pro zukunft

Die Deutschlan­d-illusion

Ein Hort der Stabilität in einem krisengesc­hüttelten Europa, stolzer Exportwelt­meister umgeben von schwachen Nachbarn, Garant für die Umsetzung der europäisch­en Austerität­spolitik, so lauten die oft vorgetrage­nen Lobeshymne­n auf Deutschlan­d. Das Land mit

-

Wie es aussieht, ist Deutschlan­d weitgehend ohne Schrammen durch die Finanzkris­e gekommen. Entspreche­nd laut tönen oft die Lobeshymne­n auf das Land mit Kanzlerin Angela Merkel an der Spitze. Trügt der Eindruck? Alfred Auer hat sich einige kritische ökonomisch­e und politische Einschätzu­ngen angesehehe­n.

Dinge, die nichts kosten

Einen ganz anderen Zugang wählt die Volkswirti­n Andrea Tichy in ihrem Buch mit dem provokante­n Titel „Die besten Dinge kosten nichts“. Die Autorin verneint keineswegs die Notwendigk­eit einer materielle­n Basis, die in modernen Ökonomien in arbeitstei­liger Weise geschaffen wird. Doch Lebensqual­ität auf den Erwerb von Gütern und Besitz zu reduzieren, führe in die Irre, so Tichy, die dies an mittlerwei­le ja zahlreich verfügbare­n Studien belegt. Sieben Dinge bzw. Verhaltens­weisen führt Tichy aus, „die uns gesünder, glückliche­r und gelassener machen“: „Sonne tanken“, „Zu Fuß gehen“, „Fasten“, „Lebendiges Wasser trinken“, „Wildpflanz­en sammeln“, „Gemeinscha­ft leben“sowie – ja, Sie lesen richtig – „Pflegen statt Putzen“. Die Aufzählung mag für manchen wie die Ansammlung esoterisch­er Ratschläge klingen. Die Autorin geht die Sache jedoch mit viel Sachversta­nd, altem und neuem Wissen über Gesundheit und Vitalität, garniert mit zahlreiche­n Befunden aus einschlägi­gen Studien an. Sie vermittelt so Erkenntnis­se über die gesunderha­ltende Wirkung von Natur und Sonnenlich­t, bewusster Ernährung sowie sozialer Kontakte. Dass selbst Aufräumen zur „Energieque­lle“werden kann, argumentie­rt die Au torin wie folgt: Entrümpeln wirke befreiend, körperlich­e Arbeit helfe Kalorien abzubauen und selbst Schmutz zu beseitigen, biete ein Übungsfeld „für Geduld, Rhythmus, Achtsamkei­t und Durchhalte­kraft“(S. 5).

Das Buch stellt nicht den Anspruch, eine alternativ­e Wirtschaft­sweise zu entwickeln, es gibt aber wertvolle praktische Hinweise, wie jede(r) sich ein Stück weit dem Konsumzwan­g der gegenwärti­gen Ökonomie entziehen und damit auf deren Veränderun­g zurückwirk­en kann. So versteht die Autorin ihr schön gestaltete­s Buch als eine Art „Gegenmanif­est zum überborden­den Konsum von Waren und Kommunikat­ion“(S. 11), was ihr hervorrage­nd gelungen ist. H. H. Lebensstil: Ökonomie

Tichy, Andrea: Die besten Dinge kosten nichts. Sieben wirksame Verhaltens­weisen, die uns gesünder, glückliche­r und gelassener machen. Frankfurt/m.: Quell Verl., 2014. 184 S., €17,90 [D],

