Ideen für Europa
Das „größte Friedensprojekt der Geschichte“verliert angesichts der vielen bisher nicht-bewältigten Herausforderungen immer mehr an Überzeugungskraft und befindet sich nach Ansicht vieler Kommentatoren in einer Krise. Dem widerspricht Ulrike Guérot in „Die Zeit“(v. 28.7.2016): „Die Europäische Union befindet sich nicht in einer Dauerkrise. Sie ist längst am Ende. Geben wir ihr den Gnadenstoß und fangen neu an!“Ist das wirklich die Lösung oder lassen sich die EU und der Euro doch noch reformieren? Soll das gelingen, ist ein Kurswechsel unumgänglich. Wir benötigen eine überzeugende Strategie, wie wir das einst so verheißungsvoll begonnene Experiment zukunftstauglich gestalten können. Bestandsaufnahmen, Analysen, diverse Wort meldungen und nicht zuletzt Ideen für Reformen hat Alfred Auer in aktuellen Publikationen erkundet.
Europa in der Krise
Die ständigen Klagen „Europa in der Krise“, „Europa am Rande des Abgrunds“oder gar „Die letzten Tage Europas“klingen beinahe schon obszön. Man kann es nicht mehr hören. Und wenn einem der Titel des vorliegenden Buches schon bekannt vorkommt, dann liegt es nicht nur am vielkommunizierten „Dauerkrisen-gerede“, sondern auch daran, dass Günter Verheugen, der ehemalige Vi zepräsident der Eu-kommission, bereits 2005 ein Buch mit dem Titel „Europa in der Krise“publiziert hat. Schon damals hat der Spd-politiker konstruktive Vorschläge für „eine Neubegründung der europäischen Idee“zur Diskussion gestellt. Heute versuchen wir immer noch, Europa nicht nur neu zu denken (vgl. PZ 3/2014), sondern auch neu zu gestalten. Anstatt sich immer wieder zu fragen, in welche Richtung Europa steuern und wer den Ton angeben sollte, wäre es sinnvoll, positive Visionen für ein künftiges Europa zu formulieren.
Edmund Stoiber und Bodo Hombach lassen deshalb Experten und Persönlichkeiten aus Politik, Wirtschaft, Wissenschaft und Sport zu aktuellen europäischen Fragen und zur Zukunft der Staatengemeinschaft zu Wort kommen. Europa, so Bodo Hombach in seinem Vorwort, müsse sich in der Lebenswirklichkeit der Europäer einwurzeln, denn „die Erosion des europäischen Bewusstseins ist gefährlich weit fortgeschritten“(S. 11). Kosmetik an der Konstruktion Europa ist für Hombach längst keine Lösung mehr: „Der allgemeinen Europa-skepsis muss etwas Neues und inhaltlich Überzeugendes entgegentreten.“(S. 11) Nicht zu letzt erinnert er daran, dass Krieg als Mittel der Konfliktlösung künftig ausfallen muss und plädiert daher für die Herausarbeitung von Gemein samkeiten und die Definition geteilter Interessen als europäische Kernaufgaben, die da wären: Frie denssicherung,
Regionalität (es gilt uneingeschränkt das Subsidiaritätsprinzip) und Weltoffenheit.
Edmund Stoiber meint mit Hinweis auf das Ergebnis des britischen Eu-referendums, dass dort die Leidenschaft gewonnen hat, wie fast immer in der Politik. Warum schafft es Europa nicht, bei den Themen Frieden, Freiheit und Sicherheit eine solche Begeisterung zu wecken? Eine überzeugende Idee, wie das gelingen soll, bleibt der Ex-politiker freilich schuldig. Er regt lediglich an, dass sich ein Konvent aus Abgeordneten der nationalen Parlamente und des Europäischen Parlaments Gedanken über die Konkretisierung des Subsidiaritätsprinzips machen sollte.
