Digitales Wir
Verschwindet die Zukunft als Zeit des Politischen und tritt mehr und mehr das Imaginäre an die Stelle des Realen, wie es der Philosoph Byung-chul Han in seinem bemerkenswerten Essay „Im Schwarm“formuliert, oder haben wir, wie Ilija Trojanow in einem Interview meint, längst den Kampf Mensch gegen Maschine verloren? Die Unternehmerin Yvonne Hofstetter hat darauf hingewiesen, dass die Gefahr für die freiheitliche Gesellschaft von intelligenten Algorithmen ausgeht. Bleiben uns überhaupt noch Optionen für bewusstes Zukunftshandeln oder sind wir der Überwachung, dem Ausspionieren, dem Ende der Anonymität und der Manipulation hilflos ausgesetzt? Haben wir es gar mit einer „smarten Diktatur“zu tun, von der Harald Welzer in seinem neuen Buch schreibt? Alfred Auer hat sich einige Befunde zum Status und zur Zukunft des Digitalen angesehen.
Inside Big Data
Christian Rudder, einer der Gründer von „Okcupid“, einem der weltweit größten Partnersuchdienste, hat eine beachtliche Datenmenge ausgewertet. Allein im Zeitraum April 2013 bis April 2014 sind nicht weniger als zehn Millionen Nutzerinnen über seine Dating-seite auf Partnersuche gegangen. Die anonymisierten Daten dieser Internet-plattform geben Einblick u. a. in verborgene menschliche Überzeugungen, geheime Wünsche und Vorlieben, aber auch darüber, ob politische Ansichten Partnerbeziehungen verändern. Der Autor will uns aber keineswegs, wie er einleitend anmerkt, „mit noch mehr Hype oder atemloser Berichterstattung über das Datenphänomen“verwirren (S. 9), sondern eine fundierte Analyse anhand tatsächlich gesammelter Informationen liefern.
In seinem New-york-times-bestseller geht der
ausgebildete Mathematiker durchaus leger der Frage nach, wie wir uns ausspionieren lassen und dabei noch selber mitmachen. Jeder Mensch, so die Kernaussage, muss zunächst, damit er zu „gebrauchen ist“, mittels Algorithmus formalisiert und maschinenlesbar gemacht werden. Ist das geschehen, können wir beispielsweise aufgrund von Präferenzen verschiedene Dinge auslesen. Liebe, das ureigenste Geschäftsfeld einer Partneragentur, ist vor diesem Hintergrund also nichts weiter als ein Business. Rudder macht unmissverständlich klar, dass die wichtigsten Algorithmen heute und in Zukunft unseren Alltag beeinflussen werden und er zeigt, dass die Datenverarbeitung heute schon zu tiefen Erkenntnissen führt, die das Leben der Menschen nicht nur beschreiben, sondern auch verändern. Wie genau solche Algorithmen funktionieren, wird leider nicht erklärt. Datenflut
93 Rudder, Christian: Inside Big Data. Unsere Daten zeigen, wer wir wirklich sind. München: Hanser, 2016. 304 S., € 24,90 [D], 25,60 [A] ISBN 978-3-446-44459-1
Total berechenbar?
Diese Lücke schließt Christoph Drösser, ebenfalls Mathematiker und Wissenschaftsjournalist, im folgenden Buch. Drösser – er erhielt für seine Verdienste um die Popularisierung der Mathematik den Medienpreis der Deutschen Mathematiker-vereinigung (2008) – erklärt uns ganz einfach, was Algorithmen sind, nämlich Handlungsanweisungen für Rechner, um ein Problem zu lösen. Genauso wie Kochrezepte oder Partituren Anweisungen sind, Speisen zuzubereiten oder ein Musikstück aufzuführen.
