Facetten der Zukunftsforschung
Walter Spielmann hat sich eine Würdigung von elf Vorbildern - „Partisanenprofessoren“nennt sie Jost Hermand ebenso angesehen wie Friedhelm Bütows Gedanken zum „Zeitgeistwandel“. Alfred Auer beschäftigt sich abschließend mit dem „Neustart der Welt“von Lewis Dartnell, der Möglichkeiten des Überlebens beschreibt, selbst dann, wenn alle unsere technischen und zivilisatorischen Errungenschaften zerstört sein sollten.
Eine Würdigung von elf Vorbildern – „Partisanenprofessoren“nennt sie Jost Hermand und weist unter ihnen Robert Jungk eine besondere Rolle zu – zeigt, dass es immer wieder herausragende Persönlichkeiten gab, denen es selbstverständlich war, für ihre Überzeugungen zu streiten. Diese Essays hat sich Walter Spielmann ebenso angesehen wie Friedhelm Bütows Gedanken zum „Zeitgeistwandel“. Alfred Auer beschäftigt sich abschließend mit dem „Neustart der Welt“von Lewis Dartnell, der Möglichkeiten des Überlebens beschreibt, selbst dann, wenn alle unsere technischen und zivilisatorischen Errungenschaften zerstört sein sollten.
Unangepasste „Bekenner“
Die Vorbilder, die eine Epoche prägen, sagen über die Menschen, die sie wählen, zumindest ebenso viel aus wie über die Auserkorenen. Dies zumindest legt der Abriss zum Wandel der Vorstellungen darüber, was bzw. wer im Verlauf der deutschen Geschichte als vorbildhaft angesehen wurde, nahe, mit dem Jost Hermand, emeritierter Kulturhistoriker und Honorarprofessor an der Humboldt Universität zu Berlin, einen gleichermaßen persönlichen wie zeitgeschichtlich spannenden Band über deutsche Vorbilder der Zeit von 1945 bis zum Beginn des 21. Jahrhunderts eröffnet. Identitätsstiftende Führungspersönlichkeiten, so Hermands Befund, waren Heilige, Herrscher ebenso wie vorbildliche Gestalten aus Handwerk/wissenschaft, Theologie und Kunst (Gutenberg, Dürer) oder aber – das eigentliche Thema Jost Hermands – nach dem Zweiten Weltkrieg Persönlichkeiten, die sich dem Versprechen westlicher Wachstumsideologie ebenso kritisch und distanziert gegenüber verhielten wie den Verheißungen des „real existierenden Sozialismus“. Das intellektuelle Ringen „Bekennender“– denn das sind dem Wortsinn nach akademisch Lehrende, denen der Titel „Professor“verliehen wird – um eine solidarische, menschenwürdige, integere Wissenschaft, die sich keiner Ideologie unterzuordnen bereit war, wird hier in bisher so nicht bekannter Vielfalt ausgebreitet, um erinnert und bestenfalls auch als Auftrag verstanden zu werden.
Elf Persönlichkeiten gewürdigt
Hermand porträtiert elf Persönlichkeiten, die, wie er im Schlusswort anmerkt, seinen Weg als kritischen, linken Intellektuellen geprägt haben, sei es aufgrund langjähriger Zusammenarbeit, persönlicher Freundschaft oder prägender Lektüre. Ergebnis dieser Erkundung des eigenen Erkennens und Bekennens sind sachlich wohlwollende, aber auch mit kritischen Einwürfen gezeichnete Würdigungen, die etwa dem Kunsthistoriker Richard Hamann, dem Romanisten Werner Krauss, dem Wirtschaftshistoriker Jürgen Kuczynski und dem Politikwissenschaftler Wolfgang Abendroth gelten. Darüber hinaus werden das Wirken von Georg Knepler (Musikhistoriker), des Literaturwissenschaftlers Hans Mayer, Helmut Gollwitzer (protestantischer Theologe), von Walter Grab (Historiker) sowie des Literatur- und Theaterwissenschaftlers Werner Mittenzwei in Erinnerung gerufen.