Grundtenor der Beiträge ist die Ansicht, dass das europäische Einigungs- und Friedensprojekt längst kein Selbstläufer mehr ist und deshalb immer wieder aufs Neue erkämpft werden muss. Laut viel zitierter Umfragen steht die Mehrheit der Bür gerinnen in Deutschland und in den anderen Eustaaten aber nach wie vor zur europäischen Idee. Was fehlt, ist eine europäische Öffentlichkeit, ein genuin europäischer Demos. Klaus Gretschmann , ehemaliger Generaldirektor im Europäischen Ministerrat, hat sich darüber Gedanken gemacht, welches Verfahren einen ausführlichen Diskurs und eine Kompromissfindung ermöglichen könnte. Er schlägt die Einführung des Konzepts „Präferenda“, aufbauend auf einer Kombination von Präferenzen und Referenden, vor. Intention ist, die Bürgerinnen zu hören und im Diskurs zu beteiligen, „indem deren Wünsche, Präferenzen, Probleme und Vorstellungen in den politischen Entscheidungsprozess soweit möglich Eingang finden“(S. 189). Wie andere Autoren vor ihm, schlägt Gretschmann auch vor, ein Redesign, einen völligen Um- bzw. Neubau der EU zu wagen (vgl. S. 190). Dazu seien ein neues Gleichgewicht zwischen Konsolidierung und neuer Dynamik,
„Es geht darum, mehr Nähe zu schaffen und Distanzen zu überbrücken. Ist nicht die Legitimität einer politischen Entscheidung dann am größten, wenn sie so nah wie möglich an den davon Betroffenen gefällt wurde? (...) Europa sollte sich nicht in Dinge einmischen, die lokal, regional oder national gut funktionieren.” (Martin Schulz in , S. 128f.)
zwischen Risiko und Chance, zwischen Wachstum und Verteilung sowie ein breit aufgestellter sozialer Diskurs erforderlich. Die nötigen Reformen sollten aber nicht nur auf dem Papier stehen, sondern zügig umgesetzt werden.
Europa: Reformen 47 Europa in der Krise. Vom Traum zum Feindbild? Hrsg. v. Bodo Hombach u. Edmund Stoiber. Marburg: Tectum-verl., 2017. 217 S., € 19,95 [D/A]
ISBN 978-3-8288-3854-3
Der Schwarze Juni
Von epochaler Bedeutung waren für Hans-werner Sinn, emeritierter Professor für Volkswirtschaft und ehemaliger Präsident des ifo-instituts, zwei Ereignisse im Sommer 2016: die Brexit-entscheidung der Briten und die OMT (Outright Monetary Transaction)-entscheidung des deutschen Verfassungsgerichts. Beide Ereignisse würden die Zukunft der EU, des Euro und Deutschlands maßgeblich verändern. Der Autor befürchtet, dass sich die Eurozone ohne die britische Gegenkraft nach dem Brexit immer rascher zu einer Fiskalunion entwickeln wird. Die Entscheidung des deutschen Gerichts, der Politik der Europäischen Zentralbank keine Schranken zu setzen bedeute, dass die EZB weiterhin unbegrenzt Staatspapiere kaufen kann. „Dabei gaben die Karlsruher mit ihrem Urteil der EZB nichts weniger als einen Freifahrtschein für eine Politik der Vergemeinschaftung der Haftung für Staatsschulden (…). Nutznießer dieser Politik sind vor allem die kriselnden Südländer Europas und Frankreich, Zahlmeister die noch einigermaßen gesunden Nordländer, allen voran Deutschland“(S. 14).
Für den Experten gibt es keinen Zweifel: Europa braucht Reformen nötiger denn je. Dabei geht es darum, die Konstruktionsfehler des aktuellen europäischen Modells zu überwinden und eine wirklich funktionsfähige Union zu schaffen. Er fordert als Gebot der Stunde, „die Zugangskanäle für den deutschen Sozialstaat zu verschließen“(S. 307), eine Neugrundierung des Eurosystems sowie eine Neuausrichtung der Flüchtlings- und Migrationspolitik. Als grundlegender Leitgedanke aller anstehenden Maßnahmen biete sich das Pareto-prinzip an. Dieses besagt, „dass eine europäische Politikmaßnahme dann sinnvoll ist, wenn sie mindestens