Zugegeben, es ist nicht immer ganz einfach, den erklärten Rechenverfahren als Laie zu folgen. Drösser versucht trotzdem, einige der wichtigsten Algorithmen zu nennen, die unser Leben beeinflussen, und er möchte die dahinterliegenden Verfahren ein wenig entmystifizieren. Letztlich punktet er mit einfachen Beispielen wie Routenplanern und den Klassikern des Netzes wie Google, Amazon, Netflix und Facebook. Der logische Aufbau des Buches: Rechnen, Suchen, Finden, Empfehlen, Verbinden, Vorhersagen, Investieren, Verschlüsseln, Komprimieren, Lieben und Lernen, erleichtert die Lektüre ungemein und ermöglicht den Aus- bzw. Einstieg je nach Interesse . Ein Beispiel von vielen ist der sogenannte Ranking-algorithmus für Suchroboter, der eine gute Suchmaschine ausmacht, denn wer sucht schon nach dem 133. Ergebnis auf Seite 6 bei Google. Insgesamt steht der Autor dem Big-data-phänomen positiv gegenüber und hält es keineswegs für ein Schreckgespenst. Seiner Ansicht nach sollten wir jedoch einige Programme in den nächsten Jahren besonders im Auge behalten, wie etwa die neuronalen Netze, umschrieben mit dem Schlagwort „Deep Learning“(Kapitel 11). Diese Programme lernen selbsttätig, Dinge zu kategorisieren und daraus Regeln abzuleiten, unabhängig von menschlichem Zutun. Drössers Anliegen ist es letztlich, das Verständnis von Algorithmen als Bildungsaufgabe darzustellen. Wer nicht verstehe, wie sie gemacht werden, habe keine Ahnung, wie unsere Welt gemacht werde. Um all diese komplizierten Dinge zu durchschauen, könne nur Bildung helfen, „sich souveräner in der neuen Welt zu bewegen“(S. 19). Berechenbarkeit
94 Drösser, Christoph: Total berechenbar? Wenn Algorithmen für uns entscheiden. München: Hanser, 2016. 252 S., € 17,90 [D], 18,40 [A],
ISBN 978-3-446-44699-1
Der Cyborg und das Krokodil
Dass Technik auch glücklich machen kann, ist der Zeit-redakteur Gero von Randow überzeugt. Das suggeriert zumindest der Untertitel seines neuen Buches über die Signatur des Digitalen, das unsere Welt in einer Weise durchdringt, „die sich mit technischen Begriffen allein nur noch sehr eingeschränkt beschreiben lässt. Als eine gesellschaftliche Technik wird sie nicht bloß von den Gesellschaftsmitgliedern angewendet, vielmehr besteht ihr Sinn überwiegend darin, die Handlungen der Gesellschaftsmitglieder zu beeinflussen“(S. 50). Als logische Konsequenz erleben wir heute die Konstruktion einer neuen Wirklichkeit durch die Digitaltechnik, so der Publizist.
Die menschliche Gesellschaft arbeitet sich an Dingen ab, ist von Randow überzeugt. „Einer stellt ein Ding her, ein anderer benutzt es, ein weiterer macht es kaputt, noch jemand repariert es, wieder jemand klaut es, schließlich wird es entsorgt, recycelt und geistert selbst dann noch durch die soziale Welt (…), weil es nach seiner Verbrennung als klimavergiftendes Atmosphärenteilchen weltweite politische Aktivitäten auslöst.“(S. 11). Der Autor verschweigt aber auch nicht die immer wieder diskutierten Schattenseiten neuer Technologien wie soziale Entfremdung, Sucht und Abhängigkeit, Gefährdung der Datensicherheit. Deshalb sei es unsere Aufgabe, die menschliche und die künstliche Intelligenz in Einklang
„Wir leben im Zeitalter der Algorithmen. Die Menschen haben immer die Technologie ihrer Zeit als Metapher benutzt, um auch nicht technische Dinge zu beschreiben.“(Christoph Drösser in , S. 226)
zu bringen und zu prüfen, ob wir alles wollen müssen, was wir brauchen sollen.
