Faire Globalisierung
Dass die gegenwärtige Weltwirtschaftsordnung eher einem Neofeudalsystem als einer Welt-demokratie entspricht, belegen die mittlerweile zuhauf publizierten Fakten. Zunehmender Konzentration des Reichtums bei den Wenigen steht die Verarmung vieler Ausgegren
Gegen die kannibalische Weltordnung
Wer von Jean Zieglers aktuellem Buch, erschienen in seinem 83sten Lebensjahr, allein eine Rückschau auf sein Leben erwartet, kennt den Autor nicht. Auch wenn es darin um seine „gewonnenen und verlorenen Kämpfe“geht, blickt Ziegler in die Zukunft, zu jenen Kämpfen, „die wir gemeinsam gewinnen werden“, wie es im Untertitel des Bandes heißt.
Ziegler verfasst eine Art Hommage an die Vereinten Nationen, der er seit vielen Jahren – zunächst als Sonderberichterstatter für das Recht auf Nahrung, nun als Vizepräsident des Beratenden Ausschusses des Menschenrechtsrates – angehört. Er sieht durchaus die Schwächen dieser Organisation, ist aber überzeugt, dass es keine Alternative zu ihr gibt, um gegen Hunger, Gewalt und Krieg anzugehen. Während die Neuordnung der Welt 1945 die allgemeine Garantie der Menschenrechte und die Verwirklichung sozialer Gerechtigkeit sowie der Souveränität aller Völker in Aussicht gestellt habe, sei diese durch die globalen Konzerne und das internationale Finanzkapital zusehends untergraben worden, so Zieglers zentrale These. Mehr als 54 Millionen Menschen seien 2016 auf den „Schlachtfeldern des Hungers“gestorben, fast so viele wie in den sechs Jahren des Zweiten Weltkriegs. Wie in früheren Büchern spricht Ziegler von einem „Dritten Weltkrieg gegen
die Völker der Dritten Welt“und von einer „kannibalischen Weltordnung“. „Die Welt befindet sich in einer Teufelsspirale“, meint er an einer Stelle und belegt dies mit Zahlen: „Die Finanzund Wirtschaftskraft der 562 reichsten Personen der Welt ist zwischen 2010 und 2015 um 41 Prozent angewachsen, während die der 3 Milliarden ärmsten Menschen um 44 Prozent abgenommen hat.“(S. 46)
Als wesentliche Ursachen der Misere benennt Ziegler die Konzentration der Wirtschaft auf große Konzerne, den modernen Finanzkapitalismus sowie die Verschuldungsfalle. Ein eigenes Kapitel widmet er den sogenannten „Geierfonds“, die in Steuerparadiesen sitzen und sich auf den Ankauf von Schuldtiteln von Staaten zu Ramschpreisen spezialisiert haben. Ziegler schildert, wie ein von ihm für den Menschenrechtsbeirat erarbeiteter Entwurf zum Verbot dieser Fonds zu Fall gebracht wurde und wie dies mit der Abwahl der Linkskoalition in Argentinien 2015 zusammenhängt (diese wollte als erstes Land die Bedingungen der Geierfonds nicht mehr akzeptieren). Heftige Kritik übt Ziegler auch an der Europäischen Union, die anders als sich das ihre Gründer vorgestellt hatten, zu einer „Clearingstelle“im Interesse transnationaler Konzerne verkommen sei (S. 49). Im Abschnitt „Die Imperiale Strategie“legt Ziegler die unrühmliche Rolle der USA in vielen Konfliktherden – von Hiroshima und Vietnam über Lateinamerika bis hin zum Nahen Osten – dar. Ins-
„Der Intellektuelle ist ein Produzent von symbolischen Gütern, von Bewusstseinsinhalten. In dem Maße, wie seine symbolischen Güter – Begriffe, Theorien, Analysen – den Volksbewegungen dienen, gewinnt er seine Nützlichkeit.“
(Jean Ziegler in 134 , S. 92)
„Um ein zu großes Auseinanderdriften von Arm und Reich zu korrigieren, ist eine progressive Besteuerung von Einkommen und Vermögen, und zwar der individuellen, weltweiten Einkommen und Vermögen, unerlässlich.” (Gerd Müller in 135 , S. 150)
besondere eine Schlüsselfigur der Us-außenpolitik wird dabei mit einem harten Urteil versehen: „Nach allen Kriterien des internationalen Rechts, der Menschenrechte und des Humanitären Völkerrechts ist Henry Kissinger ein Kriegsverbrecher. Einer der schlimmsten seiner Generation.“(S. 115)
Im Kapitel über seine Sichtweise zu den Konflikten im Nahen Osten (und der trotz aller Widrigkeiten positiven Rolle der Un-blauhelme) geht Ziegler auch auf das ihm mehrfach vorgeworfene Naheverhältnis zu Saddam Hussein und Muhamar Gaddafi ein. Er schildert deren Wandel von Revolutionären und Gestaltern ihrer Länder zu aggressiven und selbstsüchtigen Diktatoren, von denen er sich früh distanziert hat.