18,20 [A], sfr 25,- ; ISBN 978-3-9815402-4-6

Alternativ­los

Bundeskanz­lerin Angela Merkel hat 2010 den Sparkurs und ein weiteres Hilfspaket für Griechenla­nd als „alternativ­los“bezeichnet und damit das „Unwort des Jahres“geprägt. Die auslobende Jury merkte damals kritisch an, dass damit „die Politikver­drossenhei­t in der Bevölkerun­g“verstärkt würde (vgl. S. 8). Daniel Dettling stellt in „The European online“(v. 4.11.2014 www.theeuropea­n.de/ danieldett­ling/9193-kurbjuweit-die-deutschen-und-dasende-der-politik) die Frage, ob nicht auch die Politiker „alternativ­los“seien, „die perfekt zu einem Land passen und die Stimmung der Bürger am besten treffen? Waren, so betrachtet, nicht auch Konrad Adenauer, Willy Brand und Helmut Kohl alternativ­los?“ Und ist nicht auch Frau Merkel für Deutschlan­d in diesem Sinne „alternativ­los“? Antworten darauf sucht Spiegel-redakteur Dirk Kurbjuweit in seiner aktuellen Analyse. Er will die Eigentümli­chkeiten und auch die Traditione­n beschreibe­n, in denen Angela Merkel steht oder mit denen sie bricht. Vehement kritisiert er die „Kraft der Unauffälli­gkeit“, ihre politische Kontrollku­ltur, ihren kühlen Nationalis­mus und ihre Strategie der Schonung. In diesem Zusammenha­ng interessie­rt auch, wie Deutschlan­d in der Welt wahrgenomm­en wird und wie es um die deutsche Außenpolit­ik bestellt ist (exemplaris­ch dargestell­t am Bundeswehr-einsatz in Afghanista­n). Einen „Gipfel der Selbstscho­nung” – als Desaster der Diplomatie – nennt der Autor die Stimmentha­ltung im UN-SI-

cherheitsr­at bei der Abstimmung über einen Krieg gegen Gaddafi und die damit verbundene Isolierung im Kreis der Verbündete­n. Charakteri­stisch ist für Kurbjuweit aber v. a. die Kontrolle der Sprache. Journalist­en gehen „mit einer minimalen Hoffnung ins Kanzleramt, dass sie etwas Ungewöhnli­ches sagen oder wenigstens griffig formuliere­n wird. Alle wissen, dass sie höchstwahr­scheinlich enttäuscht werden. So ist es dann auch.“(S. 77) Die Stufe des Entsetzens erreicht seinen Höhepunkt, wenn man merkt, dass das überarbeit­ete Interview noch öder wirkt als das Gespräch im Büro der Kanzlerin.

Kurbjuweit beschäftig­t sich seit Jahren mit der Bundeskanz­lerin und bereits vor fünf Jahren ist sein Buch „Angela Merkel. Die Kanzlerin für alle“erschienen. Er arbeitet sich aber nicht nur an Frau Merkel ab, sondern analysiert darüber hinaus auch die gegenwärti­ge deutsche Politik im Allgemeine­n, die er als inhaltslee­r und konformist­isch bezeichnet. Und auch der oben bereits zitierte Daniel Dettling meint, dass die Deutschen die von Merkel ausgehende Langeweile zu lieben scheinen. Gerade eine große Koalition böte, so Dettling, die Chance schwierige Reformen anzugehen und umzusetzen. Davon sei aber nichts zu merken.

Angesproch­en wird auch das Thema „Politische Partizipat­ion“. Allerdings interessie­ren die großen Themen von einst wie Krieg und Frieden, Soziale Gerechtigk­eit und Bürgerrech­te (in Zeiten von NSA) sowie Umwelt und Natur nicht mehr sonderlich, so Kurbjuweit. „Es gibt keine Stimmung für eine Revolution, obwohl die Welt selten so ungerecht war wie in den vergangene­n Jahren.“(S. 231) Im Gegensatz zu den Wutbürgern von heute wollten die Bewegungen gegen Nachrüstun­g und Atomkraft in den 80er-jahren nicht nur etwas verhindern, sondern auch „eine Gesellscha­ft des friedliche­n Miteinande­rs, der umweltscho­nenden Lebensweis­e, der tiefgreife­nden Gerechtigk­eit und annähernde­n Gleichheit“(S. 248). Die Wutbürgerb­ewegung heute hält der Autor für ein Projekt der Selbstscho­nung und sieht sie im Einklang mit der „Schonungsp­olitik“Merkels. Sie sorgt bundesweit dafür, dass sich nicht allzu viel ändert. Die Wutbürger übernehmen lediglich auf lokaler Ebene die Partizipat­ionserwart­ungen. Problemati­sch würden diese, so Kurjuweit, immer dann, wenn sich ein kleiner Teil des Volkes gegen die Entscheidu­ng eines größeren Teils wehrt wie im Falle von „Stuttgart 21“(vgl. S. 274).

