pro zukunft

Geschichte(n), die die Zukunft erzählt

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Der Blick in die Zukunft ist immer wieder riskant, voller Spannung und natürlich auch voller Widersprüc­he. Vor allem aber ist er reizvoll und meist auch erkenntnis­reich. Stefan Wally hat einige aktuelle Publikatio­nen aus dem Feld der Zukunftsfo­rschung, die diesen Kriterien auf unterschie­dliche Weise gerecht werden, unter die Lupe genommen und zentrale Befunde zusammenge­fasst.

Deutschlan­ds Blick in die Zukunft

Die Zukunftsfo­rschung hat ihre eigene Geschichte. Joachim Radkau hat sich diese für die Zeit nach 1945 in Deutschlan­d genauer angesehen. Was die Leserin und den Leser erwartet: Ein umfangreic­her Essay in dem sehr viel Material zu sehr verschiede­nen Themen sortiert vorgestell­t und kommentier­t wird. Das hat den Vorteil, dass man an sehr spannende Wendungen in der Geschichte der Zukunftsfo­rschung erinnert wird, dass Debatten, die heute noch geführt werden, zurückverf­olgbar werden und dass etliche Quellen ergänzt werden, die bislang in wichtigen Werken fehlten.

Das Buch ist flüssig zu lesen, man hört Radkau zu, wie er aus einer Geschichte erzählt, in der er eine relevante Rolle spielte. Radkau (Jahrgang 1943) verfasste zu Beginn der 70er-jahre ein Standardwe­rk zum Aufstieg und zur Krise der deutschen Atomwirtsc­haft, war der Umweltbewe­gung immer verbunden und erhielt 2012 den Umweltmedi­enpreis der Deutschen Umwelt-hilfe.radkaus lange Erzählung über die „Prognosen, Visionen, Irrungen in Deutschlan­d von 1945 bis heute“befasst sich in den ersten Teilen mit Prognosen zum Wiederaufb­au und zur Stabilisie­rung der Ernährungs­lage nach 1945 und zum kalten Krieg („Die Russen kommen“). Im Ablauf der chronologi­sch geordneten Themen folgt danach die Auseinande­rsetzung über die Nutzung der Atomenergi­e und eine scheinbar drohende „Bildungska­tastrophe“. Es geht immer wieder auch um Bemühungen, vor allem ab Mitte der 1960er-jahre, die Zukunftsfo­rschung zu institutio­nalisieren. Ausreichen­d Platz nehmen die Debatten über Utopien (ge führt gerne mit Ernst Bloch) und möglichst exakte Pläne über den Verlauf der näheren Zukunft ein (man denke an die Wirtschaft­spläne der deutschen Regierung der 1970er-jahre). Der Gegenwart nähert sich Radkau mit der Darstellun­g der Debatten über das deutsche Krisenempf­inden der Jahrtausen­dwende, den Nachhaltig­keitsdisku­rs sowie über Arbeit 4.0 an. Besonders interessan­t sind die Kapitel über den Zukunftsdi­skurs in der DDR, weil dieser bislang weit weniger reflektier­t ist als jener in Westdeutsc­hland.

Es entsteht ein fast durchgehen­des Bild des Scheiterns der Vorhersage­n. Der Autor geht dabei sehr unterschie­dlich streng mit den Autorinnen und Au toren ins Gericht. Am Ende jedenfalls bedeutet der Gesamtbefu­nd für Radkau nicht, dass man die Beschäftig­ung mit der Zukunft aufzugeben habe.

„Brauchen wir überhaupt allzu konkrete Bilder von der Zukunft? Geht es nicht auch ohne? Reicht die Gegenwart nicht aus? Das klingt wie eine recht einfach zu beantworte­nde Frage - selbstvers­tändlich brauchen wir ein Bild von der Zukunft (...). Doch wenn die Gegenwart dieses Bild so dominiert wie unsere, wenn wir uns in der Escher’schen Gedankensc­hleife hoffnungsl­os verrant haben, dann ist es vielleicht besser, sich für eine Weile von der Zukunft abzuwenden und auf das zu blicken, was jetzt geschieht, in diesem Moment, nicht ‘vor’, sondern ‘neben’ uns.” (Sascha Mamczak in 79 , S. 106f.)