ein Land besserstellt, ohne dass ein anderes Land Schaden erleidet“(S. 307). Vor allem aber müsse Deutschland dringend Änderungen der Euverträge verlangen und zwar in den Bereichen Gemeinschaftswährung, Migration und Subsidiarität. Zur Gesundung des Euro nennt Sinn vier Reformoptionen (Transferunion, Deflation im Süden, Nachinflationierung des Nordens, Austritt Deutschlands aus der Währungsunion nebst Abwertung). Schließlich unterbreitet der Volkswirt 15 Vor schläge zur Gesundung der EU: 1. Länder, die ihre Wettbewerbsfähigkeit verloren haben, können den Euro verlassen, um sie durch eine Abwertung wiederzuerlangen. 2. Die Staatengemeinschaft vereinbart Regeln für den geordneten Konkurs eines Staates. 3. Die EZB darf im Rahmen ihres Mandats nur noch erstrangige Wertpapiere mit einem Aaa-rating am offenen Markt kaufen und 4. dürfen Notenbanken nur noch im Verhältnis zur Landesgröße Geld durch die Kreditvergabe an die lokale Volkswirtschaft schöpfen. 5. Die Stimmrechte im EZB-RAT werden nach der Größe der Haftung der Länder vergeben. 6. Ansprüche auf steuerfinanzierte Sozialleistungen dürfen im Gastland nur in dem Maße geltend gemacht werden, wie sie sie zuvor selbst durch Steuern finanziert haben (Heimatlandstatt Gastlandprinzip für Eu-bürger). 7. Anerkannte Asylbewerber werden wie einheimische Staatsbürger in das Sozialsystem integriert, die Asylanträge sind allerdings außerhalb der Eugrenzen zu stellen. 8. Die Eu-länder sichern ihre Grenzen gemeinschaftlich. 9. Hilfen für schwächer entwickelte Eu-nachbarstaaten sind empfehlenswert. 10. Aussetzung des Mindestlohns, aber „Aktivierende Sozialpolitik“. 11. Einführung eines Punktesystems für hoch qualifizierte Migranten. 12. Nachbarländern könnte der Status eines assoziierten Mitglieds angeboten werden, allerdings ohne die Arbeitnehmer-freizügigkeit. 13. Europaweite Netze im Bereich des Internet, der Telefonie, der Straßen und Schienen, des Strom- und Gasverbunds sind auszubauen. 14. Ein europäischer Subsidiari tätsgerichtshof ist einzurichten. 15. Nicht zuletzt sollen die Eu-länder ihre Armeen zusammenlegen und eine gemeinsame Außenpolitik in Sicherheitsfragen betreiben. Nur so könne eine weitere Verschärfung der europäischen Krise vermieden werden. Hans-werner Sinn hat immer deutlich Stel lung bezogen und ist dafür – ob in Sachen Aussetzung des Mindestlohns, Flüchtlingskrise, die Rolle Deutschlands in der EU – vielfach kritisiert worden. Ob seine vordergründig konservativ-neoliberalen Ratschläge wirklich zur Gesundung der EU beitragen können, darf bezweifelt werden.
Der EURO
In seinem Buch „Der EURO“(2015) nennt Hanswerner Sinn die EZB den europäischen Hegemon und sieht die mangelnde Wettbewerbsfähig keit Südeuropas als Kernproblem. Trotz seiner fundamentalen Skepsis bezüglich der Funktions-
„Es geht bei den Zielen der Reformen nicht um die Verkleinerung der EU oder die Abschaffung des Euro. (...) Vielmehr geht es darum, die Konstruktionsfehler des aktuellen europäischen Modells zu überwinden und eine wirklich funktionsfähige Union zu schaffen.” (Hans-werner Sinn in , S. 306f.)
fähigkeit des Eurosystems gibt er allerdings die Hoffnung für den Euro und für ein vereinigtes Europa nicht auf. Im Gegensatz zu vielen seiner Autorenkollegen geht er sogar so weit, die „Vereinigten Staaten von Europa“zu fordern. Jedenfalls sollte man, so der Autor, zumindest einmal innehalten, und prüfen, ob man tatsächlich auf dem richtigen Weg ist. Europa: Deutschland
48 Sinn, Hans-werner: Der Schwarze Juni. Brexit, Flüchtlingswelle, Euro-desaster – Wie die Neugründung Europas gelingt. Freiburg: Herder-verl., 2016.