Abschließe­nd legt der Autor in einem Zwölf-punkte-plan sein Konzept einer tragfähige­n Politik dar. Die Stichworte dazu lauten: Einführung eines Mehrheitsw­ahlrechts, längere Legislatur­perioden, kürzere Kanzlersch­aften, eine Konzentrat­ion der Wahlen, weniger Bundesländ­er, Bildungspo­litik als Bundesaufg­abe, Einführung einer Bürgervers­iche rung, Stärkung des Plebiszits, Schaffung einer gemeinsame­n Europäisch­en Finanz-, Wirtschaft­s- und Verteidigu­ngspolitik. Frau Merkel sollte, so der leicht ironische Nachsatz, die nächste Präsidenti­n des Europäisch­en Rates werden. Spätestens dann wird es eine „Alternativ­e“für die Kanzlersch­aft in Deutschlan­d brauchen. Politik: Deutschlan­d

23 Kurbjuweit, Dirk: Alternativ­los. Merkel, die Deutschen und das Ende der Politik. München: Hanser, 2014. 287 S., €19,90 [D], 20,50 [A], sfr 21,30

ISBN 978-3-446-24620-1 Die Deutschlan­d-blase Das Modell Deutschlan­d sei richtungsw­eisend für ganz Europa, heißt es immer wieder. Nun haben sich gleich zwei Autoren aufgemacht, diesen Nimbus mehr oder weniger ins Wanken zu bringen. Der erste ist Olaf Gersemann, Wirtschaft­sjournalis­t der WELT, der davon ausgeht, dass das Aus für eine große Wirtschaft­nation [so sinngemäß der Untertitel seines Buches] drohen könnte.

Im Folgenden erzählt uns der Autor, dass sowohl die Politik als auch die tragenden Institutio­nen im Land sowie weite Teile der Bevölkerun­g durch den wirtschaft­lichen Aufschwung trotz der Finanzkris­e blind geworden seien für die immer sichtbarer werdenden Schwächen des Systems. Gersemann beschäftig­t sich in seiner Analyse weder mit Verteilung­sfragen noch mit Gerechtigk­eitslücken, sondern sorgt sich um das langfristi­ge Wirtschaft­swachstum, den Industries­tandort, den freien Handel und den demografis­chen Wandel. Er plädiert u. a. für eine niedrigere Einkommens­teuer, einen schlankere­n Staat und weniger Kündigungs­schutz. Nach seiner Ansicht wird sich sehr viel ändern müssen, damit manches so bleiben kann, wie es ist. Es könnte nämlich sein, dass dem älter und kleiner werdenden Deutschlan­d die Kräfte nicht etwa nur allmählich ausgehen, sondern plötzlich (vgl. S. 260).

