Interventionen
Wie unterschiedlich die Aspekte und Sichtweisen auf Wirtschaft und Gesellschaft sind, zeigen die folgenden Rezensionen. Birgit Bathic-kunrath referiert Thomas Straubhaars „Mythen des demografischen Wandels“, Markus Seiwald eine ambivalente Abhandlung von DIW-CHEF Marcel Fratzscher über Umverteilung, Lena Ramstetter fasst eine Einführung in feministische Kapitalismuskritik eines Autorinnenkollektivs um Birgit Eulenbacher zusammen und Anita Berner den Aufruf des Autors Klaus Werner-lobo für zivilgesellschaftliches Engagement.
Keine Angst vor dem Weniger
Thomas Straubhaar schreibt an gegen das „Gespenst des demografischen Wandels“(S. 174). Sein Buch „Der Untergang ist abgesagt“hinterfragt Annahmen zu den Gefahren des demografischen Wandels, wobei sich der Autor ausschließlich mit Deutschland beschäftigt. Das zentrale Argument des Ökonomen lautet, dass die Politik keinen vergeblichen Kampf gegen Bevölkerungsrückgang, Alterung, Heterogenisierung und Urbanisierung führen, sondern vielmehr Rahmenbedingungen für ein glückliches Leben in einer solchen Gesellschaft schaffen solle. Dabei widerlegt er zehn „Mythen“. So seine demografische Trends durch unerwartete politische Ereignisse oder nicht vorhersehbare Verhaltensänderungen durchaus umkehrbar und langfristige Prognosen daher unseriös (Mythos 1). Auch dass Schrumpfen der Bevölkerung den Wohlstand gefährde (Mythos 2), wird hinterfragt: Die zu erwartende Automatisierung werde den Arbeitsmarkt schrumpfen lassen, aber die Produktivität erhöhen. Mythos 3 warnt vor der Alterung der Bevölkerung als Wohlstandsrisiko, während Straubhaar ein langes und gesundes Leben als Glück begreift. Es sei aber wichtig, das existierende Umlagesystem durch eine verlängerte Lebensarbeitszeit an die neuen Verhältnisse anzupassen. Der vierte Mythos sieht Zuwanderung als Lösung für demografische Probleme, während Straubhaar darauf verweist, dass positive Effekte von Zuwanderung nur langfristig und auf gesamtgesellschaftlicher Ebene beobachtbar seien. Zudem sei es ein Irrglaube, dass Zuwanderung sich steuern lasse (Mythos 5). Fluchtbewegungen und Familienzusammenführungen werden niemals völlig kontrollierbar sein; allein die Arbeitsmigration lasse sich politisch steuern.
Der Autor bezweifelt auch, dass sich Deutschland durch missglückte Integration „abschaffe“, wie es in Mythos 6 beschrieben wird. Straubhaar stellt die Frage, was überhaupt deutsch sei und verweist auf eine zunehmende Vielfalt von Lebensentwürfen auch unter Deutschen (vgl. S. 104). Einen Fachkräftemangel (Mythos 7) kann der Autor nicht erkennen, angesichts des ungenutzten Potenzials von Älteren, Frauen und Menschen mit Migrationshintergrund (vgl. S. 127). Ähnlich Mythos 8, der Deutschland als unattraktiv für Talente sieht: Tatsächlich habe es in den letzten zehn Jahren einen Nettosaldo bei Migrationsbewegungen gegeben, vor allem im qualifizierten Bereich. Gleichzeitig warnt das Buch vor übertriebenem Optimismus gegenüber Vielfalt in Wirtschaft und Gesellschaft (Mythos 9): Während Diversität die Wirtschaft stimulieren mag, müsse es Normen geben, auf die sich die Gesellschaft verständigen kann, um Zusammenhalt und politische Steuerungsfä higkeit aufrecht zu erhalten (vgl. S. 145). Schlussendlich weist Straubhaar den zehnten Mythos zurück, wonach gleiche Lebensverhältnisse für Peripherien bei fortschreitender
Urbanisierung aufrechterhalten werden können. Während Möglichkeiten zur Mobilität ausgebaut werden sollten, wird eine Konzentration von öffentlichen Versorgungseinrichtungen unvermeidbar sein, so seine Überzeugung.
