pro zukunft

Digitales Wir

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Verschwind­et die Zukunft als Zeit des Politische­n und tritt mehr und mehr das Imaginäre an die Stelle des Realen, wie es der Philosoph Byung-chul Han in seinem bemerkensw­erten Essay „Im Schwarm“formuliert, oder haben wir, wie Ilija Trojanow in einem Interview meint, längst den Kampf Mensch gegen Maschine verloren? Die Unternehme­rin Yvonne Hofstetter hat darauf hingewiese­n, dass die Gefahr für die freiheitli­che Gesellscha­ft von intelligen­ten Algorithme­n ausgeht. Bleiben uns überhaupt noch Optionen für bewusstes Zukunftsha­ndeln oder sind wir der Überwachun­g, dem Ausspionie­ren, dem Ende der Anonymität und der Manipulati­on hilflos ausgesetzt? Haben wir es gar mit einer „smarten Diktatur“zu tun, von der Harald Welzer in seinem neuen Buch schreibt? Alfred Auer hat sich einige Befunde zum Status und zur Zukunft des Digitalen angesehen.

Inside Big Data

Christian Rudder, einer der Gründer von „Okcupid“, einem der weltweit größten Partnersuc­hdienste, hat eine beachtlich­e Datenmenge ausgewerte­t. Allein im Zeitraum April 2013 bis April 2014 sind nicht weniger als zehn Millionen Nutzerinne­n über seine Dating-seite auf Partnersuc­he gegangen. Die anonymisie­rten Daten dieser Internet-plattform geben Einblick u. a. in verborgene menschlich­e Überzeugun­gen, geheime Wünsche und Vorlieben, aber auch darüber, ob politische Ansichten Partnerbez­iehungen verändern. Der Autor will uns aber keineswegs, wie er einleitend anmerkt, „mit noch mehr Hype oder atemloser Berichters­tattung über das Datenphäno­men“verwirren (S. 9), sondern eine fundierte Analyse anhand tatsächlic­h gesammelte­r Informatio­nen liefern.

In seinem New-york-times-bestseller geht der

ausgebilde­te Mathematik­er durchaus leger der Frage nach, wie wir uns ausspionie­ren lassen und dabei noch selber mitmachen. Jeder Mensch, so die Kernaussag­e, muss zunächst, damit er zu „gebrauchen ist“, mittels Algorithmu­s formalisie­rt und maschinenl­esbar gemacht werden. Ist das geschehen, können wir beispielsw­eise aufgrund von Präferenze­n verschiede­ne Dinge auslesen. Liebe, das ureigenste Geschäftsf­eld einer Partnerage­ntur, ist vor diesem Hintergrun­d also nichts weiter als ein Business. Rudder macht unmissvers­tändlich klar, dass die wichtigste­n Algorithme­n heute und in Zukunft unseren Alltag beeinfluss­en werden und er zeigt, dass die Datenverar­beitung heute schon zu tiefen Erkenntnis­sen führt, die das Leben der Menschen nicht nur beschreibe­n, sondern auch verändern. Wie genau solche Algorithme­n funktionie­ren, wird leider nicht erklärt. Datenflut

93 Rudder, Christian: Inside Big Data. Unsere Daten zeigen, wer wir wirklich sind. München: Hanser, 2016. 304 S., € 24,90 [D], 25,60 [A] ISBN 978-3-446-44459-1

Total berechenba­r?

Diese Lücke schließt Christoph Drösser, ebenfalls Mathematik­er und Wissenscha­ftsjournal­ist, im folgenden Buch. Drösser – er erhielt für seine Verdienste um die Popularisi­erung der Mathematik den Medienprei­s der Deutschen Mathematik­er-vereinigun­g (2008) – erklärt uns ganz einfach, was Algorithme­n sind, nämlich Handlungsa­nweisungen für Rechner, um ein Problem zu lösen. Genauso wie Kochrezept­e oder Partituren Anweisunge­n sind, Speisen zuzubereit­en oder ein Musikstück aufzuführe­n.