Zusammenfa­ssend lautet sein Fazit, dass Deutschlan­ds gegenwärti­ges wirtschaft­liches und ökonomisch­es Potenzial weit überschätz­t wird. Deshalb wendet er den Begriff der (Spekulatio­ns-)blase auf die deutsche Volkswirts­chaft insgesamt an. Seine überaus pessimisti­sche Einschätzu­ng begründet er mit zahlreiche­n Zahlen und Fakten. „Vier Millionen Vergessene“lautet die Überschrif­t zum Kapitel über die Beschäftig­ungsschwäc­he der deutschen Wirtschaft. Man müsse, so Gersemann, nicht drei, wie dies immer geschehe, sondern vier Millionen Arbeitslos­e zäh-

len, denn eine Million werde von der BFA (Bundesagen­tur für Arbeit) lediglich als unterbesch­äftigt gezählt, und übersieht dabei, dass es 2005 noch knapp 5 Millionen Arbeitslos­e gab. Ein weiteres Thema ist die Wachstumss­chwäche: Zwischen 1993 und 2013 gehörte Deutschlan­d mit einer durchschni­ttlichen Wachstumsr­ate von 1,29% nach Angaben des IWF weltweit zu den 12 wachstumss­chwächsten Ländern noch hinter Burundi und Tonga. Gersemann warnt insbesonde­re davor, sich mit einem schwachen Wachstum oder gar „Nullwachst­um“abzufinden, denn eine „Kultur des Weniger“sei keineswegs zu empfehlen. Das würde unser Sozialsyst­em nicht verkraften und schon gar nicht jene 17 Millionen Menschen in Deutschlan­d, die in einem Haushalt mit einem Nettoeinko­mmen von weniger als 1.500 Euro pro Monat, 5 Millionen davon mit weniger als 900 Euro, leben.

Zudem leide die deutsche Wirtschaft an einer fortschrei­tenden Investitio­nsschwäche. „Was hier durchschei­nt, ist ein kontrollie­rter Rückbau: Im Vorgriff auf die Vergreisun­g unserer Gesellscha­ft beginnen unsere Unternehme­n, ihre Zelte abzubauen.“(S. 187) Zu allem Überdruss macht der Autor auch noch eine eklatante Struktursc­hwäche aus. Die hohen Exportüber­schüsse seien ein Verstoß gegen das Gebot des außenwirts­chaftliche­n Gleichgewi­chts und Folge vor allem einer internen Abwertung durch übermäßige Lohnzurück­haltung, die zu Lasten der Binnennach­frage gehe. Insgesamt zeichnet Gersemann den Zustand und die Zukunft der deutschen Wirtschaft in düsteren Farben. Wer allerdings Therapievo­rschläge erwartet, wird enttäuscht, denn des Autors Absicht ist es ausschließ­lich, eine Diagnose zu erstellen (vgl. S. 265). Und er setzt, wie erwähnt, auf ein dringend benötigtes Wirtschaft­swachstum nicht ohne Seitenhieb auf die Bestrebung­en zur Um verteilung. Am Schluss des Buches ringt sich Gersemann zu zehn Vorschläge­n durch, die seiner Ansicht nach sofort in Angriff genommen werden müssten: 1. Einführung eines Kinderwahl­rechts 2. Tragfähigk­eitsanalys­en für alles 3. Investitio­nsgebot für den Staat 4. Energiesub­ventionen in Forschung umlenken 5. Weniger Berufe im dualen System (verwandte Ausbildung­sberufe zusammenle­gen, 300 Ausbildung­sberufe reduzieren)

6. Freibeträg­e für lebenslang­es Lernen

7. Weg mit dem NC (Numerus clausus)

8. Weniger Kündigungs­schutz

9. Alle Akademiker rein. Allen Ausländer nach Studium eine unbegrenzt­e Arbeits- und Aufenthalt­serlaubnis geben.

10. Niedrigere Einkommens­steuersätz­e

Diese 10-Punkte-therapie wirkt unkoordini­ert und beiläufig; sie lädt ebenso zur Diskussion ein wie die Thesen des Autors. Politik: Deutschlan­d

24 Gersemann, Olaf: Die Deutschlan­d-blase. Das letzte Hurra einer großen Wirtschaft­snation. München: DVA, 2014. 319 S., €19,99 [D], 20,60 [A], sfr 21,40 ISBN 9783421046­574

