Verunsicherte Gesellschaften
Gesellschaft der Angst
„Man kann die Veränderung so auf den Punkt bringen, dass wir heute einen Wechsel im gesellschaftlichen Integrationsmodus vom Aufstiegsversprechen zur Exklusionsdrohung erleben.“Da mit beschreibt Heinz Bude, was er unter „Gesellschaft der Angst“versteht (S. 19). Die permanente „Kündigungsdrohung“im privaten wie im wirtschaftlichen Leben setze immer mehr Menschen unter Druck. In den Familien werde die „Sehnsucht nach einer unkündbaren Beziehung“(S. 28) zunehmend auf die Kinder verschoben – mit problematischen Folgen. In der Schule gelte die „Einübung von Leistungsmotivation als Voraussetzung für Erfolgstüchtigkeit“(S. 43): „Die Heranwachsenden sollen lernen, sich einzubringen, auszudrücken und insgesamt eine gute Figur zu machen.“(ebd.) In der Wirtschaft führe die Globalisierung zu einer immer stärkeren Spaltung in die Facharbeiterinnen der „exportorientierten Hochproduktivitätsökonomie“(S. 62) und den Verliererbranchen. Die „vulnerablen Karrieren“(S. 69) würden auch im Mittelstand zunehmen, insbesondere auch bei den vielen Kleinunternehmerinnen, so ein weiterer Befund von Bude, der von „Statuspanik in der gesellschaftlichen Mitte“(S. 60) spricht. Ein Viertel aller 4,4 Millionen Selbstständigen in Deutschland soll Stundenlöhne von weniger als 8,50 Euro haben (Sozioökonomisches Panel 2014, zit. S. 70).
Verschiebung der Ängste auf Flüchtlinge
Die Ideologie der „Leistungsindividualisten“(S. 73) stelle die „individuelle Vorteilsgewinnung über die kollektive Kooperationsverpflichtung“(ebd.), was selbst in Lohnverhandlungen bemerkbar sei. Nun verschiebe sich die Angst auf jene, die als Flüchtlinge zu uns kommen, folgert Bude. Während die sogenannten Gastarbeiter trotz Konflikten in die Gesellschaft sowie den Sozialstaat integriert werden konnten, habe sich seit der Öffnung des Eisernen Vorhangs, mit der Erweiterung der EU und mit den Flüchtlingsrouten über das Mittelmeer der öffentliche Diskurs gewandelt. Das Bild einer „Festung Europa“, die vor „Eindringlichen“zu schützen sei, gewann Oberhand (S. 137). Eine weitere Zäsur ortet Bude in „9/11“. Terrorangst vermischte sich mit Islamophobie. Die Angst verbreitete sich mit den Medienbildern dieses und weiterer Anschläge. Der Autor spricht nun von einer doppelten Angst. Nicht-muslime hätten Angst vor den Muslimen und diese vor den Nicht-muslimen, befördert von Brandanschlägen auf Asylheime oder der Mordserie der NSU an zugewanderten Kleinunternehmen in den Jahren von 2000 bis 2006. Was schlägt Bude vor? Es gehe nicht darum, beiden Seiten ihre Angst zu verbieten. Vielleicht würde aber im Zulassen erkennbar, „dass die Angst ums Eigene sofort die Angst der Anderen provoziert“(S. 143). Und zudem gelte es, den öffentlichen Diskurs zu verändern. Dazu gehöre zuallererst, „dass Migranten nicht mehr als Migranten wahrgenommen werden wollen“(S. 142), sondern als Mitbürger eines Staates, Stadtteils oder Betriebs. Bildung könne Ängste ebenso mindern wie Humor, so Bude abschließend, letztlich gehe es aber um gesellschaftliche Bedingungen, die allen Menschen ein Leben in Zuversicht ermöglichen.
Gesellschaft: Angst 72 Bude, Heinz: Gesellschaft der Angst.
Hamburg: Hamburger Edition, 2014. 167 S.,
€ 16,- [D], 16,50 [A] ; ISBN 978-3-86854-284-4
Die enthemmte Mitte
Seit 2002 werden an der Universität Leipzig sogenannte „Mitte“-studien durchgeführt. Sie wollen für die politische Diskussion und Bildungsarbeit eine Langzeitbeobachtung über die Befindlichkeiten der deutschen Mittelschicht zur Verfügung stellen. Die Erhebungen für die Studie 2016 fanden in einer Zeit zunehmender rechtspopulistischer Bewegungen statt. Die Ergebnisse förderten, so die Autoren, jedoch einen überraschenden Befund zutage: die Steigerung von Vorurteilen, die Rechtsextremismus charakterisieren, fällt nur gering aus. Sie verschiebt sich von Migrantinnen allgemein hin auf Asylwerberinnen, Muslime sowie Roma und Sinti. Das Besondere sei aber, dass rechte Einstellungen nun in Bewegungen wie Pegida oder AFD eine politisch-ideologische Heimat
Die Attentate der letzten Monate waren Extremereignisse, die Täter von krankhafter Persönlichkeitsstruktur. Und doch kamen diese mitten aus unserer Gesellschaft. Was läuft schief in einem von Versagensängsten bestimmten System, dem Inklusion offenbar immer weniger gelingt? Was hat dies mit der Zunahme gewaltbereiter Bewegungen zu tun? Und stehen wir vor grundsätzlicheren Krisen, die neuer Werte jenseits des Speedkapitalismus bedürfen? Hans Holzinger analysiert aktuelle Befunde dazu, ergänzt um eine Abhandlung von Nicole Salamonsberger über die „Macht der Kränkung“.
