Zuwandergesellschaft wider Willen?
Sind unsere Gesellschaften Einwanderungsgesellschaften? Lange Zeit hat sich die Politik dem Offensichtlichen verweigert, mit der Konsequenz, dass Integration, das Schaffen von sozialen und wirtschaftlichen Chancen von Migranten und Diskriminierung durch die Mehrheitsgesellschaft ignoriert wurden. Erst als die daraus resultierenden Probleme von rechtspopulistischen Parteien aufgegriffen wurden, wurde reagiert. Wie kann eine multikulturelle bzw. -religiöse Gesellschaft funktionieren, welche Erwartungen der Mehrheitsgesellschaft sollen Migrantinnen erfüllen und welche Rolle spielt die Einstellung der Aufnahmegesellschaft für gelungene Integration? Birgit Bahtic-kunrath hat sich die aktuelle Literatur zu diesen Fragen angesehen. Dagmar Baumgartner analysiert die Krisen in der arabischen Welt.
Deutschlandalsmultireligiöserstaat
Das Recht setzt den Rahmen für unser Zusammenleben; es strukturiert unsere Handlungen und definiert, welche Erwartungshaltungen an Staat und Gesellschaft legitim sind. Gerade in der aufgeheizten Debatte um multikulturelles bzw. -religiöses Zusammenleben zeigt sich, dass europäische Rechtsstaaten für diese Herausforderungen besser gerüstet sind, als gemeinhin angenommen wird.
Hans Markus Heimann hat sich dem Thema Zusammenleben in einem multireligiösen Staat aus juristischer Perspektive genähert und erklärt auch für Laien gut verständlich, was mit „multi-religiös“tatsächlich zu verstehen ist – nämlich ein religiös neutraler Staat (der Autor bezieht sich auf Deutschland), der die Religionsfreiheit zu schützen hat, auch wenn die Religion nicht den Vorstellungen der Mehrheit und staatlich definierten Werten entspricht: „Jede Religionsgemeinschaft ist darin frei, sich die Gestaltung der Welt und einer Staatsordnung, auch wenn sie erheblich von fundamentalen Prinzipien des Grundgesetzes abweicht, so vorzustellen, wie sie es möchte. Nur wenn sie versucht, ihre der Ordnung des Grundgesetzes widersprechenden Vorstellungen beispielsweise mit Gewalt in die Realität umzusetzen, hätte sie von Seiten des Staates Sanktionen zu erwarten.“(S. 193).
Das Verhältnis zwischen Staat und Religion kann sich jederzeit ändern, sobald sich die Rolle der Religion ändert. Es gilt also permanent auszuhandeln, welcher Teil des Religionsrechts überholt oder verzichtbar ist (S. 13). Mit Blick auf die Rolle des Rechtsstaates vermerkt der Autor, dass dieser zwar religiös neutral sein muss, aber mit Religionsgemeinschaften kooperieren und diese unterstützen kann, solange alle Religionen gleichbehandelt werden. Wichtig ist auch zu verstehen, dass das Grundgesetz als Handlungsrahmen für den Staat dient, aber nicht für Individuen oder Religionsgemeinschaften. Es liegt also im Ermessen der jeweiligen Gemeinschaft oder des Individuums, wie religiöses Leben gestaltet wird, auch wenn dieses Gestalten nicht den Werten der Mehrheitsgesellschaft entspricht.
Das Buch bietet einen optimistischen Befund: Deutschland ist ein funktionierender multireligiöser Staat, der Religionsfreiheit gewährleistet, grundsätzlich neutral und gleichzeitig wehrhaft genug ist, um demokratiezersetzende Praktiken zu verhindern. Überzogene Anpassungserwartungen vor allem an den Islam passen nicht in die historisch gewachsene Rechtskultur. Die säkulare Gesellschaft darf andererseits nicht vergessen, dass Religionsfreiheit ein Menschenrecht ist, das auch kritisierte Praktiken schützt.
Deutschland: Religionen
22 Heimann, Hans Markus : Deutschland als multireligiöser Staat. Eine Herausforderung. Frankfurt/f.: S. Fischer, 2016. 249 S., € 22,99 [D], 23,70 [A] ; ISBN 978-3-10-002477-0
Die neuen Deutschen
Migration ist ein Faktum. Während vor allem Demographen auf die Wichtigkeit von Zuwanderung in alternden Gesellschaften verweisen, sieht der politische und mediale Spin Migration hauptsächlich als Risiko für die Aufnahmegesellschaft. Integrationsprobleme und weniger -erfolge werden permanent sichtbar gemacht. Herfried und Marina Münkler haben sich dem Phänomen der Migration aus der Perspektive der Aufnahmegesellschaft gewidmet: Was macht Migration aus einer Gesellschaft, und wie soll mit der großen Herausforderung umgegangen werden? Die Autoren nennen die Deutschen, die sich dieser Herausforderung stellen, die „neuen Deutschen“– „jene, die auf ein weltoffenes und nicht mehr ausschließlich ethnisch definiertes Deutschland setzen“(S. 13).
