Gelebter Islam: Versachlichung der Debatte
Der Islam gilt als eines der großen politischen Themen unserer Zeit. Es geht um sein Verhältnis zu den „Werten“westeuropäischer Gesellschaften sowie sein radikales Potenzial. Ist die von vielen Europäern als fremd empfundene Religion eine Gefahr für die Demokratie und der Nährboden für terroristische Aktivitäten? Oder ist die mitunter heftige öffentliche Kritik am Islam und den Muslimen heillos übertrieben und nur politisches Kalkül von Populisten und Demagogen? Eine Reihe von Autorinnen kommen zum Schluss, dass weder die eine noch die andere Bestandsaufnahme zutreffend ist, sondern die Debatte vor allem zwei Dinge braucht: Versachlichung und Differenzierung. Birgit Bahtic-kunrath hat sich aktuelle Publikationen zum Thema angesehen.
Europäischer Islam
Wie leben Muslime in Europa? Welche Bedeutung hat der Islam für den Alltag, spielt die Sharia eine Rolle, warum tragen manche Musliminnen Kopftuch, andere nicht?
Die französische Soziologin Nilüfer Göle hat Muslime in 21 europäischen Städten zu ihrem Alltagsleben befragt und zeigt, dass deren neue Sichtbarkeit in der Öffentlichkeit vielfach irritierend wirkt: Tatsächlich werden gerade jene Muslime, die sich aktiv in die Gesellschaft einbringen und damit eine echte Integrationsanstrengung machen, als größte Bedrohung wahrgenommen (S. 94f.). Dazu kommt, dass muslimischer Alltag in Europa mit zahlreichen Konflikten mit der Mehrheitsgesellschaft konfrontiert ist. Ein besonders wichtiges Thema für Göle ist der Konflikt zwischen Kunstfreiheit und Beleidigung des Islam. Während die Autorin die Kunstfreiheit verteidigt, kritisiert sie die offensichtliche Lust an der Provokation und Beleidigung, die als Instrument für Integration missverstanden wird. Ähnlich verhält es sich mit dem Kopftuch, welches für viele Musliminnen ein Ausdruck von Selbstermächtigung ist. Doch sämtliche Errungenschaften dieser Frauen verschwinden hinter der Kritik am Kopftuch, welches als Integrationshemmnis gesehen wird (S. 166f.).
Die Tatsache, dass die meisten Muslime die Scharia ablehnen, zeigt, dass eine flexible europäische Lesart
des Islam durchaus möglich ist und auch betrieben wird. Stärkere Sichtbarkeit muslimischer Bedürfnisse bedeutet nicht Unterwanderung, wie das Beispiel von Halal-produkten zeigt: Europäische Muslime wollen ihren Lebensstil angleichen und verlangen nach Produkten, die ihren Wertvorstellungen entsprechen. Das gleicht den aktuellen Biobewegungen. (vgl. S. 205)
Die große Stärke des Buches ist zweifelsohne, dass Muslime zu Wort kommen, um ihre Perspektiven und Argumente darzulegen. Diese Stärke stellt aber auch eine Schwäche dar: Mitunter wirkt das gezeichnete Bild des Islam in Europa geschönt, was an der Auswahl der Studienteilnehmerinnen liegen mag: Ohne dass die Autorin genauere Auskunft darüber gibt, wirken die Befragten gebildet und reflektiert. Sie repräsentieren eine Elite, während die Perspektiven des muslimischen Prekariats in Europa nicht erfasst werden. Eine breitere Studie zu diesem Thema wäre daher wünschenswert. Muslime: Alltag
Göle, Nilüfer: Europäischer Islam. Muslime im Alltag. Berlin: Wagenbach, 2016. 299 S., € 24,- [D], 24,70 [A] ; ISBN 978-3-8031-3663-3
Der Islam in Deutschland
Islam gehöre zu Deutschland, postulierte einst der deutsche Kurzzeitpräsident Christian Wulff.
Die AFD hat kürzlich in ihrem Parteiprogramm das Gegenteil behauptet. Welche Rolle spielt der Islam in Deutschland wirklich? Der Jurist und Islamwissenschaftler Mathias Rohe hat ein umfassendes Buch zu dieser Frage vorgelegt, mit Fakten, die einen scharfen Kontrast zu den medial und politisch transportierten Bildern von Muslimen in Deutschland bilden.
