Politische Theorie Freiheit für das Ich
Vier neue Bücher ranken sich um die
Frage des Ich und seiner Selbstbestimmung. Einer davon, John Gray, verneint grundsätzlich, dass die Moderne Fortschritt gebracht habe, hält die Menschen für Raubtiere, Fortschrittsversprechen für Mythen und sieht den Ausweg für den
Einzelnen im Ausstieg. Stefan Wally stellt zentrale Thesen vor.
Vier neue Bücher ranken sich um die Frage des Ich und seiner Selbstbestimmung. Michael Plauen und Harald Welzer sehen die Autonomie des Ich in Gefahr. Jean-claude Michéa würde zustimmen. Der französische Liberale feiert die zentrale Stellung des Individuums in der Moderne. Und er warnt, dass man dem Individuum sowohl kulturelle als auch wirtschaftliche Freiheit geben müsse, wenn man Tyrannei verhindern wolle. Diesen Autoren gegenüber steht John Gray: Er verneint grundsätzlich, dass die Moderne Fortschritt gebracht hat. Ganz im Gegenteil: Er hält die Menschen für Raubtiere, Fortschrittsversprechen für Mythen und sieht den Ausweg für den Einzelnen nur im – nicht einmal zielgerichteten – Ausstieg. Ähnliche philosophische Fragen werden von den Neue Realisten vertieft: Sie versuchen die postmoderne Dekonstruktion der Realität zu stoppen, uns etwas zum Anhalten zu bieten. Sie finden es nicht außerhalb unseres Lebens, sondern in unserer Art, über die Realität zu sprechen. Stefan Wally versucht, die wichtigsten Ideen der Bücher zu vermitteln.
Autonomie verteidigen
Es sind Beispiele, die viele schon kennen. Warum haben sich beim Polizeibataillon 101 so viele Männer an Erschießungen beteiligt, obwohl es ihnen freigestellt war, daran nicht teilzunehmen? Das Reservepolizeibataillon 101 hatte im Zweiten Weltkrieg „ordnungspolitische Aufgaben“. Hundertausende jüdische Männer, Frauen und Kinder wurden ermordet. Nur 12 von 488 beteiligten sich nicht an den Erschießungen.
Michael Plauen und Harald Welzer fragen in ihrem Buch „Autonomie. Eine Verteidigung“, warum diese hohe Beteiligung an den Morden zustande kam. Nationalsozialistische Denkmuster waren nicht ausschlaggebend, auch Nicht-nationalsozialisten hatten sich überdurchschnittlich beteiligt. Die zwölf, die sich nicht beteiligten, erfuhren tatsächlich keine negativen Konsequenzen. Plauen und Welzer spüren nach und rücken den Begriff des „Referenzrahmens“in den Mittelpunkt. „Unter den Normalbedingungen des zivilen Alltags bilden Gewalttäter und Mörder eine verschwindend kleine Minderheit. Die Mehrheit verhält sich im Referenzrahmen des zivilen Alltags konform, also friedlich und gewaltabstinent. Unter den Bedingungen von Krieg und Gewaltherrschaft verschiebt sich der Referenzrahmen – hier wird Gewalthandeln unter Gruppenbedingungen zum konformen Verhalten, die Weigerung zu töten wird zum abweichenden Verhalten.“(S. 132). Damit und anhand vieler anderer Beispiele wollen Plauen und Welzer zeigen, wie wichtig die Fähigkeit der Menschen ist, sich unabhängig von einem Referenzrahmen zu behaupten. Autonomie ist die Fähigkeit, unabhängige Werte zu setzen und vor allem, sie gegen Widerstände durchzusetzen. Leider sei diese Autonomie in unserer Zeit unter Druck. Und zwar von vielen Seiten. Da wäre der externe Konformitätsdruck, der uns Dinge tun lässt, die sicher nicht auf unserem eigenen Mist gewachsen sind. Aber Autonomie wird auch in
Frage gestellt, wenn eine Person gar keine Wünsche und Überzeugungen mehr hat. Und der Mensch wird „auswirkungslos“, wenn er nicht imstande ist, Widerstände zu überwinden.
Die Autoren grenzen Autonomie auch von Willensfreiheit ab. Freiheit ist für sie eine Eigenschaft von einzelnen Handlungen, Autonomie eine Eigenschaft von Personen. Autonome Menschen leben nicht nur ihr eigenes Leben, sie heben auch die Qualität von Gruppenentscheidungen. Experimente zeigten, dass Konformitätsdruck die Fehlererkennung massiv erschwert. Wenn bei einer Abfrage nach einer mathematischen Lösung die ersten vier Personen vorsätzlich eine falsche Antwort geben, ist es wahrscheinlich, dass auch die weiteren wider eigene Annahmen, die falsche Antwort wiederholen.
