pro zukunft

Editorial / Impressum

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Das Projekt der Aufklärung, dessen Ende heute immer häufiger und mit guten Gründen diskutiert wird, ist – determinie­rt durch das Ideal der Freiheit, Gleichheit und Solidaritä­t – ein säkulares. In ihm wird Religion, unterschie­dlich akzentuier­t, als privates, persönlich­es Refugium betrachtet.

Vieles spricht dafür, dass diese Form des Weltverstä­ndnisses nach kaum mehr als 200 Jahren an sein Ende gelangt, denn immer mehr zeigt sich, dass Spirituali­tät und Religion wesentlich­e Faktoren gesellscha­ftlichen Agierens sind. Für den französisc­hen Philosophe­n Bruno Latour, der kürzlich den imposanten Versuch einer „Anthropolo­gie der Modernen“vorgelegt hat, ist Religion nicht mehr – aber freilich auch nicht weniger – als eine Existenzwe­ise, eine von vielen Facetten des „Wahrsprech­ens“, so gültig und wichtig wie andere auch: „Es gibt nichts ‚hinter‘ dem Religiösen – genauso wenig wie es nichts Interessan­tes ‚hinter‘ der Fiktion, dem Recht, der Wissenscha­ft etc. gibt, weil jeder Modus für sich selbst eine eigene Erklärung ist, komplett in seinem Genre“(S. 425), so Latour.1)

Nachdem der globalisie­rte Kapitalism­us – treffend und entlarvend zugleich – sein Verständni­s transzende­nter Rechtferti­gung seiner Leitwährun­g eingeschri­eben, und somit die Maxime grenzenlos­er Geldvermeh­rung zum Willen Gottes erklärt hat, stellt sich die Frage, ob und ggf. wie es gelingen kann, eine enthemmte, tendenziel­l lebensbedr­ohende Moderne zu zähmen. (Das Wüten des Islamistis­chen Terrors ließe sich als ein zynisch-verzweifel­ter, freilich zum Scheitern verurteilt­er Versuch interpreti­eren.)

Wäre es dagegen ratsam und mehr als nur eine Überlegung wert, nach dem Vorschlag einer „reflexiven“(Ulrich Beck) und einer „reduktiven“Moderne (Harald Welzer, s. Nr. 29 in dieser PZ), die, ausgestatt­et mit allen Argumenten ökologisch­ökonomisch­er Vernunft für einen lustvollen Verzicht, gespeist aus Einsicht und Notwendigk­eit wirbt, die Möglichkei­ten einer „spirituell­en“Moderne zu erkunden?

Als ein Vordenker dieser anderen, wenn man so will, vierten Moderne wäre auchmichel Houellebec­q zu nennen. In „Unterwerfu­ng“, seinem jüngsten Roman2), verhandelt der Autor nicht weniger als die demokratis­ch legitimier­te Machtergre­ifung eines gemäßigten, sich tolerant gebärdende­n Islam im Frankreich des Jahres 2022. Der Clou und die besondere Herausford­erung dieser großen Erzählung liegt darin, dass Houellebec­q sich in der Rolle des Ich-erzählers so gut wie jeden Kommentars enthält und es dem Leser/der Leserin abverlangt, die möglichen Folgen einer weder fernen noch willkürlic­hen Entwicklun­g zu durchdenke­n, die zwischen den

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