Die Zukunft verlässt ihre Heimat
Spricht man von Migration, dann sollte man bedenken, dass damit auch ca. 250 Millionen Menschen gemeint sind, die sich derzeit weltweit für mindestens ein Jahr außerhalb ihres Geburtslandes befinden. Davon sind etwa 65 Millionen auf der Flucht. Die Ursachen und Gründe sein Heimatland zu verlassen sind vielfältig. Vor allem stellen Migration und Flucht eine globale Herausforderung dar, die sehr komplex und aufgrund geopolitischer und wirtschaftlicher Dynamiken und Entwicklungen schwer mess- und vorhersagbar ist. Dieser Problematik spürte Dagmar Baumgartner nach und stellt Publikationen zum Thema „Neue Völkerwanderungen“vor.
Die neue Völkerwanderung
Herausgeber Claus Reitan, Journalist und Autor mit Schwerpunkt Nachhaltigkeit, hat mit insgesamt zwölf Experten und Expertinnen gesprochen. Als facettenreich bezeichnet er selbst das Ergebnis. Tatsächlich zeichnet dieses Buch ein Bild aus verschiedenen Perspektiven. So begegnen wir der Meteorologin Helga Krompkolb , die sich auf den Klimawandel und seine sozialund humangeographischen Auswüchse bezieht, oder Franz Fischler, der die agrarwirtschaftliche Perspektive vertritt. Alexander Schahbasi und Peter Webinger, beide als Migrationsexperten im Österreichischen Bildungsministerium für Inneres tätig, liefern zudem ausführliche Beiträge. Zu finden sind auch aktuelle Daten, basierend auf wissenschaftlichen Studien und Analysen. Für Abrundung sorgt der Essay von Franz Josef Radermacher, Vizepräsident des Ökosozialen Forums Europa und Mitglied des
Club of Rome. Die Ursachen sind, so die wesentliche Aussage des Bandes, nicht eindeutig erfassbar. Vor allem aber sind sie meist im individuellen und persönlichen Lebensumfeld zu verorten. Der Entschluss sein Heimatland zu verlassen ist Folgewirkung und Option für die Betroffenen zugleich. Migration ist kein Schicksal, sondern ein individuelles Instrument des persönlichen Krisenmanagements. Man flieht vor der Perspektiv- und Hoffnungslosigkeit. Rademacher baut in seinem Essay die systemische Brücke zur globalen Verantwortung: „Dass es so ist, hat viel mit uns zu tun und damit, wie wir die Welt organisiert haben.“(S. 135) Er plädiert daher einmal mehr für einen Global Marshall Plan. Es fehle leider noch an bewährten Modellen und Best Practice-lösungen für die in diesem Ausmaß neue Migrationsbewegung aufgrund fehlender Erfahrungswerte, speziell in Europa. Denn dieser „Big Shift“, so bezeichnet der Ökonom Michael Landesmann die Drehung der Wan-
derung von Ost-west zu Süd-nord, ist ein relativ junges Phänomen. Dafür braucht es nachhaltige Konzepte mit dem Ziel einer koordinierten und solidarischen Flüchtlingspolitik, in der die Balance zwischen den Systemen und die Akzeptanz in der Bevölkerung der Zielländer sichergestellt werden können. Ganz wesentlich sei der Umgang mit den verursachenden Faktoren: Bevölkerungs- und Entwicklungspolitik, Klimawandel, Kriege, Menschenrechtsverletzungen und die Nutzung und Verwertung von Ressourcen. Bildung und Arbeit nennt der Öko nom Robert Holzmann die „Push und Pull-faktoren“(S. 43) von Migration, sie wären der Schlüssel für jegliche Entwicklung in den Herkunftsländern.
Migrationsursachen basieren zwar in erster Linie auf persönlichen und individuellen Entscheidungen, aber verantwortlich für Migration sind politische, soziale, ökonomische, ökologische und humanitäre Bedingungen in den jeweiligen Herkunftsländern. Es sei das „Megathema des 21. Jahrhunderts“(S. 11), das an seinen Wurzeln gepackt werden sollte, so Schahbasi.
Ein facettenreicher Band, der einen profunden Ein- und Überblick zur Thematik bietet.