Tatsächlich hat die Flüchtlingskrise 2015 die deutsche Gesellschaft gespalten: Dem Aufstieg der AFD stehen die Anhänger einer offenen Gesellschaft des linken politischen Spektrums gegenüber. Münkler und Münkler nehmen hier eine mittlere Position ein: Sie wünschen sich eine „konvivialistische Gesellschaft“, in der Menschen unabhängig von Herkunft und Religion füreinander sorgen und damit eine „wechselseitige Integration“ermöglichen. Dafür müssen sich alle Beteiligten verändern (S. 186). Dies bedeutet aber auch das Ende des Nationalstaats und der nationalen Identität, wie wir sie kennen. Die damit verbundenen Aushandlungsprozesse sind kontrovers: Wie wird das Nationale in Zukunft definiert, wie wird die kulturelle Identität der Nation aussehen? Und vor allem: Wie macht man nun aus Fremden „Deutsche“? Mittels einer Reihe von „Imperativen“stellen die Autoren Thesen für eine funktionierende Integration auf:
Integration funktioniert zunächst über den Arbeitsmarkt, wobei auf die Einbindung von Jugendlichen und Frauen besonders zu achten ist. Dafür braucht es aber auch Bildungschancen. Es geht dabei nicht nur um ein offenes Bildungssystem, sondern um die Unterstützung längerfristiger Lebensplanung migrantischer Jugendlicher. Migranten aus unterschiedlichen Herkunftsländern und sozialen Schichten haben unterschiedliche Bedürfnisse, was bei Integrationsmaßnahmen zu berücksichtigen ist. Es braucht auch Aktivierung: Wenn Migranten für lange Zeit zur Passivität gezwungen werden, kann dies den Integrationsprozess dauerhaft beeinträchtigen, genauso wie Diskriminierungserfahrungen. Während diese Vorschläge als konkrete Handlungsanleitung für politische Akteure zu verstehen sind, bleibt eine Frage offen: Reichen diese Maßnahmen, dass sowohl die Mehrheitsgesellschaft als auch Migrantinnen eine gemeinsame, neue Idee und letzlich eine Identität des Deutschseins entwickeln? Das Buch kann diese Frage nicht beantworten, liefert aber wertvolle Impulse für die Diskussion. Deutschland: Identität
23 Münkler, Herfried u. Marina: Die neuen Deutschen. Ein Land vor seiner Zukunft. Berlin: Rowohlt, 2016. 334 S., € 19,95 [D], 20,55 [A]
ISBN 978 3 871341670
Undeutsch
Das Zusammenleben in einer multikulturellen Gesellschaft gestaltet sich häufig problematisch. Viele Experten versuchen Lösungen anzubieten, die vor allem auf Integration setzen. Meistens bedeutet dies, dass „Fremde“sich den Erwartungen der Mehrheitsgesellschaft anzupassen haben. Im Gegensatz zu diesen Ansätzen hat Fatima El-tayeb ein Werk vorgelegt, welches die Perspektive der „Undeutschen“einnimmt – Personen, die sich auf Grund von Hautfarbe, Nationalität oder Migrationserfahrung von den „Deutschen“abheben und deren Integrationsbemühungen an strukturellem Rassismus scheitern. Europäische Gesellschaften haben ihren historisch durchgehend präsenten Rassismus nie völlig abgelegt. Menschen ohne weiße Hautfarbe (communities of color) werden auch in Deutschland nach wie vor nicht als Teil der Mehrheitsgesellschaft ge sehen; sie werden also „rassifiziert“bzw. „migrantisiert“; sie sind „undeutsch“. Dies betrifft auch Menschen, die seit Jahrhunderten in Europa leben, etwa Roma und Sinti (S. 19).