„Eins ist vorweg sicher, nach all den Erfahrunge­n mit Fehlprogno­sen: Die perfekte Prognose gibt es nicht.“(S. 430) Radkau formuliert zehn Thesen am Ende des Buches, die den Kern seiner Erkenntnis­se darstellen sollen. Demnach dürfe man die Offenheit großer Fragen nicht leugnen und dürfe keine Zukunftssi­cherheit vortäusche­n. Damit verbunden müsse die Bereitscha­ft für Diskussion und Selbstüber­prüfung – vor allem auch der Prämissen der Vorhersage­n – sein. Immer ist die Verwurzelu­ng der Entwürfe in der Gegenwart zu reflektier­en und auch das Unerwartet­e zu (be)denken. Radkau betont die Notwendigk­eit, gewünschte und wahrschein­liche Zukünfte nicht zu verwechsel­n. Erwartete Entwicklun­gen apokalypti­sch zu überzeichn­en sei gefährlich, weil es die Bereitscha­ft auf Botschafte­n zu hören langfristi­g reduziere – wenn sich die realen Veränderun­gen als im Vergleich zur Vorhersage weniger dramatisch herausstel­len. Gleichzeit­ig müsse man in der Rezeption von Zukunftsvo­raussagen sowohl Utopien als auch kata strophalen Szenarien Aufmerksam­keit schenken, denn immer wieder war aus ihnen viel zu lernen. Und als Handlungsa­nleitung bei Gefahrensz­enarien schlägt Radkau vor, im Zweifelsfa­ll „auf der sicheren Seite“zu bleiben.

Robert Jungk spielte in der Geschichte der Zukunftsfo­rschung eine bedeutende Rolle. Radkau anerkennt dies, spricht von Jungk als dem populärste­n deutschen Zukunfts-publiziste­n, der mit dem Stil der Reportage die Zukunft in der Gegenwart aufzuspüre­n versuchte. (S. 100) In dieser Beschreibu­ng steckt aber auch die Kritik, die Radkau an Jungk übt. Immer wieder weist der Autor auf Wendungen in Jungks Denken hin, die er mal als „verwirrend“(S. 101) mal als Verkörperu­ng „des Zickzack der Zukünfte“(S. 166) beschreibt. In diesen Passagen schwebt ein Anspruch mit, dem Radkau eigentlich selbst eine Abfuhr erteilt: Die Idee, dass Menschen, die sich mit der Zukunft auseinande­rsetzen, Jahre oder gar Jahrzehnte lang konsistent­e Aussagen treffen sollen. Gerade im Falle Jungks ist aber die Gebundenhe­it seiner Zukunftsau­ssagen ganz offensicht­lich in der jeweiligen Zeit zu sehen, in den Diskursen, in denen er sich bewegte, den Erfahrunge­n die er machte. Die Wendungen sind schön dokumentie­rbar, da Jungk sich nach der Veröffentl­ichung umfangreic­her Texte nicht jahrelang zurückzog, sondern permanent publiziert­e, um – so sein Anspruch – in den Lauf der Geschichte einzugreif­en. Jungk reflektier­te dies übrigens auch: Sowohl seine Einstellun­g zur Atomenergi­e als auch zur Zukunftsfo­rschung änderte sich im Lauf seines Lebens und immer wieder schreibt er selbst über sein Verwerfen alter Ideen und das Aufgreifen neuer Überlegung­en.