Das Buch schließt mit Vorschlägen, wie man seine eigene Autonomie verteidigen kann. Nummer elf lautet: Demokratie bedarf der ständigen Übung in Autonomie. Unabhängigkeit
75 Plauen, Michael; Welzer, Harald: Autonomie. Eine Verteidigung. Frankfurt: S. Fischer, 2015.
422 S., € 19,99 [D], 20,60 [A]
ISBN 978-3-10-002250-9
Zwei Freiheiten?
Jean-claude Michéa ist ein Vordenker des Liberalismus. Dabei liegt ihm vor allem ein Argument am Herzen. Das Eintreten für individuelle Freiheit sei nicht vom Eintreten für wirtschaftliche Freiheit zu trennen. Um das Argument zu untermauern, zieht Michéa wichtige Werke der liberalen Ideengeschichte heran und skizziert, wie wirtschaftliche Freiheit immer auch als Voraussetzung für bürgerliche Freiheiten diente.
Eine entscheidende Wurzel des Liberalismus seien die Konsequenzen einer veränderten Kriegsführung gewesen. Die Erfindung bis dahin unbekannter Waffen und die entsprechenden taktischen
oder strategischen Errungenschaften verliehen den gewalttätigen Auseinandersetzungen im 16. und 17. Jahrhundert einen weitaus mörderischeren und zerstörerischen Charakter als zuvor. Auch ideologisch wurde der Krieg nun anders begründet, so Michéa, nämlich als Bürgerkrieg mit seiner damaligen Hauptform, des Religionskrieges. Bürgerkriege führen zu Zerrüttungen und Spannungen in Gesellschaften im Unterschied zu Kriegen zwischen Territorialgebilden, wodurch Gesellschaften angesichts eines gemeinsamen Feindes teilweise zusammengeschweißt würden, meint Michéa. Er formuliert es so: Die Spaltungen der Gesellschaft bringen Nachbarn und Verwandte gegeneinander auf, es drohen die auf dem „Kreislauf von Gabe und Gegengabe bestehenden reziproken Verantwortlichkeiten und traditionellen Treueverhältnisse“zu brechen (S. 25). Es verwundert nicht, dass Angst vor dem gewaltsamen Tod, Argwohn gegenüber den Angehörigen, Ablehnung sämtlicher ideologischer Fanatismen und Verlangen nach einem endlich ruhigen Leben, sowie danach, den Krieg hinter sich zu lassen, wichtiger werden. Michéa meint, dass das Fortschrittsideal der Moderne deswegen auch nicht als Anstreben einer Utopie verstanden werden sollte, sondern als eine Wegbewegung vom Krieg. (S. 28)
Michéa kontrastiert Werthaltungen: Das eigene Leben zu opfern sei die höchste Tugend traditioneller Gesellschaften gewesen. Die Moderne setzt ganz andere Prioritäten: Die Rechte des individuellen Menschen, seine Unversehrtheit, seine Freiheit und seine physische Integrität rücken ins Zentrum. Michéa konkretisiert mit Benjamin Constant, der ihn in seiner Argumentation an vielen Stellen begleitet: „Das Ziel der Modernen ist die Sicherheit in den privaten Genüsse, und Freiheit nennen sie den gesetzlichen Schutz dieser Genüsse.“(S. 29)
Als Ursachen der Kriege werden Ruhmsucht der Großen und der Anspruch der Menschen, im Besitz der Wahrheit über das Gute zu sein, genannt. Diesen Ansprüchen stelle sich der Liberalismus entgegen. Der Staat müsse philosophisch neutral sein. Und er dürfe den Individuen keine bestimmte Auffassung vom guten Leben aufzwingen. Nach Ansicht der Liberalen sei also der Staat der gerechteste, „der nicht denkt“(S. 35).
Wie aber sorgt der Staat, der alle neutral behandelt, dafür, dass die Gesellschaft, in der er wirkt, auch gerecht ist? Wie kann dann eine unanständige Verteilung von Reichtum, Chancen und Genuss verhindert werden? Michéa zitiert hier Frédéric Bastiat, der diese sozialistische Frage an den Liberalismus zu beantworten versuchte. Er bestritt nicht die Ungerechtigkeit. Er trat für die Reduzierung der Ungleichheit ein. Er argumentierte aber, dass die Einführung von staatlichen Pflichten jede Brüderlichkeit/solidarität vereitele, indem sie in der Gesetzgebung Pflichten verankern wolle, die sich die Individuen ausschließlich selbst auferlegen können. Werden diese Pflichten durchgesetzt, würde dies unweigerlich zu Schreckensherrschaft und allgemeinem Elend führen. (S. 45)
Wie aber ist anzunehmen, dass eine Gesellschaft von sich aus diese Gerechtigkeit herstellen kann? Michéa macht nun das, was man von Wirtschaftsliberalen erwartet. Er vertraut Adam Smiths „unsichtbarer Hand“. Die Befreiung der Möglichkeiten für den wirtschaftlichen Handel werde zu einer gerechten Verteilung führen. Michéa zitiert Meric Crucés Aussage von 1623: „Kein Beruf ist so von Nutzen, wie der des Kaufmannes, der auf Kosten seiner Arbeit, und oft unter Lebensgefahr rechtmäßig seine Mittel mehrt, ohne einen anderen zu schädigen oder zu beleidigen: darin ist er lobenswerter als der Soldat, dessen Vorankommen lediglich von den sterblichen Überresten und Ruinen eines anderen abhängt.“(S. 51).