Wie aber sollen wir mit all den neuen Dingen umgehen? Dazu entwickelt von Randow eine metaphorische Typologie des Umgangs mit Technologien - vom Aal über Hamster und Igel bis zum Krokodil und unterbreitet Vorschläge für ein Design des Lebens in der technischen Welt. Es seien an dieser Stelle einige davon genannt: 1. Werden Sie zum Krokodil (Hören und schauen Sie sich um und greifen Sie zu, wenn sie Lust haben.) 2. Haben Sie keine Angst vor dem Lernen und auch nicht vor dem immer neuen Bedienungswissen (Irgendwann wird dieses Wissen ein Hintergrund.) 3. Einfach ausprobieren (Erst im Verlauf der Benutzung lernt man die verschiedenen Mög lichkeiten kennen.) 4. Alles kommt wieder (Die Entwicklung ist nicht linear, man muss mit Zyklen des Wiederkehrens rechnen.) 5. Diäten funktionieren nicht (Man muss sich immer wieder überlegen, ob und wozu ein Gerät gerade nötig ist oder nicht.). Gero von Randows Buch ist ein Aufruf, der Technik ohne Angst, aber mit kritischem Bewusstsein und mit der Lust zum Spielen zu begegnen. Digitalisierung
95 Randow, Gero von: Der Cyborg und das Krokodil. Technik kann auch glücklich machen. Hamburg: ed. Körber-stiftung, 2016. 173 S., € 14,- [D], 14,40 [A] ; ISBN 978-3-89684-175-9
Das digitale Wir
Die Digitalisierung bestimmt unseren Alltag, sowohl in der Arbeitswelt als auch im Privatleben. Peter Schaar, langjähriger Bundesbeauftragter für den Datenschutz und seit 2013 Vorsitzender der Europäischen Akademie für Informationsfreiheit und Datenschutz (EAID) in Berlin, wirft an dieser Stelle einen Blick auf die durch die Informationstechnik bewirkten gesellschaftlichen Veränderungen und nicht primär auf Sicherheitsfragen. Prinzipiell hält Schaar die Zukunft für gestaltbar und hält fest, dass sich Zivilisation und menschliches Leben nicht auf optimales Funktionieren beschränken lassen (S. 204f.). Er glaubt auch, dass – trotz aller Fehlentwicklungen – die Informationsgesellschaft erhebliches demokratisches Potenzial in sich birgt. Dieses könne es aber, so Schaar, ohne verstärktes bürgerschaftliches Engagement nicht geben. Wie aber kann das Internet demokratische Prozesse befördern? Der Autor schlägt vor, z. B. Planungsverfahren zu visualisieren, d. h. Planungsunterlagen in einem digitalen Raum zur Verfügung zu stellen, damit Interessierte leichter an die Informationen über die geplanten Baumaßnahmen herankommen und so mitreden können.
Schaar warnt wie Drösser vor der absehbaren Tendenz, dass Computer anhand von Algorithmen selbst entscheiden können. Der Fall ist dies längst, „etwa bei der geforderten Wahl der Zahlungsmethode im Internethandel (Bestellung auf Rechnung oder nur gegen Vorkasse) oder an der Supermarktkasse (Autorisierung der Zahlung per Eckarte mit der PIN oder mit der Unterschrift), bei der Einsortierung eines Anrufers in die Warteschleife bei Telefonservices“(S. 171f.).
Der Autor analysiert sowohl die Chancen als auch die negativen Auswirkungen der Digitalisierung, wobei er die Chancen, was die demokratische Teilhabe und die Schaffung einer offeneren und besseren Welt betrifft, nicht sonderlich positiv bewertet. Er hält die im Internet stattfindende politische Kommunikation im Vergleich zum Gesamtvolumen für sehr gering; und der Seitenblick auf die gescheiterte Twitter-revolution im Iran stimmt ihn auch nicht gerade optimistisch. Zudem sind wir derzeit ohnehin mehr mit den negativen Seiten – mit Überwachung und Kontrolle im Gefolge des Nsa-skandals – konfrontiert. Es gebe zwar kein Allheilmittel, ist sich Schaar sicher, es gelte aber, Transparenz dazu zu nutzen, die Überwacher zu überwachen.
Digitalisierung 96 Schaar, Peter: Das digitale Wir. Unser Weg in die transparente Gesellschaft. Hamburg: ed. Körber-stiftung, 2015. 220 S., € 17,- [D], 17,50 [A]
ISBN 978-3-89684-168-1
Kultur der Digitalität
Unser Handeln bestimmt, ob wir in einer postdemokratischen Welt der Überwachung und der Wissensmonopole oder in einer Kultur der Commons und der Partizipation leben werden. So sieht es Felix Stalder, Professor für digitale Kultur an der Züricher Hochschule der Künste. Diese Kultur, ist er überzeugt, „ist die Folge eines weitreichenden, unumkehrbaren gesellschaftlichen Wandels, dessen Anfänge teilweise bis ins 19. Jahrhundert zurückreichen“(s. 10f.). Die charakteristischen Formen dieser Kultur sind nach Ansicht des Autors Referentialität, Gemeinschaftlichkeit und Algorithmizität. Dazu etwas später.