Anstelle aber das Konzept des „Deutsch-seins“zu öffnen, werden Abgrenzungen immer schärfer. Die Rassifizierung von Religion, die aktuell vor allem Muslime betrifft, ist nur ein Beispiel. Dass in diesem Kontext zunehmend vom Problem der „Deutschenfeindlichkeit“von Zuwandern gesprochen wird, sieht Fatima El-tayeb als Ablenkungsmanöver: Ohne dass sozio-ökonomische Probleme und Rassismus diskutiert werden, fühlen sich Europäer zunehmend von Migranten bedroht und viktimisiert. Der Terror geht immer von den anderen (meist Muslimen) aus, während rechtsextreme Gewalt nach wie vor als isolierte Einzeltaten bagatellisiert werden: „Ohne hier auf Details eingehen zu können, sei (…) darauf hingewiesen, dass die Charakterisierung rechtsextremer Terrorakte als von Einzeltätern verübt und letztlich
„Die deutsche Gesellschaft ist eine offene und leistungsorientierte Gesellschaft, die in den kommenden Jahren und Jahrzehnten noch offener und wohl auch noch leistungsorientierter werden muss, wenn sie ihre Position in der Weltwirtschaft und ihren Wohlstand im Innern behalten will.”
(H. u. M. Münkler in , S. 289
auf psychopathologische Muster zurückführbar das vorherrschende Erklärungsmuster darstellt. Dieses Er klärungsmuster (…) unterscheidet sich wiederum deutlich von dem, mit dem der Terrorismus von Tätern aus markierten Gruppen, etwa Muslime, erklärt wird: Hier wird die Pathologie kulturell, das heißt zur Gruppenverantwortung und letztendlich zum Gruppencharakteristikum.“(S. 125). Die populäre Gleichsetzung des Islam mit dem Faschismus rechtfertigt solche Betrachtungsweisen zusätzlich.
Das Buch besticht durch gut recherchierte Beispiele für den strukturellen Rassismus in der deutschen Gesellschaft – und dürfte im Wesentlichen auch für Österreich gelten. Ein wesentlicher Aspekt ist dabei das Ignorieren von ökonomischer Gewalt des globalen Nordens gegenüber dem Süden und das schwere Erbe des Kolonialismus, den sowohl der globale Süden als auch der Nahe Osten noch immer zu tragen haben. Kritisch bleibt anzumerken, dass die Autorin lokale Verantwortung im globalen Süden und kritische Diskurse zu Ausbeutungsverhältnissen in der Mehrheits gesellschaft ausblendet. Nichtsdestotrotz hat Fatima El-tayeb einen augenöffnenden Beitrag geleistet, der einlädt, eigene Positionen kritisch zu reflektieren.
Gesellschaft: Postmigration 24 El-tayeb, Fatima: Undeutsch. Die Konstruktion des Anderen in der postmigrantischen Gesellschaft. Bielefeld: Transcript-verl., 2016. S. 252; € 19,99 [D],
20,60 [A] ; ISBN 978-3-8376-3074-9
Wider den Terrorismus
Ein wesentlicher Aspekt des Zusammenlebens in einer multikulturellen Gesellschaft ist ein angstfreies Leben für alle. Der Psychoanalytiker Arno Gruen nähert sich dem Thema über den Fokus auf den Terroristen als individuellen Täter.
Terroristen werden zumeist als identitätslose We sen beschrieben, die ihrer inneren Leere durch gewaltvolle Selbstinszenierung entkommen wollen. Am Beginn einer Terroristenkarriere stehen häufig zerrüttete Familienverhältnisse. Der Zusammenbruch alter sozialer Netzwerke im Zuge der Globalisierung tut ein Übriges: „Das Netz der sozialen Beziehungen sorgte dafür, dass eine durchgreifende Orientierungslosigkeit gar nicht erst aufkommen konnte. (…) Die Rolle der unzureichenden Identität und ihre Begleiterscheinung, der Hass, sind die Ursachen für den ständigen Amoklauf der Welt.“(S. 46 u. S. 48). Perspektivenlose Individuen zeigen sich besonders anfällig für extremistische Strömungen, aber Terrorismus kann auch in ökonomisch stabilen Verhältnissen Nährboden finden, wenn sozialer Halt fehlt. In Kombination mit Selbstmitleid und einem selbst zugeschriebenen Opferstatus kann eine explosive Mischung entstehen: „Selbstmitleid verhindert die empathische Wahrnehmung des Leids, das man anderen zufügt. Und es verschafft dem Täter das Gefühl, zu der Tat berechtigt zu sein.“(S. 66). Im Lichte dieser Betrachtungen betont Gruen, dass nicht der Islam sich im Krieg mit dem Westen befände, sondern der mörderische Hass der Identitätslosen. Die friedliche Mehrheit der Muslime solle daher in den Kampf gegen terroristische Gewalttäter eingebunden werden – auch, um das Zusammenleben zu stärken: Es bedarf eines gemeinsamen Kraftakts, um den Terror zu stoppen.