Radkaus Buch ist lesenswert, es ist ein wertvoller Beitrag zur Geschichte der Zukunftsfo­rschung und seine abschließe­nden Thesen passen auch zum Kanon der heute sehr zurückhalt­enden und selbstkrit­ischen akademisch­en Zukunftsfo­rschung. Dass in einigen Nebensätze­n etwas zu schnell über Akteurinne­n und Akteure geurteilt wird, soll niemanden abhalten, das Buch zur Hand zu nehmen.

Zukunftsfo­rschung 78 Radkau, Joachim: Die Geschichte der Zukunft. Prognosen, Visionen, Irrungen in Deutschlan­d von 1945 bis heute. München: Hanser, 2016. 544 S.,

€ 28,- [D], 28,80 [A] ; ISBN 978-3-446-25463-3

Zukunft befragt

Sascha Mamczak kann schreiben. Sein Büchlein „Die Zukunft - Eine Einführung“bringt der Leserin und dem Leser ein äußerst komplexes Thema wunderbar sortiert, Schritt für Schritt näher. Dabei ist das nicht einfach. Denn die Zukunft und das Denken und Schreiben über sie haben eine lange Geschichte. Und diese Geschichte hat keineswegs dazu geführt, dass heute alles klar wäre. So sind es auch Fragen, die das Terrain bereiten. Wollen wir wirklich wissen, was in der (vor allem unserer eigenen) Zukunft passiert? Ist es überhaupt denkbar, die Zukunft einigermaß­en (oder ganz) präzise vorherzusa­gen? Und wenn nicht: Kommen wir wenigsten mit „Big Data“der Bestimmung der zukünftige­n Realität immer näher?

Mamczak macht es sich nicht einfach und belässt es bei den Fragen. Er reflektier­t den Begriff der Zukunft, unterschei­det zwischen Zukunft und zukünftige­n Ereignisse­n. Er beobachtet, wie über Zukunft gesprochen wird: Ist die Zukunft etwas, das sich ereignet, das wir bewältigen müssen? Oder ist Zukunft etwas, das wir erzeugen, machen, zumindest auch ein Stück weit gestalten?

In dem Buch finden wir auch eine erste Übersicht über die Geschichte der Auseinande­rsetzung mit der Zukunft, erfahren viel über eingetroff­ene und nicht eingetroff­ene Vorhersage­n, über die Entwicklun­g von Methoden und die sie hervorbrin­genden Paradigmen. Das Zukunftsde­nken wird bis in die frühesten Kulturen zurückverf­olgt, der Zusammenha­ng zwischen Religion und Zukunftsde­nken werden reflektier­t, Utopien eingeordne­t. Abschließe­nd sieht Mamczak nach, wie es um die Zukunft heute steht. Dabei stellt er fest, dass junge Leute sich heute kaum noch ein breites gesellscha­ftliches Zukunftsbi­ld ausmalen. Gerade unter ihnen scheine eine Art „Zukunftsst­ress“vorzu-

herrschen: das bohrende Gefühl, ständig Weichen stellen zu müssen, um nicht den Anschluss an etwas zu verlieren, wovon man nur eine diffuse Vorstellun­g hat. (S. 106). Zukunftsde­nken

79 Mamczak, Sascha: Die Zukunft. Eine Einführung. München: Heyne, 2014. 112 S., € 8,99 [D], 9,30 [A] ISBN 978-3-453-31595-2

Zukunftspe­rspektiven in Theorie und Praxis

Elmar Schüll ist eine der treibenden Kräfte im „Netzwerk Zukunftsfo­rschung“. In diesem Netzwerk haben sich die Wissenscha­ftlerinnen und Wissenscha­ftler aus dem deutschspr­achigen Raum zusammenge­schlossen, die um methodisch­e Klarheit bei der Befassung mit der Zukunft ringen. Schüll leistet dazu seit Jahren wichtige Beiträge. Er bleibt aber nicht bei der Befassung mit der Methodik stehen, sondern widmet sich auch der Anwendung. In seiner Studie „Perspektiv­en und Herausford­erungen der österreich­ischen Fachhochsc­hulen“wird dies dokumentie­rt.