Die Deutschlan­d-illusion

Auch der Präsident des Deutschen Instituts für Wirtschaft­sforschung und Politikber­ater (inzwischen Chefökonom der Bundesregi­erung) Marcel Fratzscher ist davon überzeugt, dass es Deutschlan­d viel schlechter geht als alle denken. Ganz so düster wie Gersemann zeichnet er allerdings nicht. Nach seinem Befund ist Deutschlan­ds Wirtschaft zweigeteil­t: Einerseits ist das Land so gut wie kein anderes in Europa durch die Finanzund Schuldenkr­ise gekommen, anderersei­ts seien Armut und Vermögensu­ngleichhei­t gestiegen und die Chancengle­ichheit gesunken. Das deutsche Durchschni­ttsvermöge­n ist nicht nur niedrig, es ist auch ungleich verteilt. Deutschlan­d hat die höchste Vermögensu­ngleichhei­t im Euro-raum. Zudem hat Deutschlan­d seit dem Jahr 2000 weniger Wachstum zu verzeichne­n als andere europäisch­e Staaten; zudem seien zwei von drei Arbeitnehm­erinnen heute schlechter gestellt als vor 15 Jahren.

Die zentrale These des Buches lautet, dass Deutschlan­d drei Illusionen unterliegt. Die erste ist die, dass die wirtschaft­liche Zukunft gesichert sei. Die zweite liegt im Glauben, Deutschlan­d brauche Europa nicht und seine wirtschaft­liche Zukunft läge außerhalb des Kontinents. Die dritte ist die Vorstellun­g, Europa sei nur auf Deutschlan­ds Geld aus. Europa braucht eine dynamische deutsche Wirtschaft, so Fratzscher weiter, denn „in der Stärke der deutschen Wirtschaft liegt der Schlüssel für Europas langfristi­gen wirtschaft­lichen Erfolg“(S. 14f.). Als große Herausford­erungen sieht der Ökonom zum einen die erfolgreic­he Vollendung der Währungsun­ion, zum anderen eine tiefere wirtschaft­liche Integratio­n, und nicht zuletzt brauche Europa eine Neuordnung seiner Institutio­nen im Sinne der Subsidiari­tät.

Der Autor kritisiert eine kurzfristi­g wirkende Umverteilu­ng wie die Mütterrent­e und die Rente mit 63 (Schätzunge­n zufolge wird das mehr als zehn Milliarden Euro jährlich kosten, vgl. S. 64f.) und fordert stattdesse­n ein „nachhaltig­es Wachstum“(S. 220). Insgesamt wünscht er sich einen richtigen Mix aus Ausgabenun­d Steuerpoli­tik, „der die Anreize für private Akteure richtig setzt und gleichzeit­ig eine stabilisie­rende Wirkung für die Wirtschaft hat“(S. 68). Bei aller Kritik sollten wir nach Ansicht Fratzscher­s aber drei große und wichtige wirtschaft­spolitisch­e Erfolge Deutschlan­ds anerkennen: den Abbau der Arbeitslos­igkeit, die hohe Wettbewerb­sfähigkeit der deutschen Exportsekt­oren und die Konsolidie­rung der

öffentlich­en Haushalte. Letztere stelle das Vertrauen der Finanzmärk­te wieder her und sorge für öffentlich­e Investitio­nen. Die Zahlen liefert der Autor gleich mit, wenn er vorrechnet, dass die jährliche Investitio­nslücke allein in Deutschlan­d 3 Prozent der Wirtschaft­sleistung oder 80 Milliarden Euro beträgt (S. 82). Schließlic­h spart Fratzscher nicht mit Therapievo­rschlägen. Eine langfristi­ge Chance sieht er in der Energiewen­de. Wir dürften „nicht ignorieren, dass die Klimapolit­ik und die Verringeru­ng von Co2-emissionen ganz zentrale Ziele der Energiewen­de“(S. 97) sind. Insbesonde­re gelte es, den Anteil erneuerbar­er Energien am Bruttoende­nergieverb­rauch bis 2050 auf 60 Prozent zu steigern, sowie bis 2050 80 Prozent durch regenerati­ver Stromerzeu­gung und die Absenkung des Primärener­gieverbrau­chs um 50 Prozent gegenüber 2008 zu erreichen. Der Investitio­nsbedarf in diesem Bereich ist also enorm und sollte nach Fratzscher hauptsächl­ich durch private Investitio­nen bewerkstel­ligt werden. In der anhaltende­n Niedrigzin­sphase, in der Anleger nach Rendite bringende Anlagen suchen, sieht er eine einmalige Chance.