382 S., € 24,99 [D], 27,90 [A] ; ISBN 978-3-451-37745-7
49 Sinn, Hans-werner: Der Euro. Von der Friedensidee zum Zankapfel. München: Hanser-verl., 2015.
535 S., € 24,90 [D], 25,60 [A] ; ISBN 978-3-446-44468-3
Der Odysseus Komplex
Was die griechische Mythologie mit dem Euro zu tun hat, erklären der neue Chef des ifo-instituts (und Nachfolger Hans-werner Sinns), Clemens Fuest, und der Ökonom Johannes Becker. Wie Odysseus dem Gesang der Sirenen, so hätten die Eu-mitgliedstaaten der Verführungskraft neuer Schulden zu widerstehen. Die zentrale Schwäche der Eurozone sei die Unfähigkeit, sich glaubwürdig auf ein Verhalten in der Zukunft festzulegen. „All die Regeln und langfristigen Verträge, die nun an der Unfähigkeit zur Selbstbindung scheitern, hätten Geltung und würden den Mitgliedstaaten die Möglichkeit geben, gemeinsam und koordiniert aus der Krise und auf einen höheren Wachstumspfad zu finden.“(S. 130)
Um die Eurokrise zu überwinden, schlagen Fuest und Becker ein Fünf-punkte-programm vor. Dabei geht es ihnen nicht darum, den gordischen Knoten zu zerschlagen, sondern eine Zielvorstellung für die nächsten zehn Jahre zu formulieren. Reformbedarf besteht insbesondere bei der Regulierung der Banken (hier sehen sie zu Recht ein Umsetzungsproblem), bei der Schuldenkontrolle (Die vorgeschlagene Lösung besteht in Accountability Bonds, die von Mitgliedstaaten automatisch begeben werden müssen, wenn das Defizit die Grenze von 0,5 Prozent des BIP überschreitet. Vgl. S. 221), bei der Staatenrettung (Rettungsroutinen sind zu formulieren), bei der Restrukturierung (Es muss einen nachhaltigen Schuldendienst für Krisenländer geben) und schließlich bei der Europäischen Zentralbank, die in der Krise zu viele Aufgaben übernommen hat (Die Verantwortlichkeit der EZB für die Geldpolitik muss gestärkt werden). Insgesamt läuft dieses Programm „auf eine Beschneidung der Macht und des Einflusses des Europäischen Rates und des Ministerrates hinaus sowie auf eine Zurechtstutzung der Kommission auf koordinierende beziehungsweise beratende Funktionen und eine Verengung des Mandats für die EZB“(S. 223). Angemerkt sei, dass sich die Autoren, was die Chancen auf Umsetzung der Reformen angeht, sehr zurückhaltend geben. Zudem überwiegt die Sorge um die Rolle Deutschlands, Europas „zögerlichem Hegemon“. „Für ein Land, das mehr als ein Viertel der Kosten jedes Fehlers in der Eurozone trägt“, wäre ein überzeugendes Konzept zum Umgang mit der Krise nötig (S. 252). Deutschland bräuchte, so die Autoren, eine klare Vorstellung darüber, wohin die Reise gehen soll. Europa: Schuldenpolitik
50 Becker, Johannes; Fuest, Clemens: Der Odysseus-komplex. Ein pragmatischer Vorschlag zur Lösung der Eurokrise. München: Hanser, 2017. 285 S., € 24,- [D], 24,70 [A] ; ISBN 978-3-446-25461-9
25 Ideen für Europa
Die EU ist, so die Ausgangsthese dieses Bandes, trotz aller Mängel sowie öffentlich geäußerter Skepsis, ein erfolgreiches Projekt. Kritik am Status quo muss jedoch möglich sein, ohne in ständiges Lamentieren zu verfallen und dadurch Renationalisierungstendenzen zu befeuern. „Die Er wartungen an den Mehrwert der europäischen Po litik sind hoch“, meint Paul Schmidt, Generalsekretär der Österr. Gesellschaft für Europapolitik (OGFE). Zu ihrem 25. Jubiläum hat die ÖGFE 25 Ideen für Europa versammelt, die zum Nachdenken über die Architektur der EU einladen. Dazu wurden Persönlichkeiten aus den unterschiedlichsten Fachgebieten um ihre Einschätzungen und Ideen zu den aktuellen Herausforderungen und zur Zukunft „Europas“gebeten.
Die Leiterin des Departement für Europapolitik und Demokratieforschung an der Donau-universität Krems, Ulrike Guérot, betont, es gehe keineswegs um einen europäischen Zentralstaat, sondern vielmehr um Einheit in Vielfalt. „Die meisten Menschen wünschen ein geeintes Europa in der Welt; und sie wünschen ihre kulturelle Identität, die einen regionalen Bezugsrahmen hat. Die Lösung für Europa könnte lauten: Wir begründen eine Europäische Republik, die allen europäischen Bürgerinnen Gleichheit vor dem Recht gewährt. Träger dieser Republik sind die europäischen Kulturregionen.“(S. 40) Neben zahlreichen Autorinnen wie Anton Pelinka (Die Schwierigkeiten mit dem Grundgedanken der Integration), Melanie Sully (Die Post-brexit-ära) oder Margit Schratzenstaller (Eine Eu-steuerpolitik, die ihren Na-
men verdient) beschreibt in der auch als Gratise-book (pdf-download unter http://oegfe.at/ wordpress/25-ideen-fuer-europa/) erschienenen Publikation die Politikwissenschaftlerin und Vizepräsidentin des Europäischen Forums Alpbach,
Sonja Puntscher Riekmann, drei Wege aus der Ge fahrenzone. Bei der Faktenanalyse zeige sich eine deutlich positive Stimmung in der europäischen Bürgerschaft, relativ gering hingegen sei das Vertrauen in die Institutionen. Die Autorin weist darauf hin, „dass mit zunehmender Distanz zu den Ursachen des Neuanfangs nach 1945 viele europäische Politikerinnen wieder glauben, sie könnten Antworten im Nationalstaat“finden (S. 91). Daher gelte es, das Grunddilemma zu klären, „das durch die Asymmetrie aus liberalem Binnenmarkt mit zentralisierter Geldpolitik sowie fiskal- und sozialpolitischer Zuständigkeit der Mitgliedstaaten entstanden ist“(S. 92).