Der Islam ist seit der Arbeitsmigration der 1960erund 70er-jahre in Deutschland präsent. Der Blick der deutschen Gesellschaft auf die Religion hat sich erst mit dem 11. September 2001 verschoben: Seitdem wird der Islam vor allem als Gefahr für Europa wahrgenommen. Rohe betont jedoch, dass die befürchtete „Islamisierung“bei maximal 5,2 Prozent Muslimen in Deutschland ein irrationales Schreckgespenst ist. Dazu kommt, dass bei weitem nicht alle Muslime religiös sind und sich ein Leben nach islamischen Regeln wünschen. Muslimisches Leben gestaltet sich also äußerst vielfältig.
Gleichzeitig spricht der Autor Integrationsprobleme offen an und betont, dass viele Muslime konservativ-traditionalistische Einstellungen pfle gen. Solche Einstellungen sind durchaus kritisierbar. Allerdings spielen sozio-ökonomische Faktoren eine wichtigere Rolle als Religionszugehörigkeit, was häufig ausgeblendet wird (S. 111). In Bezug auf islamischen Extremismus bezieht der Autor klar Stellung: „Im Umgang mit Extremismusgefahr ist der Rechtsstaat aufgefordert, einerseits seine Grundlagen zu verteidigen, andererseits aber auch rechtliche Maßstäbe zu wahren” (S. 173).
Kritisch betrachtet Rohe aktuelle Tendenzen, die Sichtbarkeit von Muslimen im öffentlichen Raum zu begrenzen, wie die Debatten über Moscheebauten, Kopftücher oder Schächten zeigen. Die meisten Muslime hätten kein Problem damit, die deutsche Demokratie im Einklang mit ihren religiösen Werten zu bringen.
Das Buch schließt mit einem Plädoyer für eine differenzierte Betrachtungsweise des muslimischen Lebens in Deutschland: „Statt pauschaler Urteile und Stereotypen von Verteufelung und Idealisie rung benötigen wir als Leitmotiv für Begegnungen und Beurteilungen im gesellschaftlichen Zusammenleben wie auch in der wissenschaftliche Aufarbeitung bei allen Beteiligten nur: Fairness“(S. 321). Deutschland: Islam
Rohe, Mathias: Der Islam in Deutschland. Eine Bestandsaufnahme. München: Beck, 2016. 416 S., €16,95 [D] 17,50 [A]
ISBN 978-3-406-69807-1
Dschihadismus in Europa
Auch wenn die meisten Muslime in Europa ein friedliches Leben als Teil der Mehrheitsgesellschaft anstreben, haben die seit Jänner 2015 gehäuft stattfindenden Terroranschläge gezeigt, dass der radikale Islam zu einer realen Gefahr in Europa geworden ist und es für europäische Gesellschaften zunehmend schwer ist, mit dem Phänomen ohne repressiver Maßnahmen gegen muslimische Bürgerinnen umzugehen.
Peter R. Neumann geht der wichtigen Frage nach, warum sich Personen radikalisieren, und zeigt, dass Wege zur Radikalisierung prozesshaft und höchst individuell verlaufen. Fünf „Bausteine“sollen Radikalisierung erklären, wobei keiner allein ein vollständiges Erklärungsmodell liefert: Zunächst erweist sich die Unfähigkeit, mit frustrierenden Erfahrungen umzugehen, als Gefahr. Dies betrifft vor allem sozial exkludierte junge Männer der zweiten und dritten Zuwanderergeneration. Umgekehrt können sich „autochtone“Europäerinnen radikalisieren, wenn sie Unmut darüber spüren, dass der Status quo ihrer Gesellschaft wankt. Dazu kommt der „Drang“, die Gefühlswelt von Individuen auf der Suche nach Identität, Gemeinschaft, Bedeutung, Ruhm, Abenteuer (S. 64). Vor allem die Verführung, dem sinnentleerten Leben einen Sinn zu geben, erweist sich als stark. Eine besonders wichtige Rolle bei Radikalisierungsprozessen spielen Ideen bzw. Ideologien: Gerade der salafistische Islam bietet Entwurzelten einfache Antworten auf komplexe Probleme. Das Gleiche lässt sich bei den zunehmend erstarkenden rechtsradikalen Bewegungen in Europa beobachten, die einem „kulturellen Genozid“vorbeugen wollen und dabei nicht nur Muslime, sondern auch Linke bekämpfen (S. 89). Neumann betont auch die Rolle von Vorbildern und sozialen Gruppen. Tatsächlich hat sich im Fall von Auslandskämpfern für den Islamischen Staat gezeigt, dass viele schlicht dem Freundeskreis oder dem charismatischen Führer in das Kriegsgebiet folgten. Als letzten Baustein nennt Neumann Gewalt. Eigene Gewalterfahrung, ein krimineller Hintergrund, aber auch staatliche Repression und Demütigungen erleichtern das Anwenden von Gewalt.