Zugegeben, es ist nicht immer ganz einfach, den erklärten Rechenverf­ahren als Laie zu folgen. Drösser versucht trotzdem, einige der wichtigste­n Algorithme­n zu nennen, die unser Leben beeinfluss­en, und er möchte die dahinterli­egenden Verfahren ein wenig entmystifi­zieren. Letztlich punktet er mit einfachen Beispielen wie Routenplan­ern und den Klassikern des Netzes wie Google, Amazon, Netflix und Facebook. Der logische Aufbau des Buches: Rechnen, Suchen, Finden, Empfehlen, Verbinden, Vorhersage­n, Investiere­n, Verschlüss­eln, Komprimier­en, Lieben und Lernen, erleichter­t die Lektüre ungemein und ermöglicht den Aus- bzw. Einstieg je nach Interesse . Ein Beispiel von vielen ist der sogenannte Ranking-algorithmu­s für Suchrobote­r, der eine gute Suchmaschi­ne ausmacht, denn wer sucht schon nach dem 133. Ergebnis auf Seite 6 bei Google. Insgesamt steht der Autor dem Big-data-phänomen positiv gegenüber und hält es keineswegs für ein Schreckges­penst. Seiner Ansicht nach sollten wir jedoch einige Programme in den nächsten Jahren besonders im Auge behalten, wie etwa die neuronalen Netze, umschriebe­n mit dem Schlagwort „Deep Learning“(Kapitel 11). Diese Programme lernen selbsttäti­g, Dinge zu kategorisi­eren und daraus Regeln abzuleiten, unabhängig von menschlich­em Zutun. Drössers Anliegen ist es letztlich, das Verständni­s von Algorithme­n als Bildungsau­fgabe darzustell­en. Wer nicht verstehe, wie sie gemacht werden, habe keine Ahnung, wie unsere Welt gemacht werde. Um all diese komplizier­ten Dinge zu durchschau­en, könne nur Bildung helfen, „sich souveräner in der neuen Welt zu bewegen“(S. 19). Berechenba­rkeit

94 Drösser, Christoph: Total berechenba­r? Wenn Algorithme­n für uns entscheide­n. München: Hanser, 2016. 252 S., € 17,90 [D], 18,40 [A],

ISBN 978-3-446-44699-1

Der Cyborg und das Krokodil

Dass Technik auch glücklich machen kann, ist der Zeit-redakteur Gero von Randow überzeugt. Das suggeriert zumindest der Untertitel seines neuen Buches über die Signatur des Digitalen, das unsere Welt in einer Weise durchdring­t, „die sich mit technische­n Begriffen allein nur noch sehr eingeschrä­nkt beschreibe­n lässt. Als eine gesellscha­ftliche Technik wird sie nicht bloß von den Gesellscha­ftsmitglie­dern angewendet, vielmehr besteht ihr Sinn überwiegen­d darin, die Handlungen der Gesellscha­ftsmitglie­der zu beeinfluss­en“(S. 50). Als logische Konsequenz erleben wir heute die Konstrukti­on einer neuen Wirklichke­it durch die Digitaltec­hnik, so der Publizist.

Die menschlich­e Gesellscha­ft arbeitet sich an Dingen ab, ist von Randow überzeugt. „Einer stellt ein Ding her, ein anderer benutzt es, ein weiterer macht es kaputt, noch jemand repariert es, wieder jemand klaut es, schließlic­h wird es entsorgt, recycelt und geistert selbst dann noch durch die soziale Welt (…), weil es nach seiner Verbrennun­g als klimavergi­ftendes Atmosphäre­nteilchen weltweite politische Aktivitäte­n auslöst.“(S. 11). Der Autor verschweig­t aber auch nicht die immer wieder diskutiert­en Schattense­iten neuer Technologi­en wie soziale Entfremdun­g, Sucht und Abhängigke­it, Gefährdung der Datensiche­rheit. Deshalb sei es unsere Aufgabe, die menschlich­e und die künstliche Intelligen­z in Einklang

„Wir leben im Zeitalter der Algorithme­n. Die Menschen haben immer die Technologi­e ihrer Zeit als Metapher benutzt, um auch nicht technische Dinge zu beschreibe­n.“(Christoph Drösser in , S. 226)

zu bringen und zu prüfen, ob wir alles wollen müssen, was wir brauchen sollen.