Resümee: Das Buch gibt Einblick in das Engagement eines großen Humanisten und Kämpfers für die Menschenrechte. Es lebt von den politischen Analysen und den Schilderungen Zieglers sozusagen aus „erster Hand“als Un-mitarbeiter. Dabei erfährt man auch das eine oder andere Persönliche, etwa über Zieglers frühe Beeinflussung durch Jean Paul Sartre und dass Simone de Beauvoir sein erstes Buch kritisch lektoriert hat. Von einer Journalistin kurz vor Erscheinen seines (bislang) letzten Buches darauf angesprochen, warum er für eine derart widersprüchliche Organisation wie die UNO arbeite, antwortete Ziegler, dass er „subversive Integration“(S. 91) praktiziere. Eine treffende Beschreibung eines Intellektuellen und Politikers, der als mahnendes Gewissen unserer Wohlstandszivilisation in die Geschichte eingehen wird. Menschenrechte
134 Ziegler, Jean: Der schmale Grat der Hoffnung. Meine gewonnenen und verlorenen Kämpfe und die, die wir gemeinsam gewinnen werden. München: Bertelsmann, 2017. 320 S., € 19,90 [D], 20,60 [A] ISBN 978-3-570-10328-9
Gerechte Globalisierung
„Wir sollten die Globalisierung dort vorantreiben, wo es sinnvolle Synergieeffekte gibt. Wo das nicht der Fall, sollten wir nationale und regionale Strukturen nutzen“, so Gerd Müller, seit 2013 deutscher Bundesminister für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, in dem Band „Unfair. Für eine gerechte Globalisierung“(Zitat S. 60). Müller beschreibt darin seine Erfahrungen als „Entwicklungsminister“sowie seinen Ansatz einer nachhaltigen Entwicklung. Das globale Agrobusiness gehört für ihn nicht dazu, wie er am Beispiel „Sojaproduktion“in Lateinamerika und seinem Pendant, der industriellen Fleischproduktion, beschreibt. Und auch nicht die moderne Verschleißwirtschaft und autozentrierte Mobilität. Beides sei nicht globalisierbar. Müller schildert Alternativansätze: etwa eine Initiative des Entwicklungsministeriums „für eine neue Mobilität“, in der Städte des Südens in der Umsetzung eines für alle leistbaren öffentlichen Verkehrs unterstützt werden. Technologietransfer soll den Ländern des Südens den Einstieg in erneuerbare Energien ermöglichen, wie das Beispiel eines großen Solarparks in Marokko zeigt.
Einen gewichtigen Teil des Buches widmet Müller den globalen Migrationsbewegungen, in denen er eine der zentralen Herausforderungen des 21. Jahrhunderts sieht – eben, weil sie auch die reichen Länder tangieren. Der Minister fordert von den Ländern der Europäischen Union mehr Bereitschaft, Kriegsflüchtlinge aufzunehmen. Der Sog, der aus den Unterschieden zwischen Arm und Reich entsteht, könne aber nicht mit offenen Grenzen gelöst werden: „Unabhängig davon, ob wir die ‘Obergrenze’ bei 200.000, bei einer Million oder fünf Millionen sehen, löst dies das Problem von Flucht und Vertreibung nicht.“(S. 44) Diese Probleme seien nur durch eine „neue Dimension der Entwicklungszusammenarbeit“(S. 46) anzugehen. Gemeinsam mit dem Senat für Wirtschaft, mit dem das Buch erstellt wurde, schlägt Müller einen „Global Marshall Plan mit Afrika“vor. Sein Ziel lautet: „Wertschöpfung vor Ort statt Ausbeutung des Kontinents.“(S.116) Afrikas Jugend benötige jedes Jahr 20 Millionen Arbeitsplätze, so Müller, dies schaffe nicht die staatliche Seite, „sondern letztlich nur die Wirtschaft“in Verbindung mit einem „fairen Handel“(ebd.). Dass wir bisher weit davon entfernt sind, bestätigt auch Müller in seinem Ausblick auf eine weltweite ökosoziale Marktwirtschaft. Die multinationalen Konzerne müssten viel mehr in die Pflicht genommen werden und die gesamten Wertschöpfungsketten zertifizieren und kontrollieren lassen. Zudem sei es Aufgabe der Staatengemeinschaft, ein transparentes weltweites Steuerkontrollsystem umzusetzen.
Franz-josef Radermacher setzt in der Einleitung zum Buch darauf, dass die Weltfinanzkrise ein Umdenken ermöglichen könne. Mittlerweile werde im öffentlichen Raum wieder ausgesprochen, „was in der Sache schon immer klar war, dass wir nämlich einen starken Staat und eine ordnende Hand für die Wirtschaft brauchen“(S. 8). Entwicklungszusammenarbeit gleiche heute einer „nachgeordneten Reparaturwerkstatt“, die „Pflaster auf Wunden klebt, die wir zuvor auf-
gerissen haben“(S. 9). Wie die derzeitige internationale Finanzarchitektur Korruption und Intransparenz unterstützt, macht Radermacher an dem Umstand deutlich, dass „jedes Jahr mehr als 50 Milliarden Us-dollar über illegale Kapitalflüsse aus Afrika in Steuerparadiese hinausgeschleust werden“(S. 9).