Stefan Lehne, Visiting Scholar beim Think Tank Carnegie Europa in Brüssel, schreibt über neue außenpolitische Strategien der EU. „Sicherheit und Verteidigung, Migration und der Beitrag der EU zur Bewältigung regionaler Krisen stehen an erster Stelle“, ist er überzeugt (S. 72). Schließlich braucht die EU dringend, so ein Vorschlag von Verena Ringler und Martin Mayer, „einen langfristigen Plan zur Entwicklung der europäischen Gesellschaft, zur Schaffung der zukünftigen Wertschöpfungskette, zur globalen Rolle wie der Übernahme von Verantwortung“(S. 94).
Es geht den Autorinnen offensichtlich darum, Europa nicht schlechter zu machen, als es ohnehin ist. Der Mut zur Veränderung und zu mehr Selbstbewusstsein in das europäische Projekt steht deshalb im Vordergrund der Analysen.
Europa: Reformen 51 25 Ideen für Europa. Hrsg. v. d. Österr. Ges. für Europapolitik. Wien, 2016. 108 S. ; ISBN 978-3-200-04821-8
Europa geht auch solidarisch!
Die Autorinnen dieser Streitschrift gehen davon aus, dass die einzelnen Nationalstaaten heute nicht in der Lage sind, die globalen Probleme zu bewältigen. Die Europäische Union gilt demnach als alternativlos. Unisono plädieren sie aber für eine radikale Reform der EU. Es wird auch darauf hingewiesen, dass die im September 2016 in Bratislava beschlossenen kleinen Schritte zur Weiterentwicklung der EU weder geeignet sind, die Flüchtlingskrise zu überwinden, noch zur Bewältigung der ökonomischen und sozialen Krise führen. Notwendig seien vielmehr eine alternative Wirtschaftspolitik, eine Ausgleichsunion, eine ge meinsame Schuldenpolitik, eine europäische Sozialunion sowie eine demokratisch gewählte und kontrollierte Europäische Wirtschaftregierung. „Die neue Wirtschaftspolitik der EU müsste aus zwei Elementen bestehen: zum einen einer expansiven europäischen Fiskalpolitik, zum anderen einem europäischen Investitionsprogramm, das auch der Lösung industrieller und regionaler Strukturprobleme dient.“(S. 54) Der Vorschlag einer „Europäischen Ausgleichsunion“versteht sich als Gegenmodell zur heute praktizierten „Austeritätsunion“und hat seinen Ausgangspunkt in der Einführung verbindlicher Obergrenzen für Leistungsbilanzungleichgewichte (vgl. S. 60f.). Außerdem wird mit Bezug auf Vorschläge von Eu-sozialkommissar László Andor ein umfassendes Konzept zur Weiterentwicklung der sozialen Dimension sowie Ideen für eine gemeinsame Schuldenpolitik mit dem Ziel vorgelegt, Eurobonds einzuführen und dazu eine Europäische Schuldenagentur zu gründen. Die Idee, schärfere Finanzmarkt-regeln und eine schlagkräftigere Steuerpolitik anzustreben, ist nicht neu. Heute wird aber nach wie vor gezockt wie vor der Krise. Schließlich geht es darum, eine demokratisch legitimierte Europäische Wirtschaftsregierung (EWIR) u. a. mit der Kompetenz, „die Eckwerte der Haushaltspolitik der Mitgliedstaaten zu bestimmen“(S. 78), umzusetzen. Zweifellos handelt es sich hier um ambitionierte Vorschläge für ein handlungsfähiges Europa.
Europa: Reformen 52 Europa geht auch solidarisch. Streitschrift für eine andere EU. Hrsg. v. Klaus Busch … 86 S., € 7,50 [D], 7,70 [A] ; ISBN 978-3-89965-745-6
Ach, Österreich!