Die zitierten Kernideen Michéas werden in dem Aufsatz „Die Einheit des Liberalismus“zusammengefaßt, der am Beginn des Buches zu finden ist. Insgesamt werden in dem Band sieben Texte Michéas zugänglich gemacht. In deutscher Sprache liegt damit eine Interpretation des politischen und wirtschaftlichen Liberalismus vor, die diesen interessant und nachvollziehbar als Antikriegs-denken der frühen Neuzeit präsentiert. Wenig Neues hingegen findet man bei den Argumenten, wie Gerechtigkeit hergestellt werden kann, ohne Schreckensherrschaften zu errichten. Nach Adam Smith hat sich hier noch mehr getan, als bei Michéa zu lesen ist. Liberalismus
76 Michéa, Jean-claude: Das Reich des kleineren Mannes. Über die liberale Gesellschaft. Berlin: Matthes und Seitz, 2014. 191 S., € 19,90 [D], 20,50 [A] ISBN 978-3-95757-015-4
Raubtier Mensch
John Gray zu lesen ist nichts für Jedermann. Nicht, dass er unverständlich schreiben würde. Nicht, dass die Argumente nicht ergiebig wären. Man sollte aber gute Nerven haben, wenn die Argumente Grays auf das Weltbild der Leserin oder des Lesers prasseln. Nur wenn Sie ein Weltbild haben, bei dem der Pessimismus bereits im Mittelpunkt steht, werden Sie sich bestätigt finden.
Teilt man zwar Grays Pessimismus nicht, hat aber starke Nerven, wird man mit Gedanken belohnt, die viele Anstöße geben. Gray wird nicht viele
Menschen von seiner Weltsicht überzeugen. Die Argumente sind eher unstrukturiert vorgebracht, sie bauen wenig aufeinander auf; wer Fakten und Zahlen benötigt, um überzeugt zu werden, wird sie bei Gray nicht finden. Aber trotzdem: das Buch bleibt im Gedächtnis.
Was ist also Grays Pessimismus? Zuerst skizziert er, wie Fortschrittsglauben immer wieder in die Tyrannei und die Unvernunft führte. Keine der großen Traditionen der Moderne wird bei der Kritik ausgenommen. Fortschritt sei eine Illusion. Gray bestreitet auch die menschliche Einzigartigkeit. Diese Idee sei „ein Mythos, der aus der Religion stammt und den die Humanisten in Wissenschaft umgewandelt haben“(S. 77). Dann rückt der Autor den Begriff des Mythos in den Mittelpunkt: „Dass die Humanisten dem Mythos feindselig gegenüberstehen, ist bezeichnend, denn wenn es irgendetwas gibt, das dem Menschen eigen ist, dann ist es die Mythenbildung. Jede menschliche Kultur wird in gewisser Weise von einem Mythos belebt, und kein anderes Lebewesen hat etwas Vergleichbares hervorgebracht.“(S. 77) Menschen stehen nicht vor der Wahl zwischen Mythos und Vernunft, sondern nur zwischen Mythen. (S. 79) Gray beschreibt dann mythische Erfahrungen in der Literatur, versucht damit deutlicher zu machen, was er meint. Da wäre zum Beispiel das Leben des britischen Schriftstellers Llewelyn Powys, der Ende des 19. Jahrhunderts geboren wurde. Im Alter von 25 Jahren erfuhr dieser, dass er Lungentuberkulose hat. Die Auseinandersetzung mit der Krankheit, der eigenen Sterblichkeit und Erfahrungen während seiner Behandlung führten ihn zuerst zu einer Abkehr von der Religion. Aber sie führten auch zur Abkehr vom Vertrauen in eine sittliche Ordnung. Gray lässt Powys zu Wort kommen: „Als dogmatische Nihilisten, grundlegend skeptisch gegenüber allem Guten, sind wir wie schiffbrüchige Seeleute uns selbst überlassen. Wir haben kein Gefühl für die Richtung und räumen bereitwillig ein, dass jenseits der Grenze unseres kurzen Augenblicks alles verloren ist.“(S. 169) Powys widmete sich in der Folge sein Leben lang einem Teich. Er saß dort und hörte. Er war sich sicher, er werde hier etwas Besonderes erleben. Eines Tages kam ein Hase zu dem Teich. Powy konnte hören, wie es klang, als der Hase aus dem Teich trank. Er wusste, darauf hatte er sein Leben lang gewartet. Für Gray ist das weit klüger, als an die Vernunft zu glauben. Ohne Gott, ohne Vernunft, ohne Fortschritt, weniger Raubtier Mensch: „Gottlose Kontemplation ist (…) ein vorübergehendes
Heraustreten aus einer allzu menschlichen Welt, ohne ein bestimmtes Ziel zu verfolgen.“(S. 194)