„Einsicht kann öffnen, Lachen befreien, aber in der Angst, dass alles den Bach runtergeht, steckt immer auch die Frage nach einem anderen Verständnis der Lage.“(Heinz Bude 72 , S. 154)
in
finden: „Die rechtsextrem Eingestellten werden zum politischen Subjekt, das nicht nur mit Macht die Ideologie der Ungleichwertigkeit enttabuisiert, sondern auch die gewaltvolle Durchsetzung ihrer Interessen für legitim hält.“(S. 8) Mehr als 1.000 Attentate auf Flüchtlingseinrichtungen und mehr als 100 Brandanschläge im Jahr 2015 seien ein deutliches Alarmsignal. Die Autoren sprechen da her von „enthemmter Mitte“, auch wenn dies etwas irreführt. Gemeint ist das Spektrum der Gesellschaft mit rechten bzw. autoritären Einstellungen. Immerhin gaben knapp 20 Prozent der Be fragten an, dass sie bereit wären, sich mit körperlicher Gewalt gegen Fremde durchzusetzen, über 28 Prozent würden zwar nicht selbst handgreiflich werden, delegieren Gewaltanwendung aber gerne an andere, die „für Ordnung sorgen sollen“(S. 57).
In der Publikation werden die Ergebnisse im Detail vorgestellt (inklusive der Befragungsmethode und den gestellten Fragen), wobei dem Prozess der Politisierung der Rechten sowie der Rolle von Pegida und AFD besonderes Augenmerk geschenkt wird. Untersucht (und kritisiert) wird das nach Sicht der Autoren zu laxe Verhalten der Sicherheitsorgane gegenüber rechtsextremen Tatbeständen. Die Schlussfolgerung: Deutschland braucht nicht härtere Gesetze, sondern eine konsequentere Anwendung, wenn es um politisch motivierte und um Hasskriminalität geht. U.a. wird die geringe Aufklärungsquote bei Übergriffen auf Flüchtlinge und deren Unterkünfte kritisiert. Positiv hebt der Bericht hervor, dass es heute – anders als in den 1990er-jahren, als es zu zahlreichen Gewalttaten aus der Neonaziszene kam – auch eine breite zivilgesellschaftliche Bewegung gegen Rassismus und Fremdenfeindlichkeit gebe, etwa mit den Initiativen der „Willkommenskultur“. Rechtsextremismus: Akzeptanz
73 Die enthemmte Mitte. Autoritäre und rechtsextreme Einstellung in Deutschland. Hrsg. v. Oliver Decker u.a. Gießen: Psychosozial-verl. 2016. 249 S., 19,90 [D], 20,50 [A] ; ISBN 978-3-8379-2630-9
Macht der Kränkung
Der renommierte Gerichtspsychiater Reinhard Haller beschäftigt sich mit dem Ursprung, den Erscheinungsformen, den Folgen und schließlich mit dem Umgang mit Kränkungen. Seine Hauptthese besagt, „dass Kränkungen krank machen, Krisen auslösen und zu Kriminalität und Krieg führen“(S.11). Haller macht im ersten Teil des Buches den Versuch, Kränkungen zuerst zu analysieren, danach verschiedenste Kränkungsformen zu schildern und den Ursachen der Kränkung mittels abstrakter Fragestellungen wie beispielsweise „Ist Gott kränkbar?”(s.49) auf den Grund zu gehen. Im zweiten Teil werden aktuelle Erscheinungsformen von Kränkungen, wie beispielsweise das Cybermobbing untersucht. Gegen Ende werden Schritte zur Kränkungsbewältigung herausgearbeitet und die Wichtigkeit von Empathie im Umgang mit Kränkungen hervorgehoben.