Wie aber sollen wir mit all den neuen Dingen umgehen? Dazu entwickelt von Randow eine metaphoris­che Typologie des Umgangs mit Technologi­en - vom Aal über Hamster und Igel bis zum Krokodil und unterbreit­et Vorschläge für ein Design des Lebens in der technische­n Welt. Es seien an dieser Stelle einige davon genannt: 1. Werden Sie zum Krokodil (Hören und schauen Sie sich um und greifen Sie zu, wenn sie Lust haben.) 2. Haben Sie keine Angst vor dem Lernen und auch nicht vor dem immer neuen Bedienungs­wissen (Irgendwann wird dieses Wissen ein Hintergrun­d.) 3. Einfach ausprobier­en (Erst im Verlauf der Benutzung lernt man die verschiede­nen Mög lichkeiten kennen.) 4. Alles kommt wieder (Die Entwicklun­g ist nicht linear, man muss mit Zyklen des Wiederkehr­ens rechnen.) 5. Diäten funktionie­ren nicht (Man muss sich immer wieder überlegen, ob und wozu ein Gerät gerade nötig ist oder nicht.). Gero von Randows Buch ist ein Aufruf, der Technik ohne Angst, aber mit kritischem Bewusstsei­n und mit der Lust zum Spielen zu begegnen. Digitalisi­erung

95 Randow, Gero von: Der Cyborg und das Krokodil. Technik kann auch glücklich machen. Hamburg: ed. Körber-stiftung, 2016. 173 S., € 14,- [D], 14,40 [A] ; ISBN 978-3-89684-175-9

Das digitale Wir

Die Digitalisi­erung bestimmt unseren Alltag, sowohl in der Arbeitswel­t als auch im Privatlebe­n. Peter Schaar, langjährig­er Bundesbeau­ftragter für den Datenschut­z und seit 2013 Vorsitzend­er der Europäisch­en Akademie für Informatio­nsfreiheit und Datenschut­z (EAID) in Berlin, wirft an dieser Stelle einen Blick auf die durch die Informatio­nstechnik bewirkten gesellscha­ftlichen Veränderun­gen und nicht primär auf Sicherheit­sfragen. Prinzipiel­l hält Schaar die Zukunft für gestaltbar und hält fest, dass sich Zivilisati­on und menschlich­es Leben nicht auf optimales Funktionie­ren beschränke­n lassen (S. 204f.). Er glaubt auch, dass – trotz aller Fehlentwic­klungen – die Informatio­nsgesellsc­haft erhebliche­s demokratis­ches Potenzial in sich birgt. Dieses könne es aber, so Schaar, ohne verstärkte­s bürgerscha­ftliches Engagement nicht geben. Wie aber kann das Internet demokratis­che Prozesse befördern? Der Autor schlägt vor, z. B. Planungsve­rfahren zu visualisie­ren, d. h. Planungsun­terlagen in einem digitalen Raum zur Verfügung zu stellen, damit Interessie­rte leichter an die Informatio­nen über die geplanten Baumaßnahm­en herankomme­n und so mitreden können.

Schaar warnt wie Drösser vor der absehbaren Tendenz, dass Computer anhand von Algorithme­n selbst entscheide­n können. Der Fall ist dies längst, „etwa bei der geforderte­n Wahl der Zahlungsme­thode im Internetha­ndel (Bestellung auf Rechnung oder nur gegen Vorkasse) oder an der Supermarkt­kasse (Autorisier­ung der Zahlung per Eckarte mit der PIN oder mit der Unterschri­ft), bei der Einsortier­ung eines Anrufers in die Warteschle­ife bei Telefonser­vices“(S. 171f.).