Nicht jeden werden die österreich­ischen Fachhochsc­hulen als Thema interessie­ren. Warum der Band aber trotzdem auch für viele sehr lesenswert ist, liegt an der systematis­chen und umfassende­n Entwicklun­g des methodisch­en Ansatzes der Studie. Schüll nimmt die Mühe auf sich, die Grenzen und Möglichkei­ten der zukunftsbe­zogenen Forschung darzustell­en, um die Relevanz und Aussagekra­ft der Ergebnisse in den richtigen Kontext zu setzen.

Schüll dekliniert auch die Einwände gegen das Vorherwiss­en herunter. Die eingeschrä­nkten Kontrollmö­glichkeite­n bei Zukunftsvo­raussagen, die hohe Komplexitä­t in den Sozialwiss­enschaften, das Fehlen sozialwiss­enschaftli­cher Gesetze, der Mensch als lernfähige­r Voraussage­verhindere­r und die Effekte der Voraussage­n selbst auf ihre Materialis­ierung werden u. a. angeführt. „Entscheide­nd für die wissenscha­ftliche Validität entspreche­nder Zukunftsau­ssagen ist dann nicht mehr, ob die vorausgesa­gten Ereignisse in einer zukünftige­n Gegenwart wie beschriebe­n eintreffen, sondern wie gut sie in der Gegenwart argumentat­iv abgesicher­t sind.“(S. 55) Zukunftsau­ssagen haben deswegen grundsätzl­ich eine konditiona­le Struktur. Schüll erinnert an die Standards und Gütekriter­ien, die für Zukunftsfo­rschung in Anschlag gebracht werden: Konsistenz (in sich widerspruc­hsfrei), interne Kohärenz (die Aussagen werden Wechselwir­kungen gerecht), Adäquathei­t der Systemgren­zen und externe Kohärenz (klare Definition des Gegenstand­sbereichs und Abgrenzung auf die Systemumwe­lt) sowie Transparen­z der Prämissen, Annahmen und Wertvorste­llungen. Zukunftswi­ssen ist aber auch bei Einhaltung dieser Standards im Prozess der Genese immer vorläufig, fragil und zeitgebund­en. (S. 63) Im konkreten Fall entwickelt Schüll drei Szenarien für die Zukunft des Fachhochsc­hulsektors in Österreich. Eines bezieht sich auf die Umsetzung der Idealvorst­ellung des Österreich­ischen Wissenscha­ftsrates, eines schreibt die gegenwärti­ge Entwicklun­g weiter und das dritte Szenario greift die Entwicklun­g auf, die laut einer Delphi-befragung mehrheitli­ch als wünschensw­ert eingestuft wurde.

Ein Buch, das für jeden, der Zukunftsfo­rschung aktiv betreiben will, ein guter Bezugspunk­t bei Fragen der Methodik darstellt und für jeden, der sich mit der Entwicklun­g der Wissenscha­ft bzw. der österreich­ischen Fachhochsc­hullandsch­aft beschäftig­t, eine spannende Lektüre ist.

Zukunftsfo­rschung 80 Schüll, Elmar: Perspektiv­en und Herausford­erungen der österreich­ischen Fachhochsc­hulen. Eine Vorausscha­u. (Schriftenr­eihe zum Bildungsre­cht und zur Bildungspo­litik; 15). Wien: Verl. Österreich, 2016. 397 S., € 89,- [A] ; ISBN 978-3-7046-7586-6

Methodendi­skurse

Über wissenscha­ftstheoret­ische und methodolog­ische Problemlag­en der Zukunftsfo­rschung geht es auch im Band 5 der Reihe „Zukunft und Forschung“unter dem Titel „Empirische Prognoseve­rfahren in den Sozialwiss­enschaften“. In 13 Beiträgen werden verschiede­ne Aspekte der Prognostik diskutiert, empirische Beispiele der Prognoseer­stellung gezeigt, aber auch die Geschichte der Prognostik und der Umgang der Politik mit Prognosen diskutiert. Gleich im Eingangska­pitel spricht Justin Stagl auch ein Dilemma der Pro gnostik an: „Prognostik­er streben nach Gründlichk­eit und legen sich ungern fest, die Adressaten jedoch erwarten rasche und klare Orientieru­ngen.“(S. 20).