Zudem warnt Neumann vor neuen Trends bei Radikalisierungen. So hat Religion linke oder anarchistische Ideologien als Rechtfertigung für Terror abgelöst. Dazu kommt die Rolle des Internets als kraftvolles Propagandainstrument und als Möglichkeit, Personen ohne radikalisierte Freundeskreise anzusprechen. Diese sogenannten „ein-
„Es besteht eine Korrelation zwischen Demokratiedistanz und einer wirtschaftlich ungünstigen Lebenssituation mit geringer Bildung und subjektiven Erfahrungen von Diskriminierung und Ausgrenzung in der Aufnahmegesellschaft. Diese Befunde gleichen den Ergebnissen von Forschungsarbeiten zu Rechtsextremismus und Ausländerfeindlichkeit“(Mathias Rohe in 18 , S. 238)
samen Wölfe“stellen einen weiteren Trend dar; sie radikalisieren sich ohne größere Netzwerke (S. 182). Bemerkenswert ist die steigende Anzahl von jungen Frauen in dschihadistischen Bewegungen. Tatsächlich sehen manche europäische Musliminnen ihre Radikalisierung als Akt der Emanzipation, in dem sie scheinbar selbstbestimmt ein Leben jenseits feministischen Drucks leben. Der letzte große Trend, den Neumann ausmacht, ist die „Proletarisierung“des Dschihads: Waren Terroristen früher oft Teil einer intellektuellen Elite, hat vor allem der Islamische Staat eine breitere Rekrutierungsbasis geschaffen, die gerne auf bildungsferne Kriminelle zurückgreift, häufig in Ge fängnissen.
„Was tun?“, fragt Neumann am Ende seines Buches (S. 235). Der Autor verweist auf zwei Möglichkeiten: Prävention vor allem in der Jugendarbeit, in den lange vernachlässigten Vorstädten, den Gefängnissen und Schulen. Dort, wo Radikalisierung bereits passiert ist, können Deradikalisierungsprogramme Extremisten zurück in die Gesellschaft holen. Sollte es nicht gelingen, Radikalisierung und Terror Einhalt zu gebieten, steht laut Neumann mit Blick auf rechtspopulistische Bewegungen das europäische Gesellschaftssystem auf dem Spiel (S. 241).
Dschihadismus: Europa 19 Neumann, Peter R.: Der Terror ist unter uns. Dschihadismus und Radikalisierung in Europa. Berlin: Ullstein, 2016. 297 S., € 19,99 [D], € 20,60 [A]
ISBN 978-3-550-08153-8
Die streng Gläubigen
Während die politische Debatte um den Islam sich meist um dessen Präsenz in Europa und deren geglaubte und tatsächliche Auswirkungen dreht, wird die Herkunft islamistischer Bewegungen und deren Konsequenzen für die islamischen Länder nur wenig thematisiert. Diese Lücke schließt Wilfried Buchta, der sich mit dem Zusammenbruch des Nahen und Mittleren Ostens und dem Aufstieg fundamentalistischer Strömungen beschäftigt. Der Aufstieg des Islamismus in der Region ist zunächst Resultat einer gescheiterten panarabischen Politik, deren Nationalismus und Klientelismus eine verarmte Bevölkerung hinterließen. Dies stärkte Bewegungen wie die der Muslimbrüder, deren soziales Engagement einem traditionalistischen Islam zu neuer Bedeutung verhalf. Zudem wurde die Region ab den 1950er- Jahren durch die Interventionen von Großmächten permanent destabilisiert, die zudem meist scheiterten: „Ohne starke Anstöße von innen, ohne eine organisierte Massenbasis und ohne fest verwurzelte demokratische Partnerparteien sind alle Interventionen westlicher Staaten im Nahen Osten zum Scheitern verurteilt. Militärinterventionen westlicher Staaten können bestehende Übel nicht beseitigen, sondern nur verschlimmern.“(S. 50f) Die machtpolitischen Auseinandersetzungen zwi schen den beiden regionalen Hegemonen Saudiarabien und Iran tun ihr Übriges: Seit der islamischen Revolution im Iran weitet Teheran seine Einflussnahme auf schiitische Minderheiten in arabischen Nachbarländern aus, was vom wahabitischen Saudi-arabien bekämpft wird. Die damit einhergehende Förderung wahabitischer islamistischer Bewegungen in der Region soll das revolutionär-islamistisches Potenzial im eigenen Land unter Kontrolle halten und die saudi-arabische Lesart des Islam verbreiten.