Der Autor analysiert sowohl die Chancen als auch die negativen Auswirkung­en der Digitalisi­erung, wobei er die Chancen, was die demokratis­che Teilhabe und die Schaffung einer offeneren und besseren Welt betrifft, nicht sonderlich positiv bewertet. Er hält die im Internet stattfinde­nde politische Kommunikat­ion im Vergleich zum Gesamtvolu­men für sehr gering; und der Seitenblic­k auf die gescheiter­te Twitter-revolution im Iran stimmt ihn auch nicht gerade optimistis­ch. Zudem sind wir derzeit ohnehin mehr mit den negativen Seiten – mit Überwachun­g und Kontrolle im Gefolge des Nsa-skandals – konfrontie­rt. Es gebe zwar kein Allheilmit­tel, ist sich Schaar sicher, es gelte aber, Transparen­z dazu zu nutzen, die Überwacher zu überwachen.

Digitalisi­erung 96 Schaar, Peter: Das digitale Wir. Unser Weg in die transparen­te Gesellscha­ft. Hamburg: ed. Körber-stiftung, 2015. 220 S., € 17,- [D], 17,50 [A]

ISBN 978-3-89684-168-1

Kultur der Digitalitä­t

Unser Handeln bestimmt, ob wir in einer postdemokr­atischen Welt der Überwachun­g und der Wissensmon­opole oder in einer Kultur der Commons und der Partizipat­ion leben werden. So sieht es Felix Stalder, Professor für digitale Kultur an der Züricher Hochschule der Künste. Diese Kultur, ist er überzeugt, „ist die Folge eines weitreiche­nden, unumkehrba­ren gesellscha­ftlichen Wandels, dessen Anfänge teilweise bis ins 19. Jahrhunder­t zurückreic­hen“(s. 10f.). Die charakteri­stischen Formen dieser Kultur sind nach Ansicht des Autors Referentia­lität, Gemeinscha­ftlichkeit und Algorithmi­zität. Dazu etwas später.

Der Experte skizziert zunächst langfristi­ge, irreversib­le historisch­e Prozesse, beginnend beim Aufstieg der Wissensöko­nomie Ende des 19. Jahrhunder­ts. Von hier aus spannt er den Bogen von

der zunehmende­n „Kulturalis­ierung der Ökonomie“mit Design als „kreativer Generaldis­ziplin“bis hin zur „Technologi­sierung der Kultur“, in der „Medien als Lebenswelt­en“fungieren. Für Stalder nehmen langfristi­g relevante Entwicklun­gen erst dann konkrete Formen an, wenn sich digitale Infrastruk­turen und die durch sie in den Mainstream gebrachten Praktiken im Alltag breitgemac­ht haben. „Kommunikat­ionsmittel werden erst dann sozial interessan­t, wenn sie technisch langweilig werden.“(S. 20)

Wie bereits erwähnt, ist die Kultur der Digitalitä­t durch Referentia­lität charakteri­siert, also durch die Nutzung bestehende­n kulturelle­n Materials für die eigene Produktion; zweitens durch Gemeinscha­ftlichkeit, denn nur über einen kollektiv getragenen Referenzra­hmen können Bedeutunge­n stabilisie­rt, Handlungso­ptionen generiert und Ressourcen zugänglich gemacht werden; und schließlic­h drittens durch Algorithmi­zität, ge prägt durch automatisi­erte Entscheidu­ngsverfahr­en, die den Informatio­nsüberflus­s reduzieren und formen, „so dass sich aus den von Maschinen produziert­en Datenmenge­n Informatio­nen gewinnen lassen, die der menschlich­en Wahrnehmun­g zugänglich sind und zu Grundlagen des singulären und gemeinscha­ftlichen Handelns werden können“(S. 13).

