ziele der Energiewende“(S. 97) sind. Insbesondere gelte es, den Anteil erneuerbarer Energien am Bruttoendenergieverbrauch bis 2050 auf 60 Prozent zu steigern, sowie bis 2050 80 Prozent durch regenerativer Stromerzeugung und die Absenkung des Primärenergieverbrauchs um 50 Prozent gegenüber 2008 zu erreichen. Der Investitionsbedarf in diesem Bereich ist also enorm und sollte nach Fratzscher hauptsächlich durch private Investitionen bewerkstelligt werden. In der anhaltenden Niedrigzinsphase, in der Anleger nach Rendite bringende Anlagen suchen, sieht er eine einmalige Chance.
Mit Blick auf Europa hält der Autor fest, Deutschland sei nicht Opfer, sondern Nutznießer der Ezbgeldpolitik und dementsprechend in der Verantwortung: „Deutschland kann und sollte als Konjunkturlokomotive helfen, die europäische Wirtschaft anzuschieben und aus der Krise zu führen.“(S. 221) U. a. schlägt Fratzscher eine europäische Investitionsagenda, eine Eurounion mit einem Eurovertrag als Basis für eine Fiskalunion sowie die Vollendung der Bankenunion vor. Die dringendste Herausforderung sei, die politische Krise Europas zu bewältigen und eine klare Vision für die Zukunft zu entwickeln. Man wird sehen, ob das gelingt. Erster Prüfstein ist Griechenland und die Verlängerung des Hilfsprogramms. Insgesamt merkt man den Aussagen an, dass sie leicht kompatibel und anschlussfähig sind. Schließlich würde ein Politikberater mit markanteren Positionen seine Auftraggeber wohl eher abschrecken. Politik: Deutschland
25 Fratzscher, Marcel: Die Deutschland-illusion. Warum wir unsere Wirtschaft überschätzen und Europa brauchen. München: Hanser Verl.,. 250 S., €19,90 [D], 20,50 [A], sfr 21,30 ; ISBN 978-3-446-44034-0 Weitere Titel zum Thema
Die neue Umverteilung
Ungleichheit soweit das Auge reicht, geortet u. a. bei den Bildungschancen, bei den Älteren, beim Einkommen und Vermögen, bei Gesundheit und Krankheit, in der Alltagswelt sowie zwischen Ost und West. Nein, nicht etwa irgendwo, sondern hier in Deutschland. Wer all dies behauptet und mit Fakten unterlegt: Hans-ulrich Wehler , einer der renommiertesten deutschen Sozialhistoriker. Seine Diagnose ist ernüchternd und schockierend zugleich, denn die Kluft zwischen Arm und Reich wird immer größer, obwohl nach den Prinzipien der sozialen Marktwirtschaft eben dies verhindert werden sollte und eine breite Streuung des Wohlstands angestrebt war. Trotzdem werden die obersten fünf Prozent der Sozialpyramide enorm begünstigt, während die Lebensbedingungen und Einkommen der Mittelschicht und erst recht der Unterschichten stagnieren oder sich verschlechtern. Es sei nach Einschätzung Wehlers „nur dem hohen Wohlstandsniveau und der Effektivität der deutschen sozialstaatlichen Leistungen zu verdanken, dass sich die Verteilungskonflikte noch nicht schärfer zugespitzt haben“(S. 168).
In der Debatte um astronomische Managergehälter und steigende Armut kommt der Frage nach der sozialen Gerechtigkeit eine neue Dringlichkeit zu. Jedoch seien, so der Befund des Autors, „in jeder hochdifferenzierten westlichen Gesellschaft, wie sie auch die Bundesrepublik verkörpert, die funktionalen Unterschiede nicht aufhebbar, zumal sie durch Unterschiede der Begabung, des Zufalls der begünstigenden Herkunft, der Leistungsfähigkeit, der Ausstattung mit sozialem und kulturellem Kapital vertieft werden“. Als einzige Lösung sieht Wehler die Abmilderung einer allzu krass ausgeprägten Hierarchie. „Denn auf die Mobilisierungsdynamik, welche die unverzichtbare gesellschaftliche Differenzierung vorantreibt und aufrechterhält, kann der pragmatisch klug handelnde Interventionsund Sozialstaat nicht verzichten.“(S. 169). Soziale Ungleichheit: Deutschland
26 Wehler, Hans-ulrich: Die neue Umverteilung. Soziale Ungleichheit in Deutschland. München: C.H. Beck, 2013. 191 S., €14,95 [D], 15,40 [A], sfr 16,ISBN 978-3-406-64386-6
Volk ohne Mitte
In den hier vorgelegten Essays schreibt der vielfach ausgezeichnete Historiker Götzaly über die Deutschen und ihre Vergangenheit. Insbesondere zeigt er, wie nach 1945 der alte Geist in Verbindung mit Karrierismus die Erforschung der Vergangenheit behinderte. Beispielhaft berichtet er vom „Gedächtnisschwund deutscher Hirnforscher“, von der heilsamen Wirkung des Kalten Krieges und er zeigt, wie die Staatskasse und damit alle Deutschen von dem „beispiellosen Raubzug in Europa“(vgl. S. 85) profitierten. Geschichte: Deutschland
Aly, Götz: Volk ohne Mitte. Die Deutschen zwischen Freiheitsangst und Kollektivismus. Frankfurt/m.: S. Fischer, 2015. 265 S.,
€21,99 [D], 22,70 [A], sfr 23,60
ISBN 978-3-10-000427-7