Der Experte skizziert zunächst langfristige, irreversible historische Prozesse, beginnend beim Aufstieg der Wissensökonomie Ende des 19. Jahrhunderts. Von hier aus spannt er den Bogen von
der zunehmenden „Kulturalisierung der Ökonomie“mit Design als „kreativer Generaldisziplin“bis hin zur „Technologisierung der Kultur“, in der „Medien als Lebenswelten“fungieren. Für Stalder nehmen langfristig relevante Entwicklungen erst dann konkrete Formen an, wenn sich digitale Infrastrukturen und die durch sie in den Mainstream gebrachten Praktiken im Alltag breitgemacht haben. „Kommunikationsmittel werden erst dann sozial interessant, wenn sie technisch langweilig werden.“(S. 20)
Wie bereits erwähnt, ist die Kultur der Digitalität durch Referentialität charakterisiert, also durch die Nutzung bestehenden kulturellen Materials für die eigene Produktion; zweitens durch Gemeinschaftlichkeit, denn nur über einen kollektiv getragenen Referenzrahmen können Bedeutungen stabilisiert, Handlungsoptionen generiert und Ressourcen zugänglich gemacht werden; und schließlich drittens durch Algorithmizität, ge prägt durch automatisierte Entscheidungsverfahren, die den Informationsüberfluss reduzieren und formen, „so dass sich aus den von Maschinen produzierten Datenmengen Informationen gewinnen lassen, die der menschlichen Wahrnehmung zugänglich sind und zu Grundlagen des singulären und gemeinschaftlichen Handelns werden können“(S. 13).
Im dritten Abschnitt versucht sich Stalder an einer politischen Einordnung des Themas. Dabei werden zwei bereits weit fortgeschrittene politische Tendenzen kontrastiert: Postdemokratie und Commons. Als „postdemokratisch“bezeichnet der Autor all jene Entwicklungen, „die zwar die Beteiligungsmöglichkeiten bewahren oder gar neue schaffen, zugleich aber Entscheidungskapazitäten auf Ebenen stärken, auf denen Mitbestimmung ausgeschlossen ist“(S. 209). Als Beispiele nennt der Autor „Facebook und andere Betreiber kommerzieller sozialer Massenmedien“. Durch technische, organisatorische und rechtliche Maßnahmen seien hier Strukturen geschaffen worden, „in denen die Ebene, auf der die Nutzer miteinander interagieren, vollständig getrennt ist von jener Ebene, auf der die wesentlichen die Gemeinschaft der User betreffenden Entscheidungen gefällt werden“(S. 215f.).
In den Commons, wie sie sich in Open-sourcesoftware und Projekten wie Open Data zeigen, sieht Stalder das Potenzial für „eine radikale Erneuerung der Demokratie durch die Ausweitung der Beteiligung an kollektiven Entscheidungen“(S. 205). Dabei handelt es sich um kommunikationsintensive und horizontale Prozesse, bei denen das Erzielen von Konsens und die freiwillige Akzeptanz der ausgehandelten Regeln im Vordergrund stehen (vgl. S. 248). Unzählige Beispiele von städtischen Infrastrukturen als Commons (Bürgernetze) über Openstreetmap (OSM) bis hin zum Debian-projekt (ein Zusammenschluss von Einzelpersonen, die gemeinschaftlich ein freies Betriebssystem entwickeln) werden genannt.
