Editorial
Der Blick zurück auf die vergangenen Monate wirft einige Fragen auf. Warum stimmten viele der in Europa in freien, demokratisch verfassten Gesellschaften lebenden Türkinnen und Türken für ein Ein-mann-system in der entfernten Türkei? In Deutschland haben 63,1 Prozent der Türken, die an der Abstimmung teilgenommen haben (knapp 50 Prozent der Wahlberechtigten), für ein autoritäres Präsidialsystem gestimmt. Österreich verzeichnet gar den zweithöchsten Anteil der „Ja“-stimmen außerhalb der Türkei mit 73,23 Prozent. Wohin steuert die USA unter Trump? Welche Auswirkungen wird der Brexit letztlich auf Europa haben?
Die Wahlen in Frankreich wiederum haben gezeigt, dass mit proeuropäischen Positionen doch noch Mehrheiten zu erreichen sind. Gelingt es Europa gar, sich neu zu erfinden? Ein positives Zeichen setzen immer mehr Menschen in vielen europäischen Städten mit dem „March for Europe“, um gegen die zunehmend lauter gewordenen antieuropäischen Stimmen ein deutliches Zeichen zu setzen. Unter dem Titel „Global Climate March“demonstrieren viele Bürgerinnen und Bürger in Europa für mehr Klimaschutz. Entgegen der auch in vielen Medien vorherrschenden depressiven Rhetorik zeigt sich immer öfter eine lauter werdende Zivilgesellschaft, die nicht gegen, sondern für etwas auf die Straße geht. Die Hoffnung auf Gestaltbarkeit unserer Zukunft lebt. Der neue österreichische Film „Die Zukunft ist besser als ihr Ruf“(Nicole Scherg u. a., Regie) greift diese Stimmung auf, indem er sechs Personen porträtiert, die beschlossen haben, die Dinge selbst in die Hand zu nehmen.
Darauf setzt auch Harald Welzer in seinem neuen Buch „Wir sind die Mehrheit“1) und mit der von ihm mitbegründeten Initiative „Die Offene Gesellschaft“, die mit zahlreichen Aktionen (...) in Erscheinung tritt. Auf der Homepage der Bewegung heißt es „Wir haben einfach keine Zeit, immer nur dagegen zu sein“(www.die-offene-gesellschaft.de/). Dort wird auch der 17. Juni 2017 als „Tag der offenen Gesellschaft“angekündigt. Damit soll ein international sichtbares Zeichen für das Engagement der Bürgergesellschaft und für die Einwanderungsgesellschaft gesetzt und zugleich gelebte Offenheit, Gastfreundschaft, Großzügigkeit und Liberalität gezeigt werden. Denn wenn wir aufhören, für Demokratie und eine offene Gesellschaft zu kämpfen, ist es vorbei mit der Freiheit und mit der Demokratie, meint der renommierte Autor. Beides gibt es nur dann, so der Direktor der Stiftung Zukunftsfähigkeit, wenn viele Menschen immer wieder für sie eintreten. Seine Argumente sollten uns wachrütteln.
Welzer sieht gegenwärtig die Demokratie den schwersten
Angriffen der Nachkriegszeit ausgesetzt. Diese würden von den Menschen- und Demokratiefeinden, den Feinden der Freiheit, namentlich den Islamisten und den Neurechten lanciert und vorangetrieben. „Und wirtschaftspolitisch ist das von allen Parteien vorgetragene Mantra des Wachstums als einzig seligmachende Lösung der Gegenwartsprobleme eine intellektuelle Zumutung und ein ökologisches Desaster.“(S. 106) Außerdem sollten wir nicht ständig über nebensächliche Dinge streiten und darüber vergessen, dass es wichtigere Themen gibt, die auch tatsächlich etwas mit Zukunft zu tun haben. „Wie doof kann man sein?“(S. 109), so der Autor weiter, wochenlang darüber zu debattieren, ob die Bundeskanzlerin nun „Wir schaffen das“hat sagen dürfen oder nicht. Am Beispiel des Anschlags auf dem Berliner Weihnachtsmarkt kritisiert Welzer den Überbietungswettbewerb, zu einer Politik der Angst beizutragen, eine Strategie, die vormals der extremen Rechten vorbehalten war (vgl. S. 109). Welzer beklagt auch den Mangel an positiver Berichterstattung über das, was gut läuft in unserer Gesellschaft. Und er vermutet, dass „die Kräfte des Zusammenhalts möglicherweise viel stärker (sind), als es uns im täglichen Blick auf die Katastrophen der Welt erscheint. Und wenn man diese Perspektive mal verändern und zeigen würde, was warum gut und vor allem besser läuft als vor 50 oder 100 Jahren, dann würde daraus auch eine Ermutigung für alle diejenigen resultieren, denen zwar dauernd eingeredet wird, dass ‚man ja nichts machen kann‘, die das aber immer noch nicht glauben.“(S. 116)
Was also können wir tun, um die Mehrheit zu bleiben? Der Autor selbst hat, wie bereits erwähnt, die „Initiative Offene Gesellschaft“mitbegründet und er zeigt in seinem Buch unzählige positive, inspirierende Beispiele2). Alle Demokratiefreundinnen und -freunde und jene, die weiterhin ein offenes, demokratisches System wollen, sind eingeladen, sich dementsprechend zu engagieren. Nicht zuletzt erinnert Harald Welzer an die Weimarer Republik, die bekannter Maßen nicht an zu vielen Feinden gescheitert ist, sondern daran, dass es zu wenig Sympathisanten gab (vgl. S. 120f.). In dieser Ausgabe haben wir wiederum ein breites Themenspektrum in den Blick genommen. Hans Holzinger setzt sich mit „Arbeit im digitalen Wandel“auseinander. Weitere Schwerpunkte beschäftigen sich mit den Gefahren für Politik und Demokratie. Chancen der Bürgerbeteiligung und entsprechende Methodenhandreichungen reflektiert Dagmar Baumgartner und schließlich hat Stefan Wally Zukunftsentwürfe gelesen und entsprechend eingeordnet. Spannend auch ein kleines Kapitel über die USA (Gastrezensent Reinhard Geiger) und die Türkei in Zeiten Erdogans (Dagmar Baumgartner).
Eine erkenntnisreiche und spannende Lektüre wünscht, auch im Namen des Jbz-teams,
Ihr alfred.auer@jungk-bibliothek.org