Die neue türkische Ära
Die Bewegung des Predigers Fethulla Gülen wurde für den Putschversuch im Juli 2016 verantwortlich gemacht. Dazu und zur Türkei unter Präsident Erdogan sowie zur türkisch-deutschen Beziehung hat sich Dagmar Baumgartner aktuelle Bücher angesehen.
Seit dem Zerfall des Osmanischen Reiches hat die Türkei einiges erlebt. Das eurasisch geteilte Land ist geprägt von einem erbitterten Kampf der Kurden um Unabhängigkeit, von der Zypernkrise, dem vehementen Nationalismus, den gescheiterten und gelungenen Putschversuchen des Militärs und von harten Wirtschaftskrisen. Heute ist es unruhiger denn je in der Türkei, Erdogans Politik entfernt sich in großen Schritten weg von Laizismus und Demokratie. Im Juli 2016 wurde eine neue Ära in der türkischen Politik eingeleitet. Ein erneuter Putschversuch, durchgeführt von Teilen des Militärs, wurde in Windeseile niedergeschlagen. Was danach folgte, ähnelt einer Hexenjagd. Zigtausende wurden inhaftiert, darunter Verantwortliche der Justiz, Journalistinnen und Journalisten. Bereits einen Tag nach dem Putschversuch wurde die Hizmet-bewegung rund um den Prediger Fethulla Gülen dafür verantwortlich gemacht. Die Bewegung selbst distanziert sich von diesen Vorwürfen. Aktuelle Bücher zur Türkei unter Präsident Erdogan, zur türkisch-deutschen Beziehung und zur Hizmet-bewegung hat sich Dagmar Baumgartner angesehen.
Der Fall Erdogan
Sevim Dagdelen ist Mitglied des Deutschen Bundestages, Sprecherin für Internationale Beziehungen der Fraktion Die Linke und eine scharfe Beobachterin und Kritikerin der türkischen Politik. Mit diesem Buch bietet die in Duisburg geborene Tochter kurdischer Einwanderer Stoff für eine begründete Skepsis und Kritik gegenüber dem Verhältnis zwischen Europa und der Türkei. Im Speziellen kritisiert sie die von „Unterwürfigkeit“(S. 11) geprägte deutsch-türkische Beziehung.
Das Buch vermittelt zudem auch Sachwissen über die geopolitische Situation der Türkei, die besondere Stellung in der NATO, den Pakt mit den islamistischen Terrororganisationen in Syrien, die Kurdenpolitik Erdogans und sie zeigt auf warum die Türkei strategisch wichtig für Europa ist.
Die schnelle und harte Reaktion auf den Putschversuch im Juli 2016 bringt die Autorin mit der von Erdogan geplanten Präsidialmacht in Verbindung. Sie stellt die offizielle Version der Akpregierung, wonach die Bewegung um den Pre-
diger Fethullah Gülen hinter dem Militärputsch stecken würde, in Frage und sympathisiert mit alternativen Erklärungsversuchen. Ebenso könnte der Putschversuch, der präzise und effizient niedergeschlagen wurde, eine reine Inszenierung der Regierung gewesen sein, mit dem Ziel, dem eigenen Volk und der ganzen Welt die Stärke und Durchsetzungskraft Erdogans zu beweisen, so Dagdelen.
Einige Monate nach Erscheinen des Buches wurde das von Erdogan initiierte Referendum, das die Legitimation seiner geplanten Alleinherrschaft zum Ziel hatte, zu seinen Gunsten entschieden. Erdogans autoritäre und durchaus manipulative Strategie findet also bei knapp der Hälfte der Bevölkerung Zuspruch. Doch die Gegner des Referendums, allen voran die prokurdische HDP, hatten kaum Möglichkeiten, die Gründe für ihr Dagegenhalten medienwirksam zu kommunizieren, da fast alle Medien unter der Kontrolle der AKP stehen.