Sieht man von den aktuellen Kriegen in der Region ab, sind auch andere Entwicklungen in bislang stabilen Ländern wie der Türkei, Ägypten und Tunesien wenig ermutigend. Bislang konnte sich nirgendwo eine Demokratie längerfristig konsolidieren. Ist der Islam der Grund dafür?
Wilfried Buchta verweist auf die vielen Spielarten des Islam und die Tradition des einst toleranten und multi-religiösen Orients. Jedoch würden in fast allen genannten Staaten die kulturell komplexeren Varianten des Islams zurückgedrängt: „Vielerorts weichen sie einem weitgehend uninformierten, spröden und letztlich ideologisch verhärteten Islamverständnis, wie es von Saudi-arabien und salafistisch-dschihadistischen Strömungen propagiert wird. Legt man nur diese islamistischen Ideologievarianten zugrunde, die ganz auf Ausgrenzung und Abgrenzung setzen, muss die Frage, ob der Islam ein Feind der westlichen Demokratie und Moderne ist, mit einem klaren Ja beantwortet werden“(S. 159f.).
Das Buch schließt mit einem hypothetischen Ausblick auf das Jahr 2026, in dem Buchta ein äußerst pessimistisches Bild für die Region und Europa zeichnet: eine im Krieg versunkene Region, im Konflikt zwischen Saudi-arabien und Iran aufgerieben, mit einer Präsidialdiktatur in der Türkei und einem zunehmend autoritär regierten Europa, welches unter islamistischen Terroranschlägen leidet. Das kann man so sehen, muss man aber nicht – die Geschichte ist voll von unvorhergesehenen Wendungen.
Fundamentalismus Buchta, Wilfried: Die streng Gläubigen. Fundamentalismus und die Zukunft der islamischen Welt. Berlin: Hanser, 2016. 240 S., € 20 [D], € 20,60 [A]
ISBN 978-3-446-25293-6
„Der Machtzuwachs strenggläubiger Fundamentalisten im Nahen Osten scheint unaufhaltsam, ob es sich nun um die schiitischen Revolutionäre des Iran und seine regionalen Verbündeten handelt oder um die sunnitisch-dschihadistischen Gotteskämpfer vom ‘Islamischen Staat’’, der Nusra-front oder einer der vielen von Saudi-arabien inspirierten und finanzierten militanten Sala fistengruppen.” (Wilfried Buchta in , S. 214)
Das hat der Prophet nicht gemeint
Dass ein toleranter, hoffnungsvoller Islam möglich ist und auch gelebt wird, zeigt das schmale Büchlein, in dem die iranische Friedensnobelpreisträgerin, Dissidentin, Frauen- und Mädchenrechtsaktivistin Shirin Ebadi ihre Sicht auf den Islam präsentiert; kommentiert von der Nahostexpertin Gudrun Harrer.
Aufgewachsen in einer liberalen aber religiösen Familie, erlebte die studierte Juristin die islamische Revolution im Iran, welche die Situation für Frauen dramatisch verschlechterte. Ebadis Motivation, den Iran nicht zu verlassen, war vom Wunsch geprägt, zur Unabhängigkeit von Frauen beizutragen, um sie aus dem Opfer-status zu befreien. Ebadi kritisiert die selektiven Sichtweisen auf den Koran, sowohl im Westen als auch von radikalen Islamisten. Für sie ist der Islam vereinbar mit Menschenrechten, wobei Ebadi als Gläubige auftritt, die sich für eine differenzierte Auslegung ihrer Religion einsetzt. Shirin Ebadis Biographie beweist, dass Islam und humanistisch-feministisches Engagement einander nicht ausschließen. Stattdessen kann der Islam auch ein kraftvoller Antrieb für Veränderung sein, wie Ebadis bemerkenswerte Menschenrechtsarbeit gezeigt hat. Islam: Frauenrechte
21 Ebadi, Shirin: Das hat der Prophet nicht gemeint. Ein Appell von Shirin Ebadi an die Welt. Wals bei Salzburg: Benevento Publ., 2016. 45 S., € 7,00 ISBN 978-3-7109-0007-5