Österreich ist ein Land, so der Publizist und „Falter“-herausgeber Armin Thurnher, in dem sich die Probleme der Welt brennpunktartig wiederfinden. „Der Aufstieg der extremen Rechten, der hausgemachten gewinnenden Faschisten, verläuft in keinem europäischen Land so nachhaltig, so ausdauernd, so bizarr und scheinbar unaufhaltsam wie hier.“(S. 8f.) Aber der Autor verbreitet nicht nur Weltuntergangsstimmung. Witzig, ernst und zum Teil ironisch zeigt er mit dem Finger auf Wunden des an sich noch gesunden Körpers, genannt Österreich: Zweiklassenmedizin, zerstörte Universitäten, privilegierte Eliten, die sich weit öffnende Einkommensschere. Zornig erinnert Thurnher daran, dass in Österreich bei der ersten Bundespräsidenten-stichwahl beinahe fünfzig Prozent den Kandidaten der FPÖ gewählt hat. Österreich gilt
„Alles, was Europa vermeiden wollte, ist eingetreten. Deutschland hat die Führung übernommen, es gibt kein soziales Europa, und wie sich zuerst im Fall Österreichs gezeigt hat, legt die EU zwar rechtlich verbindliche Standards fest, kann aber bei Demokratieverstößen gegen den Willen eines Mitgliedestaates nichts tun.”
(Armin Thurnher in , S. 167)
dem Autor „als kleines Muster des großen Nachbarn Deutschland“(S. 9), in dem der eigene Blick durch Selbstimmunisierung getrübt sei, was ihn veranlasst, sich mit der Dialektik von Fremd- und Selbstwahrnehmung zu beschäftigen. Gekonnt räsoniert er auch über die Begriffe Vereinigungen und Spaltungen. „Dass Spaltungen in einem Zeitalter der Vereinigung, des Zusammenwachsens der Welt, der übernationalen Verbände zu einer Einheit mit einer Weltregierung oder einem Weltverband besonders auffallen, versteht sich.“(S. 13)
Über die Europäische Union verliert Thurnher kaum ein gutes Wort. Er kritisiert das Scheitern der supranationalen Exekutivdemokratie drastisch: „In der ostentativen Unterdrückung des griechischen Volkswillens und im Diktat eines Sparkurses wider jede ökonomische Vernunft funktionierte er; bei der Verteilung von Flüchtlingskontingenten versagt er.“(S. 158) Seiner Ansicht nach werden die Migrationsbewegungen nicht abreißen und leider werden wir auch nicht in den Blick bekommen, „dass der Westen selbst teilweise die Ursachen schafft, mit deren Wirkungen er nicht fertig wird: Kriege und Bürgerkriege.“(S. 159f.) Als das fatalste Ergebnis der Krise für Europa (und natürlich auch für Österreich) erachtet Thurnher, „dass menschenrechtliche Standards gegenüber egoistischen Interessen zurücktreten“(S. 160). Nachvollziehbar arbeitet er einen Zusammenhang zwischen der Krise der EU und dem Nationalismus der Unzufriedenen mit dem drohenden Abstieg des Mittelstands und der Arbeiterklasse heraus. „Die EU kassiert die Rechnung für ihre politische Ausrichtung auf den gemeinsamen Markt und auf ein gemeinsames Finanzregime, das die Idee einer Sozialunion in den 1990er Jahren unter ihren Maastricht-kriterien begrub.“(S. 167) Was den Aufstieg rechter, autoritärer, nationalistischer Bewegungen und Regimes betrifft, erinnert Thurnher an unsere Situation – unter anderen kommunikativen Voraussetzungen, ohne Massenelend im Westen – in den 1920er und 1930er Jahren.
Was wäre zu tun? Nach dem Ende der Erfolgsgeschichte des neoliberalen Modells braucht es Ideen. Eine findet Thurnher in der Gemeinwohlökonomie Christian Felbers. Ein weiteres Modell wäre die österreichische Sozialpartnerschaft, die aktua lisiert werden könnte. So könnte ein institutionalisierter, kompromissbereiter Dialog zwischen Arbeit und Kapital, zwischen Schuldnern und Gläubigern auf europäischer Ebene mit mehr Öffentlichkeit Platz finden. Höchst an der Zeit wäre es auch, Steuerschlupflöcher ein für allemal zu schlie ßen, den Wachstumszwang auszusetzen und zu versuchen, Märkte wieder sozial zu ordnen (S. 169f.). Zur Weltrettung braucht es nach Meinung Thurnhers nicht viel: die Entmachtung des neoliberalen Denkkollektivs, eine Wiedereinführung der Universität im Sinne Wilhelm v. Humboldts, die Neuerfindung von Sozialismus und Kapitalismus, die Neuordnung von Interessenvertretungen, ein öffentlich-rechtliches Internet, eine gerechte Besteuerung der Us-medienkonzerne, ganz andere Schulen und die Rekonstruktion der Öffentlichkeit. Diese Aufzählung klingt einfach, ist es aber nicht. Europa könnte aber von diesen „Lektionen aus der Alpenrepublik“durchaus Anregungen für Reformvorhaben entnehmen. Vergnüglich zu lesen sind sie allemal. Österreich: Europa