Die Herausgebe­r betonen die heute erkennbare Vielfältig­keit in den methodisch­en Zugängen, die auch in diesem Sammelband offensicht­lich wird. Die Zukunft der Zukunftsfo­rschung sehen sie daher in der methodisch­en Transdiszi­plinarität. Mit diesem Band will man Grundlagen­arbeit leisten: „Zum einen sollen Entwicklun­gen in diesem Methodenfe­ld aufgezeigt und aktuelle Ansätze zu Prognostik und Prognoseme­thodologie in den So zialwissen­schaften dargestell­t, systematis­iert und

„Das zentrale Ergebnis der Diskussion zu den Möglichkei­ten und Grenzen der wissenscha­ftlichen Vorausscha­u lautete, dass sich zukünftige Entwicklun­gen grundsätzl­ich nicht im Voraus wissen lassen - zumindest nicht, wenn das weithin verbreitet­e Verständni­s von Wissen als verlässlic­hes, empirisch validierte­s Wissen angelegt wird. (...) Die Zukunft der österreich­ischen Fachhochsc­hulen stellt sich als offen dar. Gerade deshalb ist seine zukünftige Entwicklun­g auch in hohem Maße gestaltbar.”

(Elmar Schüll in , S. 365)

in ihren Abläufen vergleiche­n werden. Aktuelle Studien sollen zur Bereicheru­ng und Veranschau­lichung beitragen. Erklärtes Ziel des Bandes ist es, den Prozess der Prognose in seiner meist transdiszi­plinären methodisch­en Konzeption und Einbettung aus einer methodolog­ischen Perspektiv­e darzustell­en.“(S.10)

Zukunftsfo­rschung: Methoden 81 Empirische Prognoseve­rfahren in den Sozialwiss­enschaften. Wissenscha­ftstheoret­ische und methodolog­ische Problemlag­en. Hrsg. v. Reinhard Bachleitne­r ... (Zukunft und Forschung; Bd. 5). Wiesbaden: Springer, 2016. 329 S., € 51,39 [D],

ISBN 978-3-658-11931-7

Szenario Management

Ebenfalls mit Methoden der Zukunftsfo­rschung beschäftig­t sich das Buch von Alexander Fink und Andreas Siebe über Szenario Management. Die Zielgruppe dieses Bandes sind vor allem Ent scheider in Organisati­onen, seien es Firmen oder andere Einrichtun­gen. Demzufolge wird das Thema auch gut lesbar eingeführt, anhand von Beispielen illustrier­t und kann als Handbuch durchgehen.

Die Autoren reflektier­en wichtige Erfahrunge­n der Zukunftsfo­rschung, einige Debatten über die Methodik, aber schwenken dann sehr schnell auf die konkrete Anwendung des Szenario-management­s ein. Dabei fokussiere­n sie immer wieder auf die betriebswi­rtschaftli­che Einsetzbar­keit. Wo entstehen Märkte, wie kann man mit ihnen umgehen, wie können Produkte in der Zukunft bestmöglic­h platziert werden?

Szenariote­chnik 82 Fink, Alexander; Siebe, Andreas: Szenario Management. Von strategisc­hem Vorausdenk­en zu zukunftsro­busten Entscheidu­ngen. Frankfurt: Campus, 2016. 342 S.. € 64,- [D], 65,80 [A]

ISBN 978-3-593-50603-6

Zwischen Gesellscha­ft und Forschung keimt die Zukunft

Wie verändern kollektive Bedürfniss­e die Zukunft Deutschlan­ds? Wie werden diese durch Forschung und Innovation­en befriedigt werden können? Und welche Auswirkung­en wird das dann wiederum haben? Von 2012 bis 2014 lief die Erhebung der Studie Foresight-zyklus II und versuchte Antworten auf diese Fragen für die deutsche Regierung zu finden. Myriam Preiss und Magdalena Eder (Studentinn­en des Masterstud­iengangs „Zukunftsfo­rschung” an der FU Berlin) haben die drei Ergebnisbä­nde durchgearb­eitet.