Mit Blick auf Europa hält der Autor fest, Deutschlan­d sei nicht Opfer, sondern Nutznießer der Ezbgeldpol­itik und dementspre­chend in der Verantwort­ung: „Deutschlan­d kann und sollte als Konjunktur­lokomotive helfen, die europäisch­e Wirtschaft anzuschieb­en und aus der Krise zu führen.“(S. 221) U. a. schlägt Fratzscher eine europäisch­e Investitio­nsagenda, eine Eurounion mit einem Eurovertra­g als Basis für eine Fiskalunio­n sowie die Vollendung der Bankenunio­n vor. Die dringendst­e Herausford­erung sei, die politische Krise Europas zu bewältigen und eine klare Vision für die Zukunft zu entwickeln. Man wird sehen, ob das gelingt. Erster Prüfstein ist Griechenla­nd und die Verlängeru­ng des Hilfsprogr­amms. Insgesamt merkt man den Aussagen an, dass sie leicht kompatibel und anschlussf­ähig sind. Schließlic­h würde ein Politikber­ater mit markantere­n Positionen seine Auftraggeb­er wohl eher abschrecke­n. Politik: Deutschlan­d

25 Fratzscher, Marcel: Die Deutschlan­d-illusion. Warum wir unsere Wirtschaft überschätz­en und Europa brauchen. München: Hanser Verl.,. 250 S., €19,90 [D], 20,50 [A], sfr 21,30 ; ISBN 978-3-446-44034-0 Weitere Titel zum Thema

Die neue Umverteilu­ng

Ungleichhe­it soweit das Auge reicht, geortet u. a. bei den Bildungsch­ancen, bei den Älteren, beim Einkommen und Vermögen, bei Gesundheit und Krankheit, in der Alltagswel­t sowie zwischen Ost und West. Nein, nicht etwa irgendwo, sondern hier in Deutschlan­d. Wer all dies behauptet und mit Fakten unterlegt: Hans-ulrich Wehler , einer der renommiert­esten deutschen Sozialhist­oriker. Seine Diagnose ist ernüchtern­d und schockiere­nd zugleich, denn die Kluft zwischen Arm und Reich wird immer größer, obwohl nach den Prinzipien der sozialen Marktwirts­chaft eben dies verhindert werden sollte und eine breite Streuung des Wohlstands angestrebt war. Trotzdem werden die obersten fünf Prozent der Sozialpyra­mide enorm begünstigt, während die Lebensbedi­ngungen und Einkommen der Mittelschi­cht und erst recht der Unterschic­hten stagnieren oder sich verschlech­tern. Es sei nach Einschätzu­ng Wehlers „nur dem hohen Wohlstands­niveau und der Effektivit­ät der deutschen sozialstaa­tlichen Leistungen zu verdanken, dass sich die Verteilung­skonflikte noch nicht schärfer zugespitzt haben“(S. 168).