Insgesamt zeigt Stalder eindrucksvoll, dass die rasanten Veränderungen in ihren konkreten gesellschaftlichen Ausformungen keinesfalls alternativlos sind. Dabei geht es einmal mehr um die Frage, in welcher Welt wir leben wollen und auf welche Ziele die vorhandenen Potenziale ausgerichtet werden sollen. Digitalisierung
97 Stalder, Felix: Kultur der Digitalität. Berlin: Suhrkamp, 2016. 282 S., € 18,- [D], 18,50 [A] ISBN 978-3-518-12679-0
Digitaler Burnout
Facebook okkupiert einer Studie zufolge eine knappe Stunde von insgesamt zweieinhalb Stunden unserer Zeit, die wir pro Tag am Smartphone verbringen. Der Kampf um unsere Aufmerksamkeit, so der Informatiker Alexander Markowetz, hat in Zeiten der Digitalisierung mit dem Smartphone also ein mächtiges Werkzeug in die Hand bekommen. App-entwickler, Social-media-lenker, schlicht die digitale Industrie, kennt unsere Schwächen, um uns öfter zum Handy greifen zu lassen. „Die digitale Industrie nutzt auf diese Weise unsere unterbewussten Instinkte, um ein Maximum unserer Aufmerksamkeit abzuzapfen. Es geht um Marktmacht, um Geld.“(S. 210) Die Folge der hochfrequenten Nutzung sind psychosoziale Schäden. Wir leiden unter Stress und die gemeinsamen zwischenmenschlichen Momente treten in Konkurrenz mit digitalen Firmen. Es ist also höchste Zeit, die Hoheit über unsere eigene Aufmerksamkeit zurückzuerobern. Deshalb schlägt der Autor „eine digitale Diät“vor (S. 213). Dazu müssen wir die Diebe unserer Aufmerksamkeit aussperren und wieder selbst entscheiden, wem wir unsere Zeit schenken. Es gelte, eine Kulturtechnik zu entwickeln, die es ermöglicht, das Smartphone zu meistern. Nur so könne es gelingen, das Risiko eines Digitalen Burnouts zu minimieren. Social Media: Nutzung
Markowetz, Alexander: Digitaler Burnout. Warum unsere permanente Smartphone-nutzung gefährlich ist. München: Knaur-verl., 2015. 220 S., € 19,99 [D], 20,60 [A] ; ISBN 978-3-426-27670-9
„Die zentrale Herausforderung der Digitalisierung liegt also nicht allein darin, eine Lösung für unsere aus dem Ruder gelaufene Smartphone-nutzung zu finden. Sie bedeutet vielmehr, den permanenten Wandel zu meistern.“
(A. Markowetz in , S. 214)
Abgehängt
Es ist heute schon fast eine Binsenweisheit, dass die Digitalisierung sowohl Erleichterungen als auch immense Gefahren in sich birgt. Anders als bei den bisherigen Innovationen – von der Erfindung des Buchdrucks bis zur Eisenbahn, die wir alle trotz gegenteiliger Warnungen, weitgehend unbeschadet überstanden haben – geht es bei der totalen Automatisierung diesmal um viel mehr. Der pessimistische Blick des Wirtschaftsjournalisten und Herausgebers der Harvard Business Review, Nicholas Carr , sagt uns, dass die menschlichen Folgen dieser Automatisierung gravierend sein werden. Er meint gar, wir laufen Gefahr, uns dabei gleich selbst mit abzuschaffen. Carr wählte nicht von ungefähr den vielsagenden Untertitel: „Wo bleibt der Mensch, wenn Computer entscheiden?“Und er illustriert dies gleich zu Beginn mit einer dramatischen Meldung: Am 4. Januar 2013 hat die Bundesluftfahrtbehörde der USA einen „Sicherheitshinweis für Piloten“an alle Usamerikanischen sowie weitere kommerzielle Fluggesellschaften gesendet, in der vor dem übermäßigen Einsatz des Autopiloten gewarnt wird, da dies zu einer „Verschlechterung der Fähigkeit von Piloten führen könne, das Flugzeug schnell aus einem unerwünschten Zustand zu führen“(S. 11).