Terrorismus 25 Gruen, Arno: Wider den Terrorismus. Stuttgart: Klett-cotta, 2015. 88 S., € 12 [D], 12,40 [A]
ISBN: 978-3-608-94900-1
Endstation Islamischer Staat?
Als den Beginn epochaler Umwälzungen beschreibt der Islamwissenschaftler und Journalistrainer Hermann den Arabischen Frühling. Aus verschiedenen Perspektiven zeichnet er ein Bild der gegenwärtigen Situation in der arabischen Welt, die 2011 mit der Hoffnung auf Freiheit und Gerechtigkeit begonnen hat und nun die schwerste „Krise seit dem Einfall der Mongolen im 13. Jahrhundert“(S. 25) darstellt. Beleuchtet werden die historisch bedingten Ursachen für die drohende Auflösung einzelner Nationalstaaten, wie Syrien oder dem Irak. Den nach dem Zerfall des Osmanischen Reiches von außen ge schaffenen postkolonialen Staaten mit ihren fassadenhaften staatlichen Institutionen fehle es an Grund pfeilern einer Demokratie und den meisten Staaten an einer gemeinsamen kulturellen Identität, so der Autor. Der Leser erhält Einblick in die Problemlagen einzelner arabischer Staaten, die sich zwar voneinander unterscheiden, denen jedoch eines gemeinsam ist: der Islam und Despote, die sich an internationaler Finanzierung, Militärhilfen und dem Ölex port bereichern und denen das Wohl der Bürgerinnen zweitrangig erscheint. Das weiß der Islamische Staat (IS) zu nutzen und verspricht die arabische Welt zurück zum ursprünglichen Anspruch über Stammesgrenzen hinweg zu führen, wo die Scharia über dem Völkerrecht steht und ein längst verlorenes Zugehörigkeitsgefühl bietet.
Rainer Hermann schreibt über den Zorn des IS, die zunehmend fehlende panarabische Identität der arabischen Jugend ohne Perspektiven und warum es für die einzelnen Staaten so wichtig wäre, sich von innen heraus demokratisch zu entwickeln, ohne dabei den Leser zu entmutigen. Das Buch bietet historische Analogien zum Dreißigjährigen Krieg und zu Europa 1848, als die bürgerliche Mittelschicht ge -
“Europa muss sich damit auseinandersetzen, dass seine stabilen Wohlstandsdemokratien mit der Entmenschlichung und ausbeutung von Kolonisierten und Versklavten erkauft wurde ... “(Fatima El-tayeb in 24 , S. 12)
gen die feudale Staatselite aufbegehrte. Thematisiert werden lokale Auslöser der Krisenherde einzelner arabischer Länder, ebenso der Wettstreit regionaler Vormachtstellungen seitens Saudi-arabien, der Türkei und dem Iran. Sein vielschichtiger Rundumblick nimmt jedoch auch den Westen und Russland in die Verantwortung und erläutert deren globale Interessen. Wer sich also einen kompakten Einblick in die Komplexität dieser Krise verschaffen möchte, liegt bei diesem Buch richtig. D. B. Islam
26 Hermann, Rainer: Endstation Islamischer Staat? Staatsversagen und Religionskrieg in der arabischen Welt. München: DTV, 2015. 135 S., € 12,90 [D],
13,30 [A] ; ISBN 978-3-42334861-4
Weitere wichtige Titel zum Thema
27 Ramsauer, Petra: Die Dschihadgeneration. Wie der apokalyptische Kult des Islamischen Staats Europa bedroht. Klagenfurt: Styria, 2015. 208 S., € 24,90 ; ISBN 978-3-222-13516-3
28 Khorchide, Mouhanad: Islam ist Barmherzigkeit. Grundzüge einer modernen Religion. Freiburg i. Br.: Herder, 2015. 239 S., € 10,99 [D], 11,30 [A]
ISBN 978-3-451-06764-8
29 Hafez, Farid: Islamisch-politische Denker. Eine Einführung in die islamisch-politische Ideengeschichte. 2., überarb. Aufl. Frankfurt/m.: Peter Lang, 2015. 267 S., € 29,95 [D], 30,80 [A]
ISBN 978-3-631-66499-5