53 Thurnher, Armin: Ach, Österreich! Europäische Lektionen aus der Alpenrepublik. Wien: Zsolnay, 2016. 170 S., € 16,- [D], 16,50 [A] ; ISBN 978-3-552-05830-9
Euro Trash
Wenn über Europa gesprochen wird, geht es oft um Lampedusa, Migration und die europäischen Grenzen, um Steuerpolitik, Schulden, Korruption und den Krieg in der Ukraine. Meist überwiegt eine negative Diktion, die wenig Raum lässt für konstruktive Aufarbeitung. Dem Titel folgend, geht es in „Euro Trash“aber nicht um Müll und Entsorgung, sondern eher um Wiederaufbereitung und Rückgewinnung. Bei den hier versammelten Texten, teils erstmals in deutscher Sprache zugänglich, teils neue Essays, Aufsätze, Interventionen und Gespräche, handelt es sich nicht um eine der üblichen Gebrauchsanweisungen für Europa. Zu Wort kommen bekannte und weniger bekannte jüngere linke Theoretiker, die sich kritisch mit einer immer weniger funktionierenden EU auseinandersetzen. Dabei schlagen sie einen weiten historischen Bogen von der politischen Analyse der Nachkriegszeit bis herauf zu zeitgenössischer Philosophie und zur Popkultur. Zum Buch erschien zudem ein Musikstück auf „soundcloud“von Carlos Souffront „Europe from Detroit“[ soundcloud.com/merveberlin/carlossouffront-europe-from-detroit], wohl auch, um damit ein jüngeres Publikum anzusprechen.
Der Band beginnt mit einem kurzen Beitrag des russisch-französischen Philosophen Alexandre Kojève, bekannt geworden v. a. durch seine vor dem 2. Welt krieg gehaltenen Hegel-vorlesungen. In einem Aktenvermerk mit dem Titel „Notiz für die Menschheit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts“, im vorliegenden Band zum ersten Mal veröffentlicht, entwickelt Kojève bereits 1950 die Grundlinien einer europäischen Währungsunion. Darin geht es vor allem darum, die vorhandenen Ungleichgewichte der nationalen Märkte abzuschaffen.
„Friede ist eine jener Intentionen der EU, die sich noch nicht in ihr Gegenteil verkehrt haben. Daran ändert auch die Teilnahme an militärischen Missionen außerhalb Europas nichts; die bewaffneten Nationalstaaten der EU haben stets für ihre Interessen geschos sen und gebombt. (...) Zur Bildung einer Verteidigungs union ist es noch ein weiter Weg, und in der Nato geben die USA den Ton an. Sie förderten im Kalten Krieg die Gründung der EU, weil sie der Einhegung der Sowjetunion diente; sie haben Interesse an einem Partner Europa, den sie kontrollieren können, nicht aber an einem unabhängigen Gegenspieler.“(Armin Thurnher in 53 , S. 158)
Der französische Wirtschaftswissenschaftler Cédric Duran zeichnet nach, auf welchen Grundlagen der Euro schließlich eingeführt wurde. „Sein [Durans] marxistischer Ansatz verortet die Einheitswährung im Kontext langfristiger Veränderungen des globalen Kapitalismus.“(S. 11) Duran hält eine Neuausrichtung der Eurozone für unwahrscheinlich, wenn nicht sogar für unmöglich, hofft aber auf den Druck von der Straße, der ständig wächst und den dringenden kollektiven Wunsch nach einer Alternative zum Ausdruck bringt. Der Ökonom Thomas Piketty hält im Gespräch mit den Herausgebern die Rückkehr zu monetärer Kleinstaaterei für kontraproduktiv und plädiert nicht zuletzt deshalb für eine Reform der Eurozone. Der Chefkommentator der Financial Times, Martin Wolf, drängt auf ein bedingungsloses Grundeinkommen, denn nur so könne man mittelfristig auf die Automatisierungsprozesse adäquat reagieren. Ein weiterer alter Bekannter, der Philosophalain Badiou, kann sich weder mit dem klassischen Nationalstaat noch mit der supranational organisierten EU anfreunden. Er plädiert für eine genuine geistige Neuschöpfung. Ein ernüchterndes Bild der EU zeichnet schließlich auch der