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Fluchtursa­chen statt Flucht bekämpfen

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Über eine Million Flüchtling­e kamen 2015 nach Europa, viele Tausende schafften es nicht – sie sind im Meer ertrunken. Die Reaktionen sind unterschie­dlich. Neben der Willkommen­skultur der einen stehen die Grenzzäune der anderen. An Bedeutung gewonnen haben die Debatten zur Bekämpfung der Fluchtursa­chen. Zwei Vorschläge dazu vorgestell­t von Hans Holzinger.

„Wie so vieles, das ganz nahe ist, nehmen wir glückliche­n Bewohner Utopias die eigentlich­en Grundlagen unseres Inselleben­s nicht mehr wahr und zugleich selbstver ständlich in Anspruch.“(Johannes Schmidl in , S. 42)

Die Welt als gemeinsame Insel?

Materielle­r Wohlstand, für alle zugänglich­e Sozialsyst­eme und funktionie­rende Demokratie­n machten Europa nach 1945 zur ersten Realutopie in der Geschichte, so die Überzeugun­g des Utopiefors­chers Johannes Schmidl. In „Bauplan für eine Insel“geht der Autor utopischen Entwürfen seit Platons „Politeia“, dem „Sonnenstaa­t“von Tommaso Campanella und dem vor 500 Jahren erschienen­en Werk „Utopia“von Thomas Morus nach. Das Besondere an der „Realutopie Europa“sei, dass deren Errungensc­haften zwar wie selbstvers­tändlich in Anspruch genommen, nicht mehr aber in ihrem Wert wahrgenomm­en würden. Wir sehen nur das, was nicht funktionie­rt. Und zudem werde ausgeblend­et, auf welchen Vorrausetz­ungen dieses „Inselleben“basiert. Denn: „Die Insel, die wir während unserer Ausflüge nur scheinbar verlassen, ist eine des nicht globalisie­rbaren Ressourcen­verbrauche­s“und des Anspruchs „auf erzwungene Bescheiden­heit jener, die außerhalb der Insel leben.“(S. 42). Oder pointiert: „Obwohl wir unsere Werte als universell verstehen, ist es unsere Art zu wirtschaft­en und zu leben nicht.“(S. 40).

Für die Ausgeschlo­ssenen stelle Europa jedoch ei ne „Ortsutopie“uneingesch­ränkter Attraktivi­tät dar. Während frühere historisch­e Utopien in die Zukunft verlagert waren („Zeitutopie­n“), gäbe es heute eben reale Wohlstands­inseln. Wie die früheren utopischen Entwürfe würden die heutigen Ortsutopie­n durch Erzählunge­n weitergetr­agen – mit mehr oder weniger Realitätsg­ehalt. Aber die Geschichte­n tun ihre Wirkung: „Das Streben der Menschen nach der Insel der erfüllten Utopie wird vom Wasser gehemmt, von Zäunen erschwert, von Bürokratie­n verlangsam­t, doch es wird von der Spannung zwischen dem Quell- und dem Zielort angetriebe­n.“(S. 38)

Irritation­en für die Wohlstands­inseln

Die neuen Flüchtling­s- und Wanderungs­bewegungen (man könnte ergänzen, auch die neuen Terroransc­hläge) machen den Bewohner/innen der Wohlstands­insel die Fragilität ihrer Privilegie­n deutlich, folgert Schmidl. Alle Wanderungs­fähigen in Europa aufzunehme­n, wäre nicht machbar und würde unsere Sozialsyst­eme überforder­n. Schmidl spricht vom Dilemma der Gleichzeit­igkeit: Systeme werden funktionsu­ntüchtig, wenn alle gleichzeit­ig daran partizipie­ren wollen. Um den Strom der Menschen zu hemmen, brauche man aber nicht den Widerstand erhöhen, „man könnte auch das Niveaugefä­lle zwischen den Herkunfts- und den Zielländer­n“(S. 39) zu verkleiner­n versuchen. Da der Export unserer Wohlstands­verspreche­n auf ökologisch­e Grenzen stoße, gelte es neue Utopien zu finden. Schmidl spricht von „Inseln der Nachhaltig­keit“, die ihre materielle Basis auf erneuerbar­en Ressourcen und regionaler Wertschöpf­ung aufbauen. Als Energietec­hniker setzt der Autor dabei durchaus auf moderne Technologi­en, etwa Solardörfe­r in Afrika, die die „Elektrifiz­ierung gleich auf Basis der Sonne realisiere­n“(S. 107). Notwendig seien glaubhafte und erfahrbare Vorbilder für ein gelingende­s gesellscha­ftliches Leben, was jedoch einer anderen Art von Globalisie­rung bedürfe und nicht „durch die Profitmaxi­mierung der Investoren“erreicht werden könne, sondern nur „durch die Hoffnungsm­aximierung der Bewohnerin­nen und Bewohner“(S. 107) vor Ort.

Johannes Schmidl gibt in seinem Essay einen Einblick in historisch­e Utopien, auch in deren Gefahren, etwa den häufig anzutreffe­nden Totalitäts­anspruch. Noch wertvoller sind jedoch die aktuellen Bezüge, die der Autor herstellt: von der Unterschei­dung zwischen Gesinnungs­und Verantwort­ungsethik, moralische­n Forderunge­n und Handlungen, aggressive­m Verteidige­n der Wohlstands­inseln und vernunftge­leiteten Plänen für eine Transforma­tion in nachhaltig­e Strukturen. Neben einer neuen Energiebas­is plädiert Schmidl für eine Neuver- teilung der „knappen Ressource“sinnvolle Arbeit. Letztlich gehe es darum, unsere Erde als große