Fortschrittsglauben
77 Gray, John: Raubtier Mensch. Die Illusion des Fortschritts. Stuttgart: Klett-cotta, 2015. 205 S.
422 S., € 19,95 [D], 19,95 [A]
ISBN 978-3-608-94884-4
Eine neuer Realismus
Jetzt hat der renommierte Suhrkamp-verlag die junge philosophische Strömung des „Neuen Realismus“aufgegriffen und bietet mit einem Band, herausgegeben von Markus Gabriel, einen Einblick in die sich formierende Denkrichtung. Auf mehr als 400 Seiten sind wichtige Texte von 17 Autorinnen und Autoren versammelt.
Der „Alte Realismus“habe danach gefragt, wie man sicherstellen kann, dass es außerhalb des Denkens, des Geistes, der Sprache oder unserer sozial konstruierten diskursiven Praktiken überhaupt noch etwas gibt, worauf diese sich erfolgreich richten können. Er versuchte zu belegen, dass es diese unabhängige „Realität“gibt.
Wofür aber steht der „Neue Realismus“? Den Beiträgen in dem Band sei eine Ansicht gemein, schreibt der Herausgeber: „Unser Erkenntnisvermögen und die mit diesem verbundene Begriffe und Fähigkeiten müssen ebenso real oder wirklich sein wie diejenigen Gegenstände und Tatsachen, die man gemeinhin der ‘Wirklichkeit’, der ‘Welt’, der ‘Natur’ oder der ‘Realität’ zuordnet.“(S.8) Unsere diskursiven Praktiken weisen auf diese Realität. Stellen wir uns vor, wir bestreiten, dass ein bestimmtes Erkenntnisvermögen imstande ist, seine eigenen Erfolgs- oder Rahmenbedingungen einzulösen. Dann müssen wir das begründen. Dieses Begründen bedeutet aber, dass man sich darauf verlassen müsse, dass es ein Erkenntnisvermögen geben muss, das uns Aufschluss gibt (S. 9). „Ein skeptischer globaler Zweifel an der Vernunft ist prinzipiell zum Scheitern verurteilt, weil er nur dann eine philosophische Position darstellen kann, wenn er sich seinerseits auf eine Wirklichkeit verlässt, die dem Skeptizismus gleichsam im Rücken liegt“(S. 9) Damit hat der „Neue Realismus“nicht bewiesen, dass es diese Ausgabe von „prozukunft“gibt, die vor Ihnen liegt oder den PC, auf dem sie den Artikel lesen. Er beweist nicht die Natur, er beweist aber, dass es etwas Reales geben müsse. Und man findet es in unserem Erkenntnisvermögen. Bei Maurizio Ferrari, einem der Vordenker der Bewegung, sind dies „vorbegriffliche Strukturen, … die man nur verzerrend
für begriffliche Konstruktionen oder für transzendental konstituiert halten könne“(S. 11). Ferrari bringt ein starkes Argument vor, bei dem es um „soziale Gegenstände“geht und führt es gegen das Denken, dass nur das Ich existiert (Solipsismus) ins Feld. Unter einem „sozialen Gegenstand“versteht er eine eingeschriebene Handlung (Gegenstand), die Ergebnis einer Handlung von mehr als einer Person ist. Beispiele sind „Schulden“, aber auch „Firma“usw. Es gebe „eine enorme Kategorie der sozialen Gegenstände. Eher als eine Welt darzustellen, die dem Subjekt zur totalen Verfügung steht, offenbart sich in der Sphäre der sozialen Gegenstände die Inkonsistenz des Solipsismus: Dass es auf der Welt außer uns auch nach andere gibt, ist eben durch die Existenz dieser Gegenstände bewiesen, die keinen Grund hätten, in einer Welt zu sein, in der es nur ein einzelnes Subjekt gäbe“(S. 75).
Neuer Realismus
78 Der Neue Realismus. Hrsg. v. Markus Gabriel Berlin: Suhrkamp, 2015. 2. Aufl. (stw wissenschaft; 2099) 422 S., € 18,- [D], 18,50 [A]
ISBN 978-3-518-29699-8