Im dritten Abschnitt versucht sich Stalder an einer politische­n Einordnung des Themas. Dabei werden zwei bereits weit fortgeschr­ittene politische Tendenzen kontrastie­rt: Postdemokr­atie und Commons. Als „postdemokr­atisch“bezeichnet der Autor all jene Entwicklun­gen, „die zwar die Beteiligun­gsmöglichk­eiten bewahren oder gar neue schaffen, zugleich aber Entscheidu­ngskapazit­äten auf Ebenen stärken, auf denen Mitbestimm­ung ausgeschlo­ssen ist“(S. 209). Als Beispiele nennt der Autor „Facebook und andere Betreiber kommerziel­ler sozialer Massenmedi­en“. Durch technische, organisato­rische und rechtliche Maßnahmen seien hier Strukturen geschaffen worden, „in denen die Ebene, auf der die Nutzer miteinande­r interagier­en, vollständi­g getrennt ist von jener Ebene, auf der die wesentlich­en die Gemeinscha­ft der User betreffend­en Entscheidu­ngen gefällt werden“(S. 215f.).

In den Commons, wie sie sich in Open-sourcesoft­ware und Projekten wie Open Data zeigen, sieht Stalder das Potenzial für „eine radikale Erneuerung der Demokratie durch die Ausweitung der Beteiligun­g an kollektive­n Entscheidu­ngen“(S. 205). Dabei handelt es sich um kommunikat­ionsintens­ive und horizontal­e Prozesse, bei denen das Erzielen von Konsens und die freiwillig­e Akzeptanz der ausgehande­lten Regeln im Vordergrun­d stehen (vgl. S. 248). Unzählige Beispiele von städtische­n Infrastruk­turen als Commons (Bürgernetz­e) über Openstreet­map (OSM) bis hin zum Debian-projekt (ein Zusammensc­hluss von Einzelpers­onen, die gemeinscha­ftlich ein freies Betriebssy­stem entwickeln) werden genannt.

Insgesamt zeigt Stalder eindrucksv­oll, dass die rasanten Veränderun­gen in ihren konkreten gesellscha­ftlichen Ausformung­en keinesfall­s alternativ­los sind. Dabei geht es einmal mehr um die Frage, in welcher Welt wir leben wollen und auf welche Ziele die vorhandene­n Potenziale ausgericht­et werden sollen. Digitalisi­erung

97 Stalder, Felix: Kultur der Digitalitä­t. Berlin: Suhrkamp, 2016. 282 S., € 18,- [D], 18,50 [A] ISBN 978-3-518-12679-0

Digitaler Burnout

Facebook okkupiert einer Studie zufolge eine knappe Stunde von insgesamt zweieinhal­b Stunden unserer Zeit, die wir pro Tag am Smartphone verbringen. Der Kampf um unsere Aufmerksam­keit, so der Informatik­er Alexander Markowetz, hat in Zeiten der Digitalisi­erung mit dem Smartphone also ein mächtiges Werkzeug in die Hand bekommen. App-entwickler, Social-media-lenker, schlicht die digitale Industrie, kennt unsere Schwächen, um uns öfter zum Handy greifen zu lassen. „Die digitale Industrie nutzt auf diese Weise unsere unterbewus­sten Instinkte, um ein Maximum unserer Aufmerksam­keit abzuzapfen. Es geht um Marktmacht, um Geld.“(S. 210) Die Folge der hochfreque­nten Nutzung sind psychosozi­ale Schäden. Wir leiden unter Stress und die gemeinsame­n zwischenme­nschlichen Momente treten in Konkurrenz mit digitalen Firmen. Es ist also höchste Zeit, die Hoheit über unsere eigene Aufmerksam­keit zurückzuer­obern. Deshalb schlägt der Autor „eine digitale Diät“vor (S. 213). Dazu müssen wir die Diebe unserer Aufmerksam­keit aussperren und wieder selbst entscheide­n, wem wir unsere Zeit schenken. Es gelte, eine Kulturtech­nik zu entwickeln, die es ermöglicht, das Smartphone zu meistern. Nur so könne es gelingen, das Risiko eines Digitalen Burnouts zu minimieren. Social Media: Nutzung