Die Grundlage der vorgebrachten Argumente ist der offensichtlichen Glauben Straubhaars an die Arbeitsgesellschaft, die unter den richtigen Bedingungen alle Bedrohungsszenarien abfedert. Der Beitrag reiht sich in eine Reihe von aktuellen Aufrufen ein, sich nicht der Angst hinzugeben, sondern Herausforderungen strukturiert entgegenzutreten. B. B.-K.
Gesellschaft: Demografie 80 Straubhaar, Thomas: Der Untergang ist abgesagt. Wider die Mythen des demografischen Wandels. Hamburg: edition Körber-stiftung,
2016. 204 S., € 18,- [D], 18,40 [A]
ISBN 978-3-89684-174-2
Verteilungskampf abgesagt?
Hinter dem markigen Titel „Verteilungskampf“versteckt sich eine sachliche Analyse der gesellschaftlichen Ungleichheit in der BRD. Marcel Fratzscher ist Präsident des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) Berlin. Um zu klären, „warum Deutschland immer ungleicher wird“(so der Untertitel des Buches), greift er auf eine breite Palette von empirischen Studien seiner Einrichtung zurück.
Eingangs beschreibt Fratzscher die ungleiche Verteilung von Vermögen, Einkommen und Entfaltungsmöglichkeiten in der deutschen Gesellschaft. Dabei betont er, dass vor allem die geringen Aufstiegschancen für die zunehmende Öffnung der Schere zwischen Arm und Reich verantwortlich seien. Anschließend widmet sich das Buch den Konsequenzen von Ungleichheit. Sie schädige u.a. soziale und politische Teilhabe und sei negativ für das Wirtschaftswachstum. Der Autor skizziert eine Reihe von Faktoren, die auch in Zukunft zu einer weiteren Verschärfung der Ungleichheit beitragen werden. Hervorzuheben ist v. a. der technologische Fortschritt, der die Einkommensunterschiede zwischen hoch und niedrig qualifizierten Arbeitskräften weiter vergrößern werde. Abschließend widmet sich Fratzscher der Umverteilung durch den Staat. Diese sei ineffizient. Die Politik solle sich nicht darauf konzentrieren, die Einkommenssituation der Mittelschicht abzusichern, sondern den Menschen dabei helfen, ihr Potenzial besser auszunutzen.
Die Lösung liegt für den Autor in der Bildungspolitik. Seine Forderungen nach Veränderung - z. B. nach mehr Kitas und besserer Betreuung in diesen - bleiben dabei meist mehrheitsfähig und wenig progressiv. Eine Verteilungsdebatte zwischen gesellschaftlichen Gruppen beurteilt der Autor v. a. negativ: „Debatten und Streits über die Verteilung (...) sind nicht prinzipiell schlecht - aber in der Regel extrem kostspielig für eine Gesellschaft.“(S. 91) Hier offenbart sich die seltsame Zwiespältigkeit des Buches: Fratzscher spricht sich tendenziell gegen eine breite Debatte über soziale Ungleichheit aus, obwohl er selbst einen Beitrag dazu liefert und diese mit einem reißerischen Titel versieht. M. S. Gesellschaft: Ungleichheit
81 Fratzscher, Marcel: Verteilungskampf. Warum Deutschland immer ungleicher wird. München: Hanser Verl., 2016. 264 S., € 19,90 [D], 20,50 [A] ; ISBN 978-3-446-44465-2
Feministische Kapitalismuskritik
Denkansätze sind vieldimensional in ihren Perspektiven, mal überlappen sie, mal widersprechen sie sich – ein Feminismus existiert nicht. Was es jedoch gibt, sind gemeinsame Leitlinien, Ideen, die sich in allen Forschungssträngen wiederfinden lassen. Brigitte Aulenbacher, Birgit Riegraf und Susanne Völker beleuchten eines dieser verbindenden Ele mente der feministischen Forschung: Kapitalismuskritik. Kritik an bestehenden Machtverhältnissen, an verdeckten Herrschaftsstrukturen, die kapitalistische Produktionsmechanismen erst ermöglichen und zugleich in diesen reproduziert werden. Ohne die Unterschiede zwischen den verschiedenen Denkschulen aus dem Blick zu verlieren, stellen die Autorinnen den Zusammenhang zwischen Geschlechterhierarchien und kapitalistischen Strukturen im Gestern, Heute und Morgen dar.