Wir sind dabei, auch das autonome Automobil zu entwickeln. Wie es aussieht, wird uns in naher Zukunft ein Autopilot von A nach B steuern. Und nicht ganz unwahrscheinlich wird irgendwann in den nächsten Jahren eine Warnung an die Autohersteller ergehen, die Autofahrerinnen doch wieder mehr zum manuellen Fahren anzuhalten, um das Gefahrenpotenzial zu minimieren. Weitere Beispiele beschäftigen sich mit dem Gesundheitswesen – immer mit dem warnenden Zeigefinger –, denn ein erfahrener Arzt sei eben nicht so einfach durch den Computer zu ersetzen. Auch die Automatisierung der Orientierung mittels Gps-empfänger „behindert bei der Durchreise das Erleben der physischen Welt“(S. 156), und kann bis zum Verlust der Navigationsfähigkeiten führen. „Unsere Wahrnehmung und Interpretationsfähigkeit, vor allem von naturbelassenem Gelände, hat bereits stark nachgelassen“, ist sich der Publizist sicher (S. 160). Er befürchtet sogar, dass die Automatisierung der Routenplanung uns von der Umwelt, die uns geformt hat, entfernen könnte. Deshalb sollten wir uns fragen „Wie weit wollen wir uns von der Welt zurückziehen?“(S. 167)
Der Autor wird nicht müde zu warnen, die Automatisierung könne sogar „unseren Fähigkeiten und unserem Leben Schaden zufügen“(S. 12). Außerdem verändere sich die Technologie immer schneller als sich der Mensch anpassen könne. „Das bedeutet, unsere Software und unsere Computer werden unter unserer Führung immer neue Wege finden, uns zu übertrumpfen – schneller, billiger und besser arbeiten.“(S. 59) Deshalb sei es unsere oberste Pflicht, „uns jeder Macht, sei sie institutionell, kommerziell oder technologisch, zu widersetzen, die unsere Seele ent kräftet oder schwächt“(S. 278), und der Automatisierung Grenzen zu setzen. Auch lassen sich die verursachten Probleme durch die Automatisierung nicht mit noch mehr Software lösen. Die Entscheidungen, die wir treffen oder eben nicht treffen, welche Aufgaben wir Computern überlassen und welche wir selbst behalten, seien nicht nur praktische oder wirtschaftliche, mein Carr, sondern vor allem moralische Entscheidungen. „Sie formen unser Leben und den Ort, den wir uns in der Welt bereiten.“(S. 31)
Digitalisierung 99 Carr, Nicholas: Abgehängt. Wo bleibt der Mensch, wenn Computer entscheiden? München: Hanser, 2014. 317 S., € 19,90 [D], 20,50 [A]
ISBN 978-3-446-44032-6
Die smarte Diktatur
Breit rezipiert und euphorisch bis kritisch gewürdigt wurde die Analyse über „den Marsch in die Unfreiheit“von Harald Welzer. Neben den vielen Krisen der Welt, von denen keine einzige mit den Mitteln der Digitalisierung zu lösen sei, geht es Welzer hauptsächlich um das Internet und im Speziellen um die totalitäre Macht der Internetkonzerne. Das Prinzip der Wachstumswirtschaft, so der Soziologe und Direktor der Stiftung Futurzwei, sei dort allgegenwärtig. Die hier praktizierte Form des Kapitalismus ist seiner Ansicht nach „räuberischer, desintegrativer, zerstörerischer denn je“(S. 17). Zudem heble die Überwachung via Smartphone und PC unsere demokratischen Grundwerte aus. Welzer weist darauf hin, dass die digitalen Möglichkeiten der Einführung von „Selbstzwangstechnologien“(S. 26) uferlos seien. Und sie versprechen uns jedes Mal, die Welt besser bzw. einfacher zu machen. Für jedes Problem gebe es die richtigen Lösungen. Was wäre aber, wenn wir mit vielen Dingen gar kein Problem hätten und diese oder jene Smartphone-innovation gar nicht bräuch ten? Dieser ketzerischen Überlegung zum Trotz sind wir alle längst zu Datensammlern geworden und liefern freiwillig Angaben, die in Summe ein relativ genaues Abbild unseres Lebens liefern. Das wiederum ermögliche eine lückenlose Überwachung sowohl von staatlicher als auch privater Seite, was zur Erzeugung von informationeller Macht über Menschen führe, wie der Autor ausführt. Zu Mißverständnissen Anlaß gibt Welzers historischer Vergleich mit dem „Dritten Reich“. Am Bei-
„Es kommt also nicht darauf an, zukünftige Probleme immer verbissener auszumalen, sondern über das Leben jetzt zu sprechen, wenn man Menschen veranlassen möchte, mit einem zusammen Widerstand zu leisten.“(Harald Welzer in 100 , S. 276)
spiel von Cioma Schönhaus, einem in Berlin lebenden Juden, versucht er zu zeigen, dass sich „trotz Geheimpolizei, trotz radikaler Gewalt, trotz Überwachung, trotz Kontrolle, soziale Räume des Überlebens geboten“hätten (S. 38). Heute, so der Autor, gebe es solche Nischen nicht mehr. „Alle sozialen Felder, alle räumlichen Nischen sind taghell ausgeleuchtet. Was heißt: Es wird nicht nur niemand gerettet. Es gibt auch keinen Widerstand.“(S. 38) Heute, so seine Vermutung, hätte Schönhaus also nicht überlebt.