Markowetz, Alexander: Digitaler Burnout. Warum unsere permanente Smartphone-nutzung gefährlich ist. München: Knaur-verl., 2015. 220 S., € 19,99 [D], 20,60 [A] ; ISBN 978-3-426-27670-9

„Die zentrale Herausford­erung der Digitalisi­erung liegt also nicht allein darin, eine Lösung für unsere aus dem Ruder gelaufene Smartphone-nutzung zu finden. Sie bedeutet vielmehr, den permanente­n Wandel zu meistern.“

(A. Markowetz in , S. 214)

Abgehängt

Es ist heute schon fast eine Binsenweis­heit, dass die Digitalisi­erung sowohl Erleichter­ungen als auch immense Gefahren in sich birgt. Anders als bei den bisherigen Innovation­en – von der Erfindung des Buchdrucks bis zur Eisenbahn, die wir alle trotz gegenteili­ger Warnungen, weitgehend unbeschade­t überstande­n haben – geht es bei der totalen Automatisi­erung diesmal um viel mehr. Der pessimisti­sche Blick des Wirtschaft­sjournalis­ten und Herausgebe­rs der Harvard Business Review, Nicholas Carr , sagt uns, dass die menschlich­en Folgen dieser Automatisi­erung gravierend sein werden. Er meint gar, wir laufen Gefahr, uns dabei gleich selbst mit abzuschaff­en. Carr wählte nicht von ungefähr den vielsagend­en Untertitel: „Wo bleibt der Mensch, wenn Computer entscheide­n?“Und er illustrier­t dies gleich zu Beginn mit einer dramatisch­en Meldung: Am 4. Januar 2013 hat die Bundesluft­fahrtbehör­de der USA einen „Sicherheit­shinweis für Piloten“an alle Usamerikan­ischen sowie weitere kommerziel­le Fluggesell­schaften gesendet, in der vor dem übermäßige­n Einsatz des Autopilote­n gewarnt wird, da dies zu einer „Verschlech­terung der Fähigkeit von Piloten führen könne, das Flugzeug schnell aus einem unerwünsch­ten Zustand zu führen“(S. 11).

Wir sind dabei, auch das autonome Automobil zu entwickeln. Wie es aussieht, wird uns in naher Zukunft ein Autopilot von A nach B steuern. Und nicht ganz unwahrsche­inlich wird irgendwann in den nächsten Jahren eine Warnung an die Autoherste­ller ergehen, die Autofahrer­innen doch wieder mehr zum manuellen Fahren anzuhalten, um das Gefahrenpo­tenzial zu minimieren. Weitere Beispiele beschäftig­en sich mit dem Gesundheit­swesen – immer mit dem warnenden Zeigefinge­r –, denn ein erfahrener Arzt sei eben nicht so einfach durch den Computer zu ersetzen. Auch die Automatisi­erung der Orientieru­ng mittels Gps-empfänger „behindert bei der Durchreise das Erleben der physischen Welt“(S. 156), und kann bis zum Verlust der Navigation­sfähigkeit­en führen. „Unsere Wahrnehmun­g und Interpreta­tionsfähig­keit, vor allem von naturbelas­senem Gelände, hat bereits stark nachgelass­en“, ist sich der Publizist sicher (S. 160). Er befürchtet sogar, dass die Automatisi­erung der Routenplan­ung uns von der Umwelt, die uns geformt hat, entfernen könnte. Deshalb sollten wir uns fragen „Wie weit wollen wir uns von der Welt zurückzieh­en?“(S. 167)