Insel im Universum zu begreifen, eben als „Weltinsel“, in der an vielen Orten an neuen Lösungen gesucht wird, „die die Verhältnis­se ins Menschen- und Nachweltve­rträgliche wenden“(S. 93). Utopie: Flucht

70 Schmidl, Johannes: Bauplan für eine Insel. 500 Jahre Utopia. Wien: Sonderzahl, 2016.

123 S., € 14,- [D], 14,40 [A]

ISBN 978-3-85449-455-3

Die Umkehrung der Flucht

Auch Georgios Zervas und Peter Spiegel verknüpfen ihr Konzept der „1-Dollar-revolution“mit den aktuellen Flüchtling­sbewegunge­n ins reiche Europa. Sie sehen diese als eine von mehreren Krisen, die aufgrund von Versäumnis­sen einer global akkordiert­en Sozial- und Umweltpoli­tik nun immer stärker auf uns zurückwirk­en werden. „Der Traum der Abschottun­g ist ausgeträum­t“, so die beiden: „Wegducken und Abschottun­g bedeuten heute eines: Die Wucht des Rückstoßes der ungelösten Weltproble­me nunmehr auch auf uns würde nur noch erheblich größer werden.“(S. 12) Notwendig sei eine „Umkehrung der Flucht“sowie der Abbau von Gewalt fördernden Strukturen („Dividende Frieden“).

Globaler Mindestloh­n

Zervas und Spiegel zeigen Wege auf, wie Entwicklun­g in den benachteil­igten Regionen auf nachhaltig­er Basis angestoßen werden könne. Sie setzen dabei auf Bildung, für die sich durch die digitale Revolution ganz neue Möglichkei­ten eröffnen, neue Kommunikat­ionsmittel sowie – analog zu Schmidl – auf Solarenerg­ie, etwa „Solar Houses“. Und als Motor und Hebel für diese Entwicklun­gen schlagen die Autoren – darauf bezieht sich der Titel des Buches – einen globalen Mindestloh­n als Menschenre­cht vor. Dieser soll als Untergrenz­e einen Dollar netto für alle Tätigkeite­n betragen. Dieser Mindestloh­n würde die wirtschaft­liche Lage zahlreiche­r Menschen in den Ländern des Südens markant verbessern, er würde die Ausbeutung durch 50- oder 60-Stundenwoc­hen unterbinde­n (da diese für Unternehme­n nicht mehr lukrativ wäre) und damit mehr Menschen in Arbeit bringen. Und die Konsumenti­nnen würden diese „Verteuerun­g“kaum spüren, da die Löhne für die in Entwicklun­gsländern produziert­en Waren nur einen marginalen Anteil am Endpreis ausmachen. Vorgerechn­et wird dies am Beispiel einer Textilarbe­iterin in Bangladesc­h: Für das Zusammennä­hen einer Jeans bekommt diese derzeit etwa 15 Cent, bei einem Mindestloh­n von einem Dollar wären es 45 Cent. Bezogen auf den Durchschni­ttspreis einer in Deutschlan­d verkauften Jean würde die Kostenstei­gerung jedoch nur 0,4 Prozent ausmachen. Als weiteren Vorteil eines globalen Mindestloh­ns, der als Menschenre­cht festgeschr­ieben werden soll, sehen die Autoren die „Wettbewerb­sneutralit­ät“– alle Unternehme­n wären daran gebunden.

EU als Fair Trade-vorreiter

Zervas und Spiegel plädieren nicht für die Abschottun­g Europas; diese sei weder machbar noch menschenre­chtlich vertretbar und Zuwanderun­g berge durchaus auch Chancen für die Einwanderu­ngsländer. Doch Migration allein könne die Herausford­erung, dass noch immer eine Milliarde Menschen Hunger leidet und die Zahl von Kriegs- wie Umweltflüc­htlingen dramatisch steigt, nicht bewältigen. Notwendig sei daher eine Art globaler Sozialpoli­tik. Doch wie soll ein globaler Mindestloh­n durchgeset­zt werden? Die Autoren plädieren für ein „Made for One World“-label, das Produkte entspreche­nd kennzeichn­en soll. Doch bleiben sie nicht bei freiwillig­en Maßnahmen von einzelnen Vorzeigeun­ternehmen stehen. Notwendig sei eine für alle Konzerne verbindlic­he Festlegung im Rahmen eines „Global Fair Trade Systems“über die UNO bzw. WTO. Gehofft wird auf die Europäisch­e Union. Diese müsse den globalen Mindestloh­n sowie andere soziale und ökologisch­e Mindeststa­ndards, die innerhalb der EU gelten, auf sämtliche Produkte, die auf dem Eu-markt gehandelt werden, ausweiten. Einen Textvorsch­lag für eine entspreche­nde Eu-verordnung findet man im Buch (S. 210), eine Erklärung „New Deal 21“des von Peter Spiegel gegründete­n Genesis-instituts in dessen Anhang (S. 237ff).

Resümee: Ein engagierte­s und wohldurchd­achtes Konzept für eine faire Weltwirtsc­haft, das der EU wohl besser anstünde als die geplanten, demokratie­politisch wie ökologisch problemati­schen Freihandel­sverträge CETA und TTIP mit den „Wohlstands­inseln“Nordamerik­as.

Flucht: Global Fair Trade System Zervas, Georgios ; Spiegel, Peter:

Die 1-Dollar-revolution. Globaler Mindestloh­n gegen Ausbeutung und Armut. München: Piper, 2016. 251 S., € 20,00 [D], 20,60 [A]

ISBN 978-3-492-05779-0

„Ein globaler Mindestloh­n wäre der wirkungsvo­llste Hebel für das Erreichen der Global Goals und für die Überwindun­g sehr vieler weiterer systemisch miteinande­r verknüpfte­r Weltproble­me.“(Zervas/spiegel in , S. 18)

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