Ästhetischer Abstiegskapitalismus
Mit welcher Art von Kapitalismus haben wir es zu tun? Mit einem ästhetischen Kapitalismus, sagt Gernot Böhme und erntet damit einiges an Aufmerksamkeit. Mit einer Abstiegsgesellschaft, sagt Oliver Nachtwey. Was ist von den Erklärungen zu halten? Stefan Wally gibt Antworten.
Ästhetischer Kapitalismus
Gernot Böhme schreibt in marxistischer Tradition. Dabei fällt es ihm nicht schwer, frühere Überlegungen über Bord zu werfen und durch Aktualisierungen oder Korrekturen zu ersetzen. Die Aktualisierung marxistischen Gedankenguts scheint also kein ausgestorbenes Genre zu sein. Im Kapitalismus wird investiert, um den eigenen Besitz zu vermehren. Für Marx hat dies zwei Ebenen. Zum einen in der Produktion die Erzielung eines Mehrwerts. Das bedeutet, dass die hergestellten Produkte mehr (Arbeitszeit) wert sind als an Arbeitszeit für Arbeit, Rohmaterial, Erneuerung der Maschinen u. a. nötig waren. Zum anderem geht es darum, diese Produkte zu einem
Preis zu verkaufen, der höher ist als die Geldsumme, die für die Herstellung aufgewendet wurde. So entsteht der Profit. Der Profit entspricht langfristig dem Mehrwert. Soweit Marx.
Böhme meint nun, dass das System ein Problem bekommt bei der Herstellung des Profits. Für den Mehrwert wird noch genug an Arbeitszeit angeboten, die man kaufen kann. Für den Verkauf der Produkte fehlt aber in der westlichen Welt der Markt. Die Versorgung der Bevölkerung mit Wirtschaft und Handel sei im Großen und Ganzen abgeschlossen. Auch die ökonomisierten Tätigkeiten des innerfamiliären Raumes (Kochen, Kinderbetreuung, Freizeitgestaltung, Unterhaltung) werden durch Industrien erfasst, weiteres Wachstum lasse sich aus ihnen gegenwärtig nicht generieren. „Für weiteres friedliches Wachstum … bleibt einzig der Konsum zur Lebenssteigerung, nicht derzur Lebenserhaltung. Dieser besteht jedoch in der Ausstattung des Lebens, im Sehen und Gesehen–werden, im Hören und Gehört-werden und in der Steigerung der Mobilität, der physischen einerseits und der virtuellen andererseits.“(S. 15) Deswegen würden heute große Teile der Produktion durch ästhetische Werte bestimmt. Dabei gehe es dem Konsumenten um die Distinktion: „Die Ökonomie der Zeichen, die sich in den sechziger Jahren noch in einer Hierarchie von Statussymbolen ausgeprägt haben mag, ist heute einer Signalisierung und Inszenierung von Gruppenzugehörigkeiten gewichen, die eine Mannigfaltigkeit von Gruppierungsstilen und Lebensformen artikuliert, die mit gesellschaftlicher Schichtung und Herrschaft wenig zu tun haben.“(S. 43) Dies treibe die Ästhetisierung der Realität voran, die ökonomisch Sinn macht: Denn diese neue Ökonomie setzt auf „Begehrnisse“, d. h. auf Bedürfnisse, die dadurch, dass man ihnen entspricht, nicht gestillt, sondern gesteigert werden. „Die Entwicklung dieser Begehrnisse nach Gesehenwerden, nach Ausstattung, nach Selbstinszenierung sind die Basis einer neuen praktisch unbegrenzten Ausbeutung. Auf ihrer Basis kann Konsum zur Leistung gemacht werden, wird das Leben im Überfluss zum Stress und die Verausgabung zur Pflicht.“(S. 45) Grundsätzlich ist für den Autor die Verschiebung von (erfüllbaren) Bedürfnissen nach (sich steigernden) Begehrnissen der Kern der gegenwärtigen Entwicklung des Ka pitalismus (S. 76).
Böhme legt in dem Buch nach, indem er auf der Grundlage seiner Theorie auch andere Aspekte analysiert. Über Wachstum meint er, dass dieses dem Kapitalismus inhärent sei und eine nicht-kapitalistische Wirtschaftsform anzustreben sei, wenn man die ökologischen Grenzen des Wachstums ernst nehme. Er beschäftigt sich weiters mit Leistungsdenken, Architektur und Geschmack. Lesenswert. Kapitalismuskritik
78 Böhme, Gernot: Ästhetischer Kapitalismus. Berlin: Suhrkamp, 2016. 159 S., € 14,- [D],
14,40 [A] ; ISBN 978-3518127056.