Kritik an Deutschland
Dagdelens Kritik gegenüber der Türkei ist gut begründet, vor allem wenn sie über die Entmachtung der Justiz und die Gleichschaltung der Medien schreibt. Ihre Kritik an der Kurdenpolitik ist nicht neu und Dagdelen steht bei weitem nicht alleine da, wenn sie behauptet, der türkische Präsident wäre kein Partner der EU, für den der Frieden in Syrien nebensächlich wäre. In manchen Themenbereichen fehlt es ihrer Argumentation dagegen an pragmatischer Untermauerung, etwa wenn die Unterstützung des Putschversuches durch die USA thematisiert wird, welche lediglich eine Vermutung bleiben sollte.
Der deutschen Bundeskanzlerin wirft Dagdelen vor, für geopolitische Interessen deutsche Grundrechte zu opfern. So kritisiert sie Merkels unterwürfiges Verhalten im Zusammenhang mit der Resolution „Erinnerung und Gedenken an den Völkermord an den Armenieren und anderen christlichen Volksgruppen in den Jahren 1915 und 1916“des deutschen Bundestages. Als einen “abscheulichen Pakt von Union und SPD mit Erdogans Türkei“(S. 117) bezeichnet sie die Rüstungshilfe und den Waffenexport Deutschlands in die Türkei
Deutschland ist der wichtigste Handelspartner der Türkei, das bilaterale Handelsvolumen im Jahr 2015 war so hoch wie nie zuvor. Die linksorientierte Dagdelen beklagt den neoliberalen Schub der Türkei, der in den ersten Regierungsjahren Erdogans vorwiegend aufgrund von Privatisierungen erfolgte. Schuldig geblieben ist uns die Autorin jedoch die Tatsache, dass dieser wirtschaftlichen Öffnung ein massiver Wirtschaftsaufschwung folgte, der zu wesentlich mehr Wohlstand im Land geführt hat, der nun wiederum von dem autokratischen Regierungsstil Erdogans bedroht ist. Dagdelen schließt mit einem Zehnpunkte Programm für politische Alternativen im Umgang mit der Türkei als Empfehlung für die Regierungen Europas. Türkei
114 Dagdelen, Sevim: Der Fall Erdogan. Wie uns Merkel an einen Autokraten verkauft. Frankfurt/m.: Westend-verl., 2016. 220 S., € 18,- [D], 18,50 [A] ISBN 978-3-86489-156-4
Die Gülen-bewegung
Recep Tayyip Erdogan und Fethulla Gülen verbindet der Islam, doch sie vertreten zwei verschiedene Weltbilder. Zumindest wenn man den Worten von Ercan Korokoyun glaubt. Denn Gülen trete öffentlich „für Demokratie, Vielfalt und Individualität ein – und damit auch für Religionsfreiheit“(S. 123). Erdogans Ziel hingegen sei die Schaffung eines autoritären Präsidialstaates. „In seiner Traum-türkei hat der Präsident das alleinige Sagen und der Islam ist als Staatsreligion verankert“. (S. 123) Die türkische Regierung bezeichnet die Hizmet-bewegung, die den Worten Fethulla Gülens folgt und daher auch Gülenbewegung genannt wird, als Terrororganisation, die Mitglieder der Hizmet selbst bezeichnen sich als „Anwälte der Demokratie“(S. 202). Nach Grautönen sucht man vergeblich, denn das Buch gleicht einer Verteidigungsschrift für die Lehren Gülens und der Hizmet-bewegung. Dies liegt vermutlich an der fehlenden Distanz des Autors zur Thematik. Der in Deutschland geborene Ercan Karakoyun, Sohn türkischer Arbeiter, studierte Raumplanung in Dortmund und war in leitender Funktion im Rahmen der JUSOS aktiv. Er ist Mitbegründer und Geschäftsführer des „Forum für interkulturellen Dialog e.v.“, einem Verein der Hizmet-bewegung mit Sitz in Berlin.