Die Reihe der vorgestellten „Partisanenprofessoren“– der Begriff ist Jürgen Habermas anlässlich einer Würdigung seines Lehrers Wolfgang Abendroth zu danken (vgl. S. 19 u. 99) – komplettiert Robert Jungk. Jost Herman würdigt ihn als „einen aus dem Ns-staat vertriebenen Juden, [dem] unter den deutschen Geisteswissenschaftlern ein besonderer Ehrenplatz gebührt“(S. 197). Die detailreiche Darstellung bedarf, wie ich meine, allein in einem Punkt der Ergänzung: Robert Jungk, der von 1970 an mit seiner Familie in Salzburg lebte, hat hier wesentliche Teile seines pu-
blizistischen und agitatorischen Wirkens als Mahner und Ermutiger konzipiert und von hier aus in die Welt getragen. Allein schon in Anbetracht der Tatsache, dass Jungk im Alter von 79 Jahren als Kandidat der Grünen für das Amt des österreichischen Bundespräsidenten kandidierte, widerlegt die These Hermands, dass sich Jungk zu Ende seines Engagements als „ideologisch freischwebender Intellektueller (…) mehr und mehr nach Salzburg zurückzog[en]“habe (S. 208f.). Angesichts der Tatsache, dass sich infolge der weitreichenden Umwertung gesellschaftlicher Prioritäten auch der Charakter gesellschaftlicher Vorbilder grundlegend verändert hat, ist die Lektüre dieses Buchs mit ein Stück Wehmut verbunden, aber auch mit der Erinnerung zu verknüpfen, dass es immer wieder herausragende Persönlichkeiten gab, denen es selbstverständlich war, für ihre Überzeugungen und für politische Veränderungen zu streiten. Wie Jost Hermand in seinem Schlusswort feststellt: Sich der hier gewürdigten Elite intellektueller Widerständigkeit im geteilten Deutschland „nicht zu erinnern, erschiene mir [mit Heiner Müller gesprochen] – trotz der inzwischen vergangenen Zeit – geradezu konterrevolutionär“(S. 277). Ein wichtiges Dokument progressiver Erinnerungskultur! W. Sp.
Zeitgeschichte: Zukunftsdenker
79 Hermand, Jost: Vorbilder. Partisanenprofessuren im geteilten Deutschland. Köln (…): Böhlau, 2014. 310 S. 34,90 [D], 35,90 [A] ; ISBN 978-3-412-22365-6, 27,99 [E-book] ; ISBN 978-3-412-21813-3
Zeitgeistwandel, schon wieder? – Ja, unbedingt!
Zugegeben: der erste Blick auf dieses Buch erfüllte mich mit Skepsis. Haben wir nicht schon zu oft vom unabdingbaren Ende der Neuzeit, vom Aufbruch in ein neues Zeitalter, von einer zweiten Aufklärung und von einer neuen Sicht auf das Raumschiff Erde gelesen? Ist also einmal mehr damit zu rechnen, an dieser Stelle nur auf Altbekanntes zu stoßen?
Bei näherem Hinsehen zeigt sich, dass Friedhelm Bütow in verschiedenen geisteswissenschaftlichen Disziplinen (Musik, Geschichte, Philosophie u. a. m.) überaus kundig ist, bereits einiges publiziert hat und (mit Blick auf die zu Rate gezogene Literatur) ein Generalist im besten Sinne genannt werden kann. Der Autor (Jahrgang 1940) hat die hier versammelten Essays, so ist dem Vorwort zu entnehmen, „vom Beginn des Zeitalters der astronautischen >Welt-anschauung< [1969] bis zum Ende des Jahres 2014“verfasst. Anzunehmen wäre demnach, dass unterschiedliche Aspekte der Zeit- und Raumbetrachtung eher unvermittelt aneinandergereiht wurden. Die auf knapp 600 Seiten dargelegten Gedanken sind jedoch – von wenigen Wiederholungen abgesehen – chronologisch schlüssig und ideengeschichtlich klar strukturiert. Ergebnis ist eine vielfältige, zum Teil auch spannende Darstellung des ‘Zeitgeistes’ vom späten Mittelalter bis zur Gegenwart.