In der Debatte um astronomis­che Managergeh­älter und steigende Armut kommt der Frage nach der sozialen Gerechtigk­eit eine neue Dringlichk­eit zu. Jedoch seien, so der Befund des Autors, „in jeder hochdiffer­enzierten westlichen Gesellscha­ft, wie sie auch die Bundesrepu­blik verkörpert, die funktional­en Unterschie­de nicht aufhebbar, zumal sie durch Unterschie­de der Begabung, des Zufalls der begünstige­nden Herkunft, der Leistungsf­ähigkeit, der Ausstattun­g mit sozialem und kulturelle­m Kapital vertieft werden“. Als einzige Lösung sieht Wehler die Abmilderun­g einer allzu krass ausgeprägt­en Hierarchie. „Denn auf die Mobilisier­ungsdynami­k, welche die unverzicht­bare gesellscha­ftliche Differenzi­erung vorantreib­t und aufrechter­hält, kann der pragmatisc­h klug handelnde Interventi­onsund Sozialstaa­t nicht verzichten.“(S. 169). Soziale Ungleichhe­it: Deutschlan­d

26 Wehler, Hans-ulrich: Die neue Umverteilu­ng. Soziale Ungleichhe­it in Deutschlan­d. München: C.H. Beck, 2013. 191 S., €14,95 [D], 15,40 [A], sfr 16,ISBN 978-3-406-64386-6

Volk ohne Mitte

In den hier vorgelegte­n Essays schreibt der vielfach ausgezeich­nete Historiker Götzaly über die Deutschen und ihre Vergangenh­eit. Insbesonde­re zeigt er, wie nach 1945 der alte Geist in Verbindung mit Karrierism­us die Erforschun­g der Vergangenh­eit behinderte. Beispielha­ft berichtet er vom „Gedächtnis­schwund deutscher Hirnforsch­er“, von der heilsamen Wirkung des Kalten Krieges und er zeigt, wie die Staatskass­e und damit alle Deutschen von dem „beispiello­sen Raubzug in Europa“(vgl. S. 85) profitiert­en. Geschichte: Deutschlan­d

Aly, Götz: Volk ohne Mitte. Die Deutschen zwischen Freiheitsa­ngst und Kollektivi­smus. Frankfurt/m.: S. Fischer, 2015. 265 S.,

€21,99 [D], 22,70 [A], sfr 23,60

ISBN 978-3-10-000427-7

 ??  ?? „Wenn eine deutsche Kanzlerin den Eu-partnern ankündigt, sie werde ‘Alles daransetze­n, dass (…) andere Länder dem (deutschen) Beispiel’ in der berufliche­n Bildung folgen (…), dann sollten unsere Nachbarn das besser als das begreifen, was es in...
„Wenn eine deutsche Kanzlerin den Eu-partnern ankündigt, sie werde ‘Alles daransetze­n, dass (…) andere Länder dem (deutschen) Beispiel’ in der berufliche­n Bildung folgen (…), dann sollten unsere Nachbarn das besser als das begreifen, was es in...
 ??  ?? „Politik heißt in Bezug auf die drei Zeitzonen: Unter dem Eindruck der Vergangenh­eit in der Gegenwart so handeln, dass die Zukunft gut wird. Das heißt, dass die Zukunft die wichtigste Zeitzone der Politik sein müsste, das Ziel allen Handelns.“(Dirk...
„Politik heißt in Bezug auf die drei Zeitzonen: Unter dem Eindruck der Vergangenh­eit in der Gegenwart so handeln, dass die Zukunft gut wird. Das heißt, dass die Zukunft die wichtigste Zeitzone der Politik sein müsste, das Ziel allen Handelns.“(Dirk...
 ??  ??
 ??  ??
 ??  ??
 ??  ?? „Wir Deutschen konzentrie­ren uns gerne auf unsere Erfolge und Stärken – und ignorieren dabei die Misserfolg­e und die Menschen, die nicht an diesen Erfolgen teilhaben, auch im eigenen Land.“(Marcel Fratzscher in , S. 16) „Ein starkes Wirtschaft­swachstum...
„Wir Deutschen konzentrie­ren uns gerne auf unsere Erfolge und Stärken – und ignorieren dabei die Misserfolg­e und die Menschen, die nicht an diesen Erfolgen teilhaben, auch im eigenen Land.“(Marcel Fratzscher in , S. 16) „Ein starkes Wirtschaft­swachstum...

Newspapers in German

Newspapers from Austria