Welzer präzisiert im Folgenden seine düstere Analyse der Welt, die, so der Autor, heute schon ein totalitäres Narrenparadies geworden sei. Die „Übergangszonen ins Totalitäre“(ab S. 232) seien jene Bereiche, in denen sich Demokratisches in Diktatorisches verwandelt. Diese ortet Welzer erstens im Hyperkonsum, zweitens in der „Magisierung“des Marktes durch dessen Überhöhung von einem sozialen Mechanismus der Verteilung zu einer schicksalhaften Macht, drittens sei es die Art und Weise, wie Menschen ihre Beziehungen und ihre Identität gestalten (Sozialität). Weiters sieht er als Ergebnis der Digitalisierung den Wandel von der „res publica“zur „res oeconomica“. Als sechste Übergangszone definiert der Autor die Erklärung der individuellen Lebenslagen zum Schicksal („Schicksal schließt Politik aus“, S. 235). Als siebte Zone nennt der die um sich greifende „Bewertung“von allem und jedem, die schließlich zum Verschwinden der Privatheit durch die „Transparenz“genannte Überwachung als (alles umfassende) achte Zone führe.
Nach der überwiegend scharfsinnigen und trefflichen Beschreibung der Folgen der Digitalisierung eröffnet Welzer Optionen des Widerstands. Man müsse, so des Autors eindringlicher Appell, vor allem eine andere Zukunft wollen als jene der smarten Diktatoren mit ihren langweiligen und phantasielosen Effizienzhöllen. „Gerade in unserer absurden Gegenwart, die zwischen dem höchsten jemals erreichten Lebensstandard und realen und irrationalen Ängsten vor allem und jedem oszilliert, sind Zukunftsbilder, Skiz zen eines möglichen anderen Lebens, Wirtschaftens und Kooperierens unverzichtbar.“(S. 248) Mit zahlreichen anderen Autorinnen ist er überzeugt, dass wir die digitale Zukunft (noch) gestalten können. „Vorwärts zum Widerstand“(ab S. 259) heißt denn auch das abschließende Kapitel, in dem der Soziologe dazu auffordert, für die Freiheit und die Demokratie zu kämpfen. Dieser Einsatz müsse mutig sein und Unterhaltungswert haben, um auch „die Coolen“zum Mitmachen zu bewegen. Neben Prak tiken der paradoxen Intervention empfiehlt der Au tor, nicht im Internet einzukaufen, Updates zu verweigern und das Smartphone überhaupt wegzuwerfen. Gegen die smarte Diktatur – die „digitale Entlebendigung“– müsse man das reale Leben, Po esie, Musik, Sex, Liebe, eben alles was Leben ausmacht, setzen. Eine bemerkenswerte, nachdenklich stimmende Analyse, von der der deutsche Philosoph Richard David Precht während der Buchprä sentation in Berlin sagte, er habe seit langem kein Buch so schnell und in einem Rutsch durchgelesen und habe am Ende so schlechte Laune gehabt wie bei diesem Buch (zit. nach Rezensionen v. 11.5.2016 unter kulturbuchtipps.de).
Digitalisierung: Freiheit 100 Welzer, Harald: Die smarte Diktatur. Der Angriff auf unsere Freiheit. Frankfurt/m.: S. Fischer, 2016. 319
S., € 19,99 [D], 20,60 [A] ; ISBN 978-3-10-002491-6
„Die wachsenden Emissionsmengen, die den Klimawandel anfeuern, haben ihre Ursache in Konsum und Hyperkonsum, die dafür erforderlichen Material- und Energiemengen müssen, wegen des ‚globalen Wettbewerbs‘, so billig wie möglich gewonnen werden, weshalb Raubbau an Naturressourcen wie an menschlicher Arbeitskraft betrieben wird, was zu sozialer Ungleichheit und auch zu Konflikten und Kriegen und Terrorismus führt, weshalb expansive Überwachungsstrategien verfolgt werden (…).“(Harald Welzer in , S. 16)