Haller sieht in allen menschlichen Konflikten die Kränkung als Ursprung. Beginnend mit Achill in Homers Illias, über den Brudermord Kains, die Passion Christi bis hin zum Ersten und Zweiten Weltkrieg, den 9/11 Anschlägen, dem Irakkrieg und dem Auftauchen des Is-phänomens. In Zeiten von Globalisierung, Vernetzung und Tendenzen zu einer immer stärker narzisstisch werdenden Gesellschaft sei ein Anstieg kollektiver Kränkung unvermeidlich (S.89). Infolgedessen gelte es neu auftretende Phänomene zu beleuchten und sich mit den modernen und „digitalisierten” Formen der Kränkung (Mobbing, Grooming, Happy Slapping u.v.m.) zu beschäftigen.
Problematisch erscheint Hallers generalisierende Sichtweise. Er behauptet u. a., dass das Gelingen und/oder Misslingen von Beziehungen vom Um
gang mit Kränkungen abhängt. Das mag in vielen Fällen zutreffen, vergessen wird aber, dass oft mals hinter Beziehungskrisen mehr als nur psychologische Faktoren stecken. An anderen Stellen im Buch fehlt strukturelles Hinterfragen: die Entstehung des Dritten Reichs einzig und allein auf die Kränkung eines Mannes zurückzuführen, ist wohl zu kurz gegriffen. Dem politischen und sozio-ökonomischen Kontext sollte hier mehr Beachtung geschenkt werden. Insgesamt hat Haller aber eine interessante, mit historischen Beispielen gespickte Erörterung über Kränkung geschaffen. N. S. Gesellschaftskritik
76 Haller, Reinhard: Die Macht der Kränkung. Salzburg: Ecowin Verl., 2015. € 21,95 [D/]
ISBN 978-3-7110-0078-1
Neue Wertebasis
„Empathie ist eine Ressource, die wir im 21. Jahrhundert dringender brauchen als Seltene Erden oder Algorithmen“, meint Ulrich Grober in „Der leise Atem der Zukunft. Vom Aufstieg nachhaltiger Werte in Zeiten der Krise“. Der Umweltjournalist spricht dabei vom Mitgefühl in einem erweiterten Sinne, mit den Nächsten wie den Fern sten, mit der belebten wie der unbelebten Natur. Grober sieht uns derzeit angesichts der sich häufenden Krisen in einer Art „Schockstarre“verharren. Für einen neuen Durchbruch zu einer nachhaltigen Zivilisation sieht er drei wesentliche Aufgaben: die Entwicklung eines Grundvertrauens in die eigenen Potenziale und Ressourcen, die Erfahrung aller Menschen von Selbstwirksamkeit und drittens den Aufbau einer tragfähigen, also „nachhaltigen“Wertewelt. Letzterer spürt der Autor insbesondere nach. Wie schon in seinem Buch „Übers Wandern“wählt er auch hier wieder die Perspektive eines Wandernden, der sich an verschiedenen Schauplätzen Deutschlands kundig macht. Seine Reise führt ihn in den Schwarzwald, wo vor knapp 200 Jahren Hauffs Märchen über „Das kalte Herz“– eine Allegorie über die Gier der damaligen Holzhändler – entstanden ist, in die Autostadt Wolfsberg, wo Grober dem Traum von der Geschwindigkeit und den Chancen von Entschleunigung nachspürt, sowie zu den Mystikern des Mittelalters, von denen wir etwas über Gelassenheit lernen könnten. Weitere Stationen sind ein Horizontobservatorium, das vor kurzem auf einer aufgelassenen Berghalde im Ruhrgebiet eröffnet wurde und für Grober ein „Wahrzeichen für ein kommendes solares Zeitalter“(S. 20) darstellt, noch intakte Allmende-wälder im Weserbergland, die Grober zu einem Gespräch mit einem Wikipedia-autor, also einem Aktivisten der Wissensallmende, inspiriert. Schließlich führt der Weg zu Pionierinnen einer Postwachstumsgesellschaft sowie einer neu zu gewinnenden Ernährungssouveränität, etwa den Begründer neuer Finanzierungsformen für die Landwirtschaft, Christian Hiß von der Regionalwert AG.
Grobers „Reiseberichte“sind bereichernd wie vielgestaltig, inspiriert von historischen und kulturellen Bezügen. Das Buch lebt vom Reichtum an Assoziationen und Gedankensplittern. Es macht Appetit auf den „Mut zum Weniger“im Materiellen, der mit der Vielfalt im Kulturellen und Geistigen belohnt wird. Selbstwirksamkeit
„Man kann nicht mit denselben Strategien aus der Krise herauskommen, welche die Krise verursacht haben.“(Ulrich Grober in 77 , S. 14)
77 Grober, Ulrich: Der leise Atem der Zukunft. Vom Aufstieg nachhaltiger Werte in Zeiten der Krise. München: oekom, 2016.
315 S., €19,95 [D], 20,60 [A]
ISBN 978-3-86581-807-2