In einem ersten Abschnitt beleuchtet Aulenbacher die Angewiesenheit des Kapitalismus auf unbezahlte Arbeit und dessen weitreichende Konsequenzen: ohne „unproduktive“Haus-,sorge-und Pflegearbeit, ginge die kapitalistische Rechnung nicht auf. Ohne die systematische ökonomische Geringschätzung von weiblich konnotierter „Reproduktion“gegenüber männlich besetzter „Produktion“fehlte es an Ausbeutungspotenzial. Geschlechtertrennung, so das Resumée, ist konstitutiv für das Leben im Kapitalismus. Dass Geschlechterhierarchien nicht nur national gedacht werden dürfen, macht
„Deutschland kann seinem Anspruch einer sozialen Marktwirtschaft nur dann gerecht werden, wenn es sehr viel mehr seiner Energie auf die Schaffung von Chancengleich heit verwendet.
Dazu gehört eine Politik der Integration, die deutlich mehr Menschen als bisher eine wirtschaftliche, soziale und politische Teil habe ermöglicht.” (Marcel Fratzscher in , S. 247f.)
das Beispiel von Care-chains („Sorgeketten“) deutlich: die zunehmende Einbindung von Frauen in die ökonomische Sphäre in westlichen Gesellschaften führt dazu, dass Migrantinnen entstehende „Sorgelücken“(es sei hier an die „24Stunden-polin“gedacht) füllen und so einen (Neo-)kolonialismus wiederaufleben lassen. Riegraf denkt diese Abhängigkeiten weiter und fragt: Wie verändern sich Geschlechterarrangements im Heute? Welche Folgen hat die Erosion des Sozialstaates, die Ausdehnung des Ökonomischen auf alle Lebensbereiche? Dabei zeichnet sie ein widersprüchliches Bild: Während sich in Teilbereichen der Gesellschaft (wie etwa der Finanzwirtschaft) der „Konnex von Herrschaft, Macht und Männlichkeit“(S. 28) laufend reproduziert, verändern zunehmend pre käre Arbeits-und Lebensverhältnisse in anderen Bereichen die kapitalistischen Geschlechternormen. Kurz, Kapitalismus ist ein soziales Phänomen, das ständig neu geschaffen wird, das weiterlebt durch Gedanken.
Hier setzt Völker an, wenn sie den Blick auf die Zukunft richtet: Kapitalismus muss gedacht werden, damit er funktioniert. Deshalb kann er auch umgedacht werden. Wenn Alternativen denkbar werden, werden sie auch lebbar. Die Autorinnen plädieren damit für eine aktive politische Einmischung, für die Verbindung von theoretischen Überlegungen mit praktischem Handeln.
Mit ihren Einführungen in die kapitalismuskritischen Feminismen der Gegenwart gelingt dem Autorinnentrio vor allem eines – aufzuzeigen wie durchdrungen unser tägliches Leben, unser Selbstverständnis, unser Miteinander von der kapitalistischen Produktionslogik ist. L. R. Feminismus: Kapitalismuskritik
82 Aulenbacher, Brigitte; Riegraf, Birgit; Völker, Susanne: Feministische Kapitalismuskritik: Einstiege in bedeutende Forschungsfelder. Münster: Westfäl.dampfboot, 2015.