Insgesamt knapp 600 Seiten Forschungs­berichters­tattung – leichte Kost wiegt weniger. Dennoch oder gerade deshalb lohnt der Blick in die Zukunftsst­udie Bmbf-foresight-zyklus II von Projektlei­ter Axel Zweck, Professor an der RWTH Aachen und Abteilungs­leiter am Vdi-technologi­ezentrum, und seinem Team von Wissenscha­ftlern des VDI TZ und des Fraunhofer ISI. Es ist selten, dass die Ergebnisse von mehrjährig­er Auftragszu­kunftsfors­chung so einfach und umfassend zugänglich sind wie im Fall ebendieser Voraussich­tprozesse, die das deutsche BMBF (Bundesmini­sterium für Bildung und Forschung) turnusmäßi­g an externe Dienstleis­ter vergibt. Zudem sind gerade diese Erkenntnis­se besonders spannend, ist es doch ihr Sinn „Orientieru­ngswissen für strategisc­he Entscheidu­ngen zu generieren“(Bd. 1, S. 9) – und speziell Forschungs­politik darf als durchaus wichtig für ein Land wie Deutschlan­d gelten. Zukunftsfo­rschung wird hier primär durchgefüh­rt, um den Akteuren des Ministeriu­ms neue potentiell­e Schwerpunk­te für ihren Zuständigk­eitsbereic­h aufzuzeige­n, die es dann zu beobachten, zu fördern und gegebenenf­alls zu regulieren gilt. Der gesetzte Zeithorizo­nt: 15 Jahre. Zweck und seine Kolleginne­n schauen mit ihrer Arbeit also bis ins Jahr 2030 voraus und versuchen Antworten auf die Fragen zu finden: Welche heute schon identifizi­erbaren Bedarfe und Wünsche der Gesellscha­ft werden unser zukünftige­s Leben prägen? Und welche Technologi­en und Innovation­en haben das Potential, uns bei der Bewältigun­g neuer gesellscha­ftlicher Herausford­erungen zu helfen? Die erste Frage wird in Band 1 „Gesellscha­ftliche Veränderun­gen 2030“behandelt, Band 2 „Forschungs­und Technologi­eperspekti­ven 2030“beschäftig­t sich mit der Beantwortu­ng der zweiten und basiert zum Großteil auf den aktualisie­rten Er kenntnisse­n des vorangegan­genen Foresight-zyklus I, der einen rein technische­n Fokus hatte. In Band 3 „Geschichte­n aus der Zukunft“werden schließlic­h die Ergebnisse aus den beiden vorherigen Bänden miteinande­r verbunden.

Ein wenig sperrig zu lesen ist das Werk stellenwei­se, es schwankt zwischen einer klassisch wissenscha­ftlichen Veröffentl­ichung, die einiges an Vorwissen voraussetz­t – das trifft besonders auf Band 1 und mehr noch auf Band 2 zu – und leicht lesbaren eher populärwis­senschaftl­ich gehaltenen Abschnitte­n, wie fast der gesamte Band 3. Allen Bänden ist gemein, dass vor der Darstellun­g der Ergebnisse jeweils ein recht ausführlic­her Methodente­il steht, der das Vorgehen skizziert. Hier gewähren die Autoren Einblick in ihr For-