Abstiegsgesellschaft
Wir sind in der Abstiegsgesellschaft angelangt. Das sagt Oliver Nachtwey in seinem viel beachteten Buch gleichnamigen Titels. Aus einer Gesellschaft des Aufstiegs und der sozialen Integration sei eine Gesellschaft des Abstiegs, der Prekarität und Polarisierung geworden.
In dem Buch werden die historischen Entwicklungslinien bis hin zur heutigen „Abstiegsgesellschaft“nachgezeichnet. Begonnen wird mit der Blütezeit der sozialen Moderne in der Nachkriegszeit bis in die 1970er-jahre. Hohe Wachstumsraten der Wirtschaft ermöglichten Kindern aus Arbeiterfamilien den Aufstieg, Vollbeschäftigung sicherte Teilhabe an der Gesellschaft. Nach 1973 habe der Niedergang der westlichen Ökonomien begonnen, heute drohe globale wirtschaftliche Stagnation. Damit seien auch die Ressourcen für soziale Integration verloren gegangen. Nachtwey unterscheidet horizontale und vertikale Integration. Während die horizontale Integration zwischen Gruppen unterschiedlicher sexueller Orientierung, den Geschlechtern und in bestimmten Bereichen sogar zwischen Ethnien besser gelinge, gehe es „vertikal“in Richtung immer größerer Ungleichheit. Allmählich sei diese Abstiegsgesellschaft eingetroffen.
Nachtwey belegt die Veränderung anhand der wichtigsten ökonomischen Daten. Von der Verlangsamung des Wirtschaftswachstums (durchschnittliches Wachstum in den Oecd-staaten 1973 vier, 2010 unter zwei Prozent) über den Rückgang der Bruttoinvestitionsquoten (von 23 Prozent im Jahr 1973 auf 22 Prozent im Jahr 2010) bis zur Stagnation der Nettorealverdienste (2010 in Deutschland bei 95 Prozent des Stands von 1991) werden die wichtigsten Kennzahlen vorgeführt.
Parallel änderten sich die Arbeitsverhältnisse. 1991 hatten noch 79 Prozent der Arbeitnehmerinnen und Arbeitsnehmer ein Normalarbeitszeitverhältnis, 2014 waren es 68,3 Prozent. Dies führ te auch zu Konflikten zwischen Arbeitnehmerinnenguppen: „In der prekären Vollerwerbsgesellschaft wird die nach wie vor existierende Spaltung
„‘Ästhetische Ökonomie’ bedeutet, dass der Inszenierungswert der Waren zum neuen Gebrauchswert aufsteigt: dass der Wert von Waren im Gebrauchszusammenhang weitgehend darin besteht, eine Person, einen Lifestyle, eine Gruppenund Schichtzugehörigkeit zu inszenieren.”
(Gernot Böhme in , S. 38 )
zwischen Arbeitnehmern und Arbeitslosen nun ergänzt durch einen dualisierten Arbeitsmarkt mit zwei interferierenden Welten, einer der geschrumpften Stabilität und einer der ausgeweiteten Prekarität.“(S. 146f) Moderne Klassenverhältnisse seien dabei komplexer als der einfache Gegensatz Oben/unten. Vertikale Ungleichheit wird verschränkt mit horizontalen Disparitäten, Frauen und Migrantinnen erleben hier besondere Benachteiligung. (S. 175) Das macht auch klar, warum die Gruppe der prekär Beschäftigen nicht einen sozialen Block bilden. Es gebe eben nicht ein Prekariat, sondern viele Prekariate. Kein Wunder also: „Bislang entstehen prekäre oder proletarische Lagen, die aber keine politische Gemeinschaft erkennen lassen.“(S. 179) Das ist der Ansatzpunkt, bei dem Nachtwey die Erfahrungen des Aufbegehrens gegen die Abstiegsgesellschaft dekliniert. Das Aufbegehren könne aber auch regressiv sein, warnt er im Hinblick auf neue autoritäre Strömungen.
Klassenverhältnisse 79 Nachtwey, Oliver: Die Abstiegsgesellschaft. Berlin: Suhrkamp, 2016. 264 S., € 18 [D], 18,50 [A] ISBN 978-3-518-12682-0