Ausführlich auf Lebensweg und Bedeutung Giordano Brunos eingehend, schildert Bütow zunächst die Entstehung des „Neuzeitgeistes“, der, ausgehend von der Renaissance, s. E. von drei ‘Euphorien’ geprägt wurde: jener nach Weite, nach Neuheit und nach Fortschritt. Im Verlauf der [ersten] Aufklärung mit hinzugekommen sei die Geschwindigkeitseuphorie. Geprägt wurde diese mentale Neuordnung der Welt vor allem durch technologische Neuerungen (die Erfindung der Uhr, die„eroberung der Lüfte“), die industrielle Revolution, sowie diese begleitende soziologische Umbrüche (Selbstermächtigung des Bürgertums, Arbeiter-, Frauen- und Jugendbewegung zu Beginn des 20. Jahrhunderts).
Von der Weltanschauung zur Welt-anschauung
Dreh- und Angelpunkt der Zeit- bzw. Weltbetrachtung des Autors ist das Jahr 1969 – für ihn der Beginn des „planetarischen Zeitalters“. Durch die damit erstmals erfahrene Außenperspektive sei die Erde 1.) in ihrer Ganzheit, 2.) in ihren Grenzen, 3.) in ihrer Vielfalt und ihrem Reichtum sowie 4.) in ihrer Einzigartigkeit erfahrbar geworden. Der Perspektivenwechsel sei für Individuum und Gemeinschaft, für unseren Blick auf Natur und Kultur eine Herausforderung, ja, komme einer Revolution gleich: Notwendig sei die Entwicklung einer auf vier Prinzipien (Tugend, Herzens[bildung], Dienst-/pflicht und Ehr- furcht) gründenden Ethik. Daraus abzuleiten und vorrangig – [mit Blick auf die gegenwärtige Welt-unordnung auch nur in Ansätzen kaum zu erkennen, W. Sp.] – sei eine Neuordnung der Menschenrechte, die Entwicklung einer tragfähigen Weltwirtschaftsordnung sowie eine an den Prinzipien der Nachhaltigkeit ausgerichtete Entwicklung von Technik und Wissenschaft. Naheliegend, dass in diesem Kontext dem Durchbruch erneuerbarer Energien und dem Erstarken zivilgesellschaftlichen Engagements besondere Bedeutung beigemessen wird.
Fünf Treiber des (neuen). Wandels
Fünf „Zeitgeisteuphorien“, denen der Autor „Ermutigungsund Ansteckungspotenzial“zuschreibt, würden die Entwicklung des planetarischen Zeitalters kennzeichnen: 1.) Die Faszination für Großtechnik und Geschwindigkeit verliert gegenüber dem „Charme der Kreativität, der Intelligenz und
der Subversivität ‘des Kleinen’ an Bedeutung; 2.) Der Aufbruch in eine solare Weltwirtschaft, die eine Energieautonomie für alle Menschen möglich macht, lässt „die alten Energiekonzerne als Zwerge erscheinen“; 3.) In der Genese einer sozialen Ethik in der Wissenschaft und in einer Tendenz zu „ökologischer Sesshaftigkeit“seien Prinzipien einer „planetarischen Solidarität“zunehmend erkennbar; 4.) Auszumachen sei das Erstarken einer „subversiv-konstruktiven Macht der Kultur, die eine „defizient gewordene Neuzeit“unterminiert und so „die Wege ins Solarzeitalter öffnet, fördert und begleitet“; 5.) Wachsende Umweltaktivitäten in vielen Ländern, die von vielen Pionieren getragen werden, würden schließlich die Zuversicht, nach Bütow die „alltagstaugliche Dauerform der Euphorie“, stärken [Vgl. S. 519ff.]
Wie uns der Autor berichtete, wurde der Titel von den Initiatoren der Ausstellung „Willkommen im Anthropozän“(am Deutschen Museum in München noch zu sehen bis Jänner 2016) mit Wohlwollen und Interesse aufgenommen. Das ist nachvollziehbar. Bleibt zu wünschen, dass die hier zum Ausdruck gebrachten Erwartungen sich als substanziell und tatsächlich zukunftsprägend erweisen. W. Sp.