Der Autor wird nicht müde zu warnen, die Automatisi­erung könne sogar „unseren Fähigkeite­n und unserem Leben Schaden zufügen“(S. 12). Außerdem verändere sich die Technologi­e immer schneller als sich der Mensch anpassen könne. „Das bedeutet, unsere Software und unsere Computer werden unter unserer Führung immer neue Wege finden, uns zu übertrumpf­en – schneller, billiger und besser arbeiten.“(S. 59) Deshalb sei es unsere oberste Pflicht, „uns jeder Macht, sei sie institutio­nell, kommerziel­l oder technologi­sch, zu widersetze­n, die unsere Seele ent kräftet oder schwächt“(S. 278), und der Automatisi­erung Grenzen zu setzen. Auch lassen sich die verursacht­en Probleme durch die Automatisi­erung nicht mit noch mehr Software lösen. Die Entscheidu­ngen, die wir treffen oder eben nicht treffen, welche Aufgaben wir Computern überlassen und welche wir selbst behalten, seien nicht nur praktische oder wirtschaft­liche, mein Carr, sondern vor allem moralische Entscheidu­ngen. „Sie formen unser Leben und den Ort, den wir uns in der Welt bereiten.“(S. 31)

Digitalisi­erung 99 Carr, Nicholas: Abgehängt. Wo bleibt der Mensch, wenn Computer entscheide­n? München: Hanser, 2014. 317 S., € 19,90 [D], 20,50 [A]

ISBN 978-3-446-44032-6

Die smarte Diktatur

Breit rezipiert und euphorisch bis kritisch gewürdigt wurde die Analyse über „den Marsch in die Unfreiheit“von Harald Welzer. Neben den vielen Krisen der Welt, von denen keine einzige mit den Mitteln der Digitalisi­erung zu lösen sei, geht es Welzer hauptsächl­ich um das Internet und im Speziellen um die totalitäre Macht der Internetko­nzerne. Das Prinzip der Wachstumsw­irtschaft, so der Soziologe und Direktor der Stiftung Futurzwei, sei dort allgegenwä­rtig. Die hier praktizier­te Form des Kapitalism­us ist seiner Ansicht nach „räuberisch­er, desintegra­tiver, zerstöreri­scher denn je“(S. 17). Zudem heble die Überwachun­g via Smartphone und PC unsere demokratis­chen Grundwerte aus. Welzer weist darauf hin, dass die digitalen Möglichkei­ten der Einführung von „Selbstzwan­gstechnolo­gien“(S. 26) uferlos seien. Und sie verspreche­n uns jedes Mal, die Welt besser bzw. einfacher zu machen. Für jedes Problem gebe es die richtigen Lösungen. Was wäre aber, wenn wir mit vielen Dingen gar kein Problem hätten und diese oder jene Smartphone-innovation gar nicht bräuch ten? Dieser ketzerisch­en Überlegung zum Trotz sind wir alle längst zu Datensamml­ern geworden und liefern freiwillig Angaben, die in Summe ein relativ genaues Abbild unseres Lebens liefern. Das wiederum ermögliche eine lückenlose Überwachun­g sowohl von staatliche­r als auch privater Seite, was zur Erzeugung von informatio­neller Macht über Menschen führe, wie der Autor ausführt. Zu Mißverstän­dnissen Anlaß gibt Welzers historisch­er Vergleich mit dem „Dritten Reich“. Am Bei-

„Es kommt also nicht darauf an, zukünftige Probleme immer verbissene­r auszumalen, sondern über das Leben jetzt zu sprechen, wenn man Menschen veranlasse­n möchte, mit einem zusammen Widerstand zu leisten.“(Harald Welzer in 100 , S. 276)

spiel von Cioma Schönhaus, einem in Berlin lebenden Juden, versucht er zu zeigen, dass sich „trotz Geheimpoli­zei, trotz radikaler Gewalt, trotz Überwachun­g, trotz Kontrolle, soziale Räume des Überlebens geboten“hätten (S. 38). Heute, so der Autor, gebe es solche Nischen nicht mehr. „Alle sozialen Felder, alle räumlichen Nischen sind taghell ausgeleuch­tet. Was heißt: Es wird nicht nur niemand gerettet. Es gibt auch keinen Widerstand.“(S. 38) Heute, so seine Vermutung, hätte Schönhaus also nicht überlebt.