Philosoph Damir Arsenijevic, der über die Proteste berichtet, die im Februar 2014 Bosnien-herzegowina aufwühlten. Dabei geht er mit NGOS und der EU gleichermaßen hart ins Gericht, wenn er beiden vorwirft, sie würden ethnische Trennlinien nicht überwinden, sondern noch verfestigen. Abschließend kommt der Science-fiction-autor Arthur C. Clarke mit einem kurzen Text zu Wort, in dem es um einen Weltraumlift geht, der Menschen und Waren zwischen Erdoberfläche und Erdumlaufbahn hin- und her befördern kann. Dies wäre dann wohl die letzte Option, nämlich „Raus aus Europa, rein in den Weltraum“(S. 22). Soweit sollte es nicht kommen! Europa: Philosophie
54 Euro Trash. Hrsg. v. Svenja Bromberg … Berlin: Merve-verl., 2016. 232 S., € 20,- [D], 20,60 [A]
ISBN 978-3-88396-357-0
Die letzen Tage Europas
Nein, es handelt sich nicht um einen Tippfehler und es geht nicht um Karl Kraus. Der Titel bezieht sich auf Europa und verheißt nichts Gutes. Der Klappentext unterstützt dieses Gefühl, wenn die Empfehlung ausgesprochen wird, dieses Buch nicht am Stück zu lesen, da dies die Gesundheit gefährden könnte. Hendrik M. Broder spricht davon, was ihn an der europäischen Idee abstößt und irritiert. Für ihn ist Europa ein großes Labor, in dem wir alle Versuchskaninchen eines Experiments sind: Erschaffung einer europäischen Identität (vgl. S. 194). Sehr pointiert, mitunter sarkastisch, aber immer versucht, sich auf Tatsachen zu stützen, kri tisiert er die Eu-bürokratie, sinnlose Verordnungen, den Förderdschungel und vieles mehr. Er bringt nicht zuletzt das ungute Gefühl zum Ausdruck, dass viele Menschen haben, wenn sie an die Brüsseler Bürokratie denken. Nach eigenen Angaben geht es ihm nur um eine Bestandsaufnahme, geschrieben im Wissen um die Unmöglichkeit, mit der Aktualität Schritt zu halten.
Broder steht dabei der europäischen Idee keineswegs ablehnend gegenüber. Bei näherer Betrachtung ist das „Projekt Europa“aber in seinen Augen „ein Koloss auf tönernen Füßen, eine literarische Fiktion wie Jule Vernes ‚Reise zum Mittelpunkt der Erde‘, eine Gebrauchsanweisung für Megalomanen, ein potemkinsches Dorf, das Remake der Geschichte vom Ikarus“(S. 212). Broder beschwert sich auch über die Belanglosigkeiten diverser Eu-gipfeltreffen. Am Schluss bekennt er offen, keine Lösung zu haben, er wolle aber auch nicht stehen lassen, dass es „keine Alternative“gibt. Wie Hans-werner Sinn empfiehlt er ein Moratorium, „eine Auszeit, in der nichts beschlossen und nichts verkündet wird“(S. 221). Dieser Vorschlag wird wohl ungehört in den Gängen der Eu-bürokratie in Brüssel verhallen – und das muss man nicht unbedingt bedauern. Europa: Kritik
55 Broder, Hendrik M.: Die letzten Tage Europas. München: Knaus, 2013. 222 S., € 19,99 [D], 20,60 [A], ISBN 978-3-8135-0567-2
Europäische Geschichte
Wilfried Loth schildert in diesem groß angelegten, faktenreichen Werk, wie die Europäische Union entstand und sich über Jahrzehnte hinweg zu einem Wirtschafts- und Währungsraum entwickelt hat. Auch bei ihm ist zu lesen, dass Krisen eine ständige Begleiterscheinung der Entstehung und Entwicklung der EU waren. Für Loth stellt die EU letztlich „einen Versuch dar, die zivilisatorischen Errungenschaften des demokratischen Nationalstaats unter den Bedingungen zunehmender Globalisierung zu erhalten und weiterzuentwickeln“(S. 417). In Zukunft wird es in ganz entscheidendem Maße davon abhängen, wie weit es gelingt, Entscheidungen in der EU transparent, kontrollierbar und korrigierbar zu machen.
Europa: historisch Loth, Wilfried: Europas Einigung. Eine unvollendete Geschichte. Frankfurt/m.: Campus-verl., 2014. 512 S., € 34,99 [D], 36,- [A] ; ISBN 978-3-593-50077
„Den Amerikanern ist es gelungen, sich überall auf der Welt verhasst zu machen, und sie haben es auch wirklich darauf angelegt; es wäre ziemlich dumm, davon nicht profitieren zu wollen. Ich glaube, diese Auseinandersetzung wird heftig und sie kommt schneller auf uns zu, als uns lieb ist. Um es ganz klar zu sagen: Ich hoffe, dass wir gewinnen.” (Michel Houellebecq in , S. 141)