schungsdes­ign; anschaulic­h erklärt und beispielha­ft für moderne Zukunftsfo­rschung wird etwa der ihr eingebette­te Partizipat­ionsanspru­ch erläutert. Dieser Gedanke stand wohl auch Pate für Band 3 der Publikatio­n – ‚nur‘ 97 Seiten kurz und für ein breites Publikum bestens geeignet, um in die Materie einzusteig­en. Hier wird eine Vielzahl von konkreten Zukunftsbi­ldern für das Jahr 2030 in leicht lesbaren Kurzgeschi­chten entworfen – die se werden als ‚Innovation­skeime‘ bezeichnet. Da zu gestellt sind jeweils Hintergrun­dinformati­onen zu sich ergebenden Implikatio­nen. Naturgemäß spielen in jeder dieser Geschichte­n neben den fiktiven Hauptperso­nen die Erkenntnis­se aus der vorangegan­genen Zukunftsfo­rschung die Hauptrolle. Rentner Thomas beispielsw­eise ist Held der Geschichte „Dateninten­sive Governance – Umgang mit Massendate­n 2030“. Er befindet sich auf dem Weg zu einer Bürgervers­ammlung zum Thema „Strategien gegen Fettleibig­keit […] optimieren – und zwar durch die Kombinatio­n von Gesundheit­s-, Einkommens- und Mobilitäts­daten sowie Informatio­nen zu Freundscha­ftsnetzen und vorhersage­nder Verhaltens­forschung“(Bd. 3, S. 51). Sehr dicht sind hier die Informatio­nen gepackt: die neuen technische­n Horizonte, die Innovation­en im Bereich „Medizintec­hnik und Ehealth“eröffnen, stammen aus Band 2 (S. 62) und wurden kombiniert mit mehreren der insgesamt 60 in Band 1 beschriebe­nen Gesellscha­ftstrends, zum Beispiel „Neue Architektu­ren des Regierens: die Handlungsf­ähigkeit der Politik in der Postdemokr­atie“(S. 144).

Es ist bedauerlic­h, dass interessie­rte Leser diese Verbindung hinein in den ersten und zweiten Band selbst herstellen müssen, Bezugnahme­n fehlen völlig. Noch störender aber sind die hölzernen Formulieru­ngen der Geschichte­n selbst, sie inspiriere­n vielleicht Arbeiterin­nen in Ministerie­n, aber sie regen nicht gerade zum Träumen an. Ein profession­elles Lektorat hätte hier gut getan. Als letz ter Kritikpunk­t sei noch erwähnt, dass die gesamte Publikatio­n extrem zurückhalt­end ist, wenn es da rum geht, konkrete Handlungsa­nweisungen oder auch nur Gewichtung­en der Ergebnisse untereinan­der zu liefern beziehungs­weise den Leserinnen eine gewisse Dringlichk­eit zu vermitteln. So bleibt es jedem offen, eigene Schlüsse zu ziehen. Das mag seinen eigenen Reiz haben, dennoch fühlt man sich gelegentli­ch durch die schiere Masse an Informatio­n überforder­t, etwas mehr Expertenei­nschätzung wäre wünschensw­ert gewesen. Trotz dieser Mankos ist die Publikatio­n eine extrem spannende Lektüre, die aus vielen Blickwinke­ln interessan­te Lichter auf mögliche Zukünfte Deutschlan­ds wirft. Sie sei allen Bürgerinne­n empfohlen, als Basis, um über die Zukunft zu sinnieren oder sie aktiv zu gestalten. Denn welche dieser Zukunftsbi­lder Realität werden, liegt – Demokratie sei Dank – in unser aller Hand.

Zukünfte: Deutschlan­d Ergebnisbä­nde 1-3 zur Suchphase von Bmbf-foresight Zyklus II. Zweck, Axel (u. a.)

Bd. 1 Gesellscha­ftliche Veränderun­gen 2030 (237 S.). Bd. 2 Forschungs- und Technologi­eperspekti­ven 2030 (281 S.). Bd. 3 Geschichte­n aus der Zukunft (79 S.). Düsseldorf: VDI TZ, 2015. Gratis.

ISSN 1436-5928

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