Migration: Ursachen 72 Die Neuen Völkerwanderungen. Ursachen der Migration. Hrsg. v. Claus Reitan. Wien: Ed. Steinbauer, 2016. 143 S., € 20,60 [D], 21,25 [A]
ISBN 978-3-902494-76-4
Afrika retten
„Europa muss sich darüber klarwerden, dass es nur eine gemeinsame Zukunft geben kann – mit demokratischen Grundsätzen und einem fairen globalen Handel“(S. 189), so der Autor eines durchaus informativen Buches. Asfa-wossen Asserate kennt die Missstände des afrikanischen Kontinents sehr gut. Er ist Großneffe des letzten äthiopischen Kaisers und lebt seit Ende der 1960er-jahre in Deutschland. Als die Revolution das Kaiserreich Äthiopien zum blutigen Niedergang führte, war er gerade als Student in Frankfurt am Main. Er war der einzige seiner Familie, der sich in Sicherheit befand, sein Vater wurde ermordet, Geschwister und Mutter waren inhaftiert. Nun ist er unter anderem Bestseller-autor und Afrika-berater für deutsche Unternehmen. Das Buch bietet Fakten und Zahlen zu Migrationsbewegungen weltweit, der Historie des „Homo Migrans“(S. 15), die bis sechs Millionen Jahre zurückblickt und uns erkennen lässt: Migration ist so alt wie die Menschheit selbst. Erläutert werden die unterschiedlichen Formen von Migration, von freiwilliger bis unfreiwilliger, bis hin zur Flucht aufgrund lebensbedrohlicher Ursachen wie Krieg und Verfolgung. Der Autor blickt ausführlich auf die Geschichte der Kolonialzeit zurück, beschäftigt sich mit Schwierigkeiten der Postkolonialzeit und den nicht genützten Chancen einer politischen und vor allem wirtschaftlichen Unabhängigkeit vom Westen für Staaten von A wie Angola bis Z wie Zaire. „Es ist Afrikas Zukunft, die den Kontinent verlässt.“(S. 33) Afrika ist aus demographischer Perspektive ein junger Kontinent, der Altersdurchschnitt liegt unter 25 Jahre, die Alphabetisierungsrate bei ca. 70 %. Das Wirtschaftswachstum ist so hoch wie nie zuvor, 5-10 % im kontinentalen Durchschnitt. Doch die Fassade täuscht, denn die Hälfte der urbanen Bevölkerung Afrikas lebt in Slums. Den autokratisch und diktatorisch geführten Staaten fehle es an Demokratie, Oppositionen werden ausgeschlossen, Bürgerinnenbewegungen und Proteste werden vom Militär, wie z.b. in Eritrea, blutig niedergeschlagen. An grundlegender Gewaltenteilung, die Rechtsstaatlichkeit und Gerechtigkeit gewähren sollte, mangelt es in den meisten afrikanischen Staaten weitestgehend. Zudem ist zu erwarten, dass die Weltbevölkerung bis 2050 von derzeit 7,4 auf 9,7 Milliarden anwachsen wird, der Großteil des Zuwachses fällt auf Afrika. Hinzukommt kommen der Klimawandel, Landgrabbing durch internationale Agrarkonzerne, Krankheiten wie Malaria oder Aids und nach wie vor Hunger (zwei von drei Afrikanerinnen würden an Hunger leiden).
Asserate spart nicht mit Kritik am Verhalten des Westens, jedoch auch nicht an den derzeitigen Machthabern afrikanischer Staaten, die das autoritäre Erbe der Kolonialzeit rücksichtslos weiterführen würden. Nur aufgrund der Unterstützung durch den Westen konnten sich viele Machthaber halten, heute wären sie zum großen Teil Alliierte im Kampf gegen den IS. Resümierend plädiert der Autor für einen beherzten Umgang und für eine faire wirtschaftliche und politische Zusammenarbeit zwischen Afrika und Europa. Eine durchaus empfehlenswerte Lektüre für alle, die Zusammenhänge besser verstehen möchten.
Migration: Afrika Asserate, Asfa-wossen: Die neue Völkerwanderung. Wer Europa bewahren will, muss Afrika retten. Berlin: Ullstein, 2016. 119 S., € 20,- [D],
20,60 [A] ; ISBN 978-3-549-07478-7
„Wir müssen ernsthaft Entwicklungspotenziale verbessern, Geld in andere Länder investieren und vernünftige Regulierung akzeptieren und durchsetzen. Die Fragen von Flucht und Migration sind von Fragen der Umwelt und der Organisation des ökonomischen Systems nicht zu trennen. Große Aufgaben warten auf uns.” (F. J. Radermacher in 72 , S. 135)
Schleppen, Schleusen, Helfen
Organisierte Fluchthilfe ist kein neues Phänomen. Bereits zwischen 1933 und 1945 kam es zu mehr illegalen Grenzübertritten als allgemein bekannt. Dieser Band befasst sich aus unterschiedlichen Blickwinkeln mit „Schlepperei“seit den 1930er Jahren bis heute und rückt die restriktive Aufnahmepolitik der Zielländer wesentlich in den Mittelpunkt. Migration: Schlepper
74 Schleppen, Schleusen, Helfen. Flucht zwischen Rettung und Ausbeutung. Hrsg. v. Gabriele Anderl ... Wien: Mandelbaum Verl., 2016. 568 S., € 24,90 [D], 25,60 [A] ; ISBN: 978385476-482-3
Asian Migrants in Europe
Mit Migration aus Asien nach Europa, ihren Ursachen und der Integration von Menschen aus Süd-china, von Vietnam bis Afghanistan, in der Vergangenheit bis heute beschäftigt sich dieses Buch aus transkultureller Perspektive. Herausgegeben in englischer Sprache von den beiden Historikerinnen Sylvia Hahn und Stan Nadel (Universität Salzburg). Migration: Asien
75 Asian Migrants in Europe. Transcultural Connections. Hrsg. v. Sylvia Hahn ... Göttingen: V&R unipress, 2014. 174 S., € 30,- [D/A]
ISBN 978-3-8471-0254-0
Weiters empfehlenswert:
76 Kingsley, Patrick: Die neue Odyssee. Eine Geschichte der europäischen Flüchtlingskrise. München: C. H. Beck, 2016. 331 S., € 21,95 [D], 22,60 [A] ; ISBN 978-3-406-69227-7
77 Ismail, Nermin: Etappen einer Flucht. Tagebuch einer Dolmetscherin. Wien: Promediaverl., 2016. 205 S., € 19,90 [D/A]
ISBN 978-3-85371-409-6