Das Ziel der Bewegung in Deutschland sei ein menschlicher und demokratischer Islam und verbesserte Bildungsmöglichkeiten für türkischstämmige Deutsche. Weltweit gibt es über 1000 Hizmet-schulen, denn nur durch Bildung, so sind die Mitglieder überzeugt, kann Integration und eine Reformierung des Islam gelingen. Vorgeworfen wurde der Bewegung bereits sehr viel, auch von Akp-gegnern: ihr reaktionäres Frauenbild etwa, oder die frühere Nähe zur AKP, die Verfolgung von Journalisten und Journalist-
„So wie die deutsche Außenpolitik zu Beginn des 20. Jahrhunderts das Osmanische Reich an seiner Seite halten wollte, auch wenn die Armenier darüber zugrunde gingen, so will sie heute, rund hundert Jahre später, die Türkei in der Allianz halten, auch wenn die Kurden darüber zugrunde gingen.“(Sevim Dagdelen in 71 , S. 219)
innen, die über die Hizmet-bewegung kritisch berichteten, und die strengen Regeln innerhalb der Bewegung, die mitunter auch als mysteriös bezeichnet werden. Pater Klaus Mertes, früherer Rektor der Berliner Jesuitenschule, schreibt im Geleitwort des Buches sehr treffend: “Man muss nicht in allem mit der Gülen-bewegung einverstanden sein. Es gibt auch Opfer ihrer jahrelangen Kooperation mit der AKP von Erdogan. Aber es ist bedrückend zu sehen, wie die Propaganda Erdogans wirkt und Kollateralschäden verursacht.“(S. 10)
Der Putschversuch 2016
Die mediale Aufmerksamkeit nach dem Putschversuch 2016 führte einerseits zur weltweiten Verfolgung von Hizmet-mitgliedern. Andererseits erlangte die Bewegung Aufmerksamkeit für die Lehren Gülens und weltweiten Initiativen in seinem Sinn. Man wurde auf die fortschrittlichen Bildungskonzepte aufmerksam, in denen z. B. der Ethik-unterricht dem islamischen Religionsunterricht vorgezogen wird.
Aber wie ist es nun wirklich um diese gepriesene Weltoffenheit und das Bestreben, einen neuen, modernen Islam zu fördern, bestellt? Nach der Lektüre bleibt nach wie vor ein Gefühl der Skepsis zurück. Das Buch ist zwar sehr informativ und anregend geschrieben, Karakoyuns Begeisterung für die europäischen Grundwerte wird betont, seine Überzeugung, die islamische Welt reformieren zu wollen, erscheint authentisch. Die Antwort darauf, wie die Gülen-bewegung außerhalb Deutschlands, speziell in der Türkei, mitsamt ihren politischen Bestrebungen agiert, bleibt allerdings offen. Wie auch immer sich diese Bewegung weiterentwickeln wird und was tatsächlich hinter den Lehren Gülens steckt, die Hetze, die die Menschen von Hizmet erdulden müssten, sei mit nichts zu rechtfertigen, so Pater Klaus Mertes im Geleitwort. Die friedlichen Reaktionen von führenden Persönlichkeiten der Bewegung, einschließlich Gülen selbst, auf die Anschuldigung Drahtzieher des militärischen Putschversuches am 15. Juli 2016 zu sein, sprechen für sich. Gülen-bewegung
115 Karakoyun, Ercan: Die Gülen-bewegung.
Was sie ist, was sie will. Herder Verlag, Freiburg i. Br.: Herder, 2017. 224 S., € 19,99 [D], 20,90 [A]
ISBN 978-3-451-37679-5
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Die Türkei und der Islam befinden sich derzeit im Umbruch. Der Autor betrachtet anhand zahlreicher persönlicher Erfahrungen und Begegnungen in der Türkei, weshalb es zu diesem Wandel gekommen ist. Ebenso greift er anhand eines historischen Rückblickes bis auf die osmanische Zeit zurück, um die politischen und kulturellen Ursachen der heutigen Problemlage deutlich zu machen. Türkei
116 Schweizer, Gerhard : Türkei verstehen. Von Atatürk bis Erdogan. Stuttgart: Klett-cotta, 2016.
547 S., € 9,95 [D], 10,30 [A] ; ISBN 978-3-608-96201-7