Zeitgeistwandel
80 Bütow, Friedhelm: Zeitgeistwandel: vom Aufbruch der Neuzeit zum Aufbruch ins planetarische Zeitalter oder Von der Flächenorientierung zur Raumperspektive. Essays. Norderstedt: Books on Demand, 2014. 594 S., € 41,20 [D], 42,40 [A]
ISBN 978-3-734-74107-4
Neustart
„Die Welt, wie wir sie kennen, existiert nicht mehr.“Mit diesem Satz beginnt ein „Leitfaden für Überlebende“, in dem wir erfahren, wie sich der Wiederaufbau einer technologisch hochentwickelten Gesellschaft organisieren lässt, nachdem die gesamte Infrastruktur zusammengebrochen ist. Dann, wenn jene Dinge, die wir als selbstverständlich betrachten, nicht mehr funktionieren, wird das Grundlagenwissen entscheidend. Das schwerwiegendste Problem dabei ist, so der Astrobiologe und für die britische Raumfahrtagentur tätige Lewis Dartnell, „dass das menschliche Wissen kollektiv ist“und eben kein einzelner Mensch genug weiß, „um die lebenserhaltenden Prozesse der Gesellschaft am Laufen zu halten“(S. 16). Für ihn ist klar, dass eine Zivilisation, die von neuem beginnen müsse, nicht die Möglichkeit haben würde, unsere ursprünglich gewundenen Pfade des naturwissenschaftlichen und technischen Fortschritts nachzuvollziehen. Nachdem heute der größte Teil der fossilen Brennstoffquellen weitgehend erschöpft ist, wären wir gezwungen, eine nachhaltige Entwicklung einzuschlagen. Dies bedeutet also einen ökologischen Neustart oder wie der Autor es nennt ein „grünes Rebooten“.
Dabei geht es zunächst um die elementaren Grundlagen und um die Frage, wie sich die Menschen nach der Katastrophe aus eigener Kraft die Grundlagen eines akzeptablen Lebens verschaffen können. Es gilt, aus den Hinterlassenschaften der untergegangenen Zivilisation die besten Bauteile zu finden und sich Werkstoffe zu verschaffen. Nachdem die Voraussetzungen für das weitere Überleben organisiert sind, müsse die Landwirtschaft wieder aufgebaut, Vorräte an Nahrungsmitteln angelegt sowie pflanzliche und tierische Fasern zu Kleidung weiterverarbeitet werden.
Auf der Prioritätenliste ganz oben steht der Schutz vor Naturgewalten, die Errichtung einer Unterkunft und die Beschaffung von sauberem Trinkwasser. Der Hinweis, dass ein Teelöffel Calciumhypochlorit ausreicht, um 760 Liter Wasser zu desinfizieren, mag stellvertretend für die vielen detaillierten praktischen Tipps stehen. (Man erfährt etwa auch, wie Seife, Papier und eine Druckerpresse, Tinte oder Glas herzustellen sind.) Bei den Nahrungsmitteln ist davon auszugehen, dass ein mittelgroßer Supermarkt den Nährstoffbedarf für etwa 55 Jahre decken würde - „63 Jahre, wenn Sie auch den Inhalt der Katzen- und Hundefutterbüchsen verzehren“(S. 53). Obwohl einiges dafür spräche, in den Städten zu bleiben, wäre es leichter, den Städten ein für alle Mal den Rücken zu kehren und in eine ländliche Gegend mit fruchtbarem Ackerland und älteren Gebäuden zu ziehen, so Dartnell.
Das Buch kann logischerweise nur einen flüchtigen Blick auf den gigantischen Wissens- und Technikfundus unserer Zeit vermitteln. Aber vielleicht ist es ja im Fall der Fälle das wichtigste Buch, das je geschrieben wurde. Was mit unseren technischen Errungenschaften geschähe, und wie lange Flora und Fauna bräuchten, um sich zu erholen, wenn die Menschheit von einem Moment auf den anderen aufhört zu existieren, zeigt eindrucksvoll die Dokufiktion-serie „Zukunft ohne Menschen“(„Life After People“), nachzusehen auf youtube. A. A.
Wissensfundus
81 Dartnell, Lewis: Das Handbuch für den Neustart der Welt. Alles, was man wissen muss, wenn nichts mehr geht. Berlin: Hanser, 2014. 367 S.,
€ 21,90 [D], 22,60 [A]
ISBN 978-3-446-24648-5