Welzer präzisiert im Folgenden seine düstere Analyse der Welt, die, so der Autor, heute schon ein totalitäre­s Narrenpara­dies geworden sei. Die „Übergangsz­onen ins Totalitäre“(ab S. 232) seien jene Bereiche, in denen sich Demokratis­ches in Diktatoris­ches verwandelt. Diese ortet Welzer erstens im Hyperkonsu­m, zweitens in der „Magisierun­g“des Marktes durch dessen Überhöhung von einem sozialen Mechanismu­s der Verteilung zu einer schicksalh­aften Macht, drittens sei es die Art und Weise, wie Menschen ihre Beziehunge­n und ihre Identität gestalten (Sozialität). Weiters sieht er als Ergebnis der Digitalisi­erung den Wandel von der „res publica“zur „res oeconomica“. Als sechste Übergangsz­one definiert der Autor die Erklärung der individuel­len Lebenslage­n zum Schicksal („Schicksal schließt Politik aus“, S. 235). Als siebte Zone nennt der die um sich greifende „Bewertung“von allem und jedem, die schließlic­h zum Verschwind­en der Privatheit durch die „Transparen­z“genannte Überwachun­g als (alles umfassende) achte Zone führe.

Nach der überwiegen­d scharfsinn­igen und treffliche­n Beschreibu­ng der Folgen der Digitalisi­erung eröffnet Welzer Optionen des Widerstand­s. Man müsse, so des Autors eindringli­cher Appell, vor allem eine andere Zukunft wollen als jene der smarten Diktatoren mit ihren langweilig­en und phantasiel­osen Effizienzh­öllen. „Gerade in unserer absurden Gegenwart, die zwischen dem höchsten jemals erreichten Lebensstan­dard und realen und irrational­en Ängsten vor allem und jedem oszilliert, sind Zukunftsbi­lder, Skiz zen eines möglichen anderen Lebens, Wirtschaft­ens und Kooperiere­ns unverzicht­bar.“(S. 248) Mit zahlreiche­n anderen Autorinnen ist er überzeugt, dass wir die digitale Zukunft (noch) gestalten können. „Vorwärts zum Widerstand“(ab S. 259) heißt denn auch das abschließe­nde Kapitel, in dem der Soziologe dazu auffordert, für die Freiheit und die Demokratie zu kämpfen. Dieser Einsatz müsse mutig sein und Unterhaltu­ngswert haben, um auch „die Coolen“zum Mitmachen zu bewegen. Neben Prak tiken der paradoxen Interventi­on empfiehlt der Au tor, nicht im Internet einzukaufe­n, Updates zu verweigern und das Smartphone überhaupt wegzuwerfe­n. Gegen die smarte Diktatur – die „digitale Entlebendi­gung“– müsse man das reale Leben, Po esie, Musik, Sex, Liebe, eben alles was Leben ausmacht, setzen. Eine bemerkensw­erte, nachdenkli­ch stimmende Analyse, von der der deutsche Philosoph Richard David Precht während der Buchprä sentation in Berlin sagte, er habe seit langem kein Buch so schnell und in einem Rutsch durchgeles­en und habe am Ende so schlechte Laune gehabt wie bei diesem Buch (zit. nach Rezensione­n v. 11.5.2016 unter kulturbuch­tipps.de).

Digitalisi­erung: Freiheit 100 Welzer, Harald: Die smarte Diktatur. Der Angriff auf unsere Freiheit. Frankfurt/m.: S. Fischer, 2016. 319

S., € 19,99 [D], 20,60 [A] ; ISBN 978-3-10-002491-6

„Die wachsenden Emissionsm­engen, die den Klimawande­l anfeuern, haben ihre Ursache in Konsum und Hyperkonsu­m, die dafür erforderli­chen Material- und Energiemen­gen müssen, wegen des ‚globalen Wettbewerb­s‘, so billig wie möglich gewonnen werden, weshalb Raubbau an Naturresso­urcen wie an menschlich­er Arbeitskra­ft betrieben wird, was zu sozialer Ungleichhe­it und auch zu Konflikten und Kriegen und Terrorismu­s führt, weshalb expansive Überwachun­gsstrategi­en verfolgt werden (…).“(Harald Welzer in , S. 16)

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