179 S, € 15,90 [D], 16,40 [A]
ISBN 978-3-89691-679-2
Nach der Empörung
„Empört euch!“fordert der ehemalige Widerstandskämpfer gegen das Naziregime, Stephane Hessel, die Zivilgesellschaft auf. Ja. Und dann? Mit einfachen Worten erklärt der Autor und Aktivist Klaus Werner-lobo Zusammenhänge und Probleme von Politik, Wirtschaft und Gesellschaft, verdeutlicht die Notwendigkeit des Handelns und zeigt anhand von praktischen Beispielen und Initiativen, wie gesellschaftliches Engagement aussehen kann.
Werner-lobo kritisiert bestehende politische Systeme und wirft wahlwerbenden Gruppen und politischen Eliten vor, dass es ihnen „weniger um eine dem Gemeinwohl verpflichtete Gestaltung der Gesellschaft, […] sondern im besten Fall um die Legitimation ihrer eigenen Existenz durch […] das Wahlvolk [geht], das alle paar Jahre die Stimme abgeben möge, um sie in der Zeit dazwischen möglichst nicht zu erheben…“(S. 18). Seiner Meinung nach hat die Politik durch Privatisierung öffentlicher Güter und Dienstleistungen ohnehin das Zepter aus der Hand gegeben. Für Werner-lobo ist das, „was sich formal noch als Demokratie, als Herrschaft des Volkes, bezeichnet, […] in Wahrheit immer mehr eine Oligarchie, die Herrschaft der wenigen, die über Geld und Privilegien verfügen“(S. 134).
Grundlagen der Selbstermächtigung
Der Autor belässt es nicht bei der Kritik der bestehenden Systeme, sondern will vielmehr Mut machen und zeigt Möglichkeiten sowie Handlungsalternativen auf. Durch die Darlegung erfolgreicher Initiativen von Alarm Phone über #Nopegida bis hin zu The Yes Men wird die Leserin/der Leser motiviert, sich selbst politisch abseits institutioneller Parteipolitik zu engagieren. Das Buch vermittelt Grundlagen zur Selbstermächtigung und gibt Handwerkszeug für politisches und gesellschaftliches Engagement mit vielen praktischen Tipps mit.
Werner-lobo überzeugt durch die einfache Darstellung komplexer Sachverhalte und durch seine persönliche Erfahrung mit zivilgesellschaftlichem Engagement, die an den praktischen Beispielen sichtbar wird. Man könnte das Buch als eine Schritt für Schritt-anleitung zum zivilen Ungehorsam bezeichnen, als Handbuch für Aktivismus für Einsteigerinnen und Fortgeschrittene. Zur politischen Anteilnahme braucht es mehr als Empörung. Man darf das Buch somit als Aufforderung an die Zivilgesellschaft verstehen, selbst aktiv ins politische Geschehen einzugreifen. In diesem Sinne: „Engagiert euch!“A. B.
Zivilgesellschaft: Engagement
Werner-lobo, Klaus: Nach der Empörung.
Was tun, wenn wählen nicht mehr reicht?
Wien: Deuticke im Paul Zsolnay Verl., 2016.
200 S., € 18,90 [D] € 19,50 [A]
ISBN 978-3-552-06313-6
“Die Partei, die ‘Regierung, das politische System, das auf Dauer Wohlstand und Gerechtigkeit für alle und alle nachfolgenden Generationen garantiert, gibt es nicht und wird es nie geben. Das müssen wir schon selbst tun, egal wer uns regiert. Und natürlich ist es aufwendig und anstrengend, immer wieder gegen Gier und Machtmissbrauch anzukämpfen - mit mehr Demokratie, mit mehr Solidarität und persönlichem Einsatz füreinander und für unseren schönen Planeten.” (K. Werner-lobo in 83 , S. 146f.)