Ein wichtiges Buch mit den richtigen Ansätzen, die wohl nur eine Umsetzungschance haben, wenn der zivilgesellschaftliche Druck weltweit wächst, die vielen Klein- und Mittelunternehmen eingeschlossen, die nach wie vor das Rückgrat der regionalen Wirtschaft bilden. Globalisierung
135 Müller, Gerd: Unfair. Für eine gerechte Globalisierung. Hamburg: Murmann, 2017. 191 S., € 19,90 [D], 20,60 [A] ; ISBN 978-3-86774-579-6
Ethischer Welthandel
Was Franz Josef Radermacher oben andeutet, führt Christian Felber in seinem neuen Buch anhand einer aufschlussreichen Analyse über die Geschichte des Freihandels aus: alle heute erfolgreichen Volkswirtschaften hätten sich in der Anfangsphase mit Zöllen gegen Billigkonkurrenz des Auslandes geschützt. Nun würden die reichen Staaten, verkörpert durch die WTO, von den ärmeren fordern, ihre Märkte zu öffnen: „Wein predigen, Wasser trinken“nennt Felber diese Doppelmoral.
Felber widerlegt die Dogmen der „Freihandelsreligion“(S. 18), etwa die Theorie der komparativen Kostenvorteile (ein Beispiel: „mehr als die Hälfte des Welthandels [ist] Redundanzhandel. Export und Import von Autos von und nach Japan, Deutschland, Frankreich und den USA“, S. 28), und er zeigt Schwachstellen auf, etwa die Leugnung ungleicher Handelsbilanzen als Problem-verschärfer („2015 hatten weltweit 62 Länder einen Handelsbilanz-überschuss, 123 Länder ein Defizit.“S. 39). Ganz zu schweigen von den ökologischen Kosten etwa durch die explodierenden Transportvolumina (der Welthandel ist von 1950 bis 2002 um das 22-fache gestiegen bei einer Versiebenfachung der Weltwirtschaftsleistung, S. 44).
An vielen Beispielen legt Felber dar: „Freihandel zwischen Ungleichen vergrößert die Ungleichheit“(S. 46) – und zwar zwischen den Staaten und innerhalb dieser. Der Standortwettbewerb führe zu einer Abwärtsspirale: „Nicht Unternehmen konkurrieren um die beste Qualität und den niedrigsten Preis, sondern Gemeinwesen (Staaten, Demokratien) um die günstigsten Bedingungen
für Investoren.“(S. 54) Dies führe zu einer historisch einmaligen Machtkonzentration und der Aushöhung der Demokratien, was der Autor an bestehenden (etwa Mercosur) und geplanten Freihandelsabkommen (TTIP und CETA) ausführt. Felbers Fazit: „Nicht Länder sind die Gewinner des globalen Gegeneinanders, sondern transnationale Unternehmen und vermögende Eliten, welche diese kontrollieren und zunehmend konzentriert besitzen.“(S. 60)
Kriterien für ethischen Welthandel
Was wären die Alternativen? Felber nennt zwölf Bedingungen für ein funktionierendes Freihandelssystem (S. 71f.): globale Produktionsplanung und ausgeglichene Handelsbilanzen, stabile Wechselkurse und eingeschränkter Kapitalverkehr, gleiche Produktionsbedingungen (sprich gleiche „Transaktionskosten“, z. B. angemessene Global-löhne) und ökologische Kostenwahrheit zählen dazu ebenso wie Nicht-reziprozität („Länder mit geringerem Entwicklungsstand müssen ihre Grenzen nicht im gleichen Maße öffnen
„Der freie Kapitalverkehr – genau das, was Ricardo nicht mitbedachte – ist das mächtigste Erpressungsinstrument der Konzerne.“(Christian Felber in 136 , S. 57)
„Nicht Länder sind die Gewinner des globalen Gegeneinanders, sondern transnationale Unternehmen und vermögende Eliten, welche diese kontrollieren und zunehmend konzentriert besitzen.“(Christian Felber in 136 ,S. 60)
wie hochindustrialisierte Länder“), verbindliche Umverteilungsmaßnahmen, „die das Überschreiten eines definierten Maßes an Ungleichheit in jedem Land verhindern“sowie gemeinsame Arbeitsund Sozialstandards, um Standortwettbewerb zu verhindern. Weiters zum Kanon fairer Handelsbedingungen gehören laut Felber strenge Kartell-gesetze sowie „Obergrenzen für Marktanteile und Größe von Unternehmen“. Der „Schutz lokaler und nationaler Wirtschaftszweige zum Erhalt kultureller und ökonomischer Vielfalt und Resilienz“sowie die Begrenzung der Arbeitsteilung sollen schließlich sinnvolle Arbeit für alle ermöglichen. Würden diese Kriterien eingehalten, so räumt Felber ein, bräuchte man aber gar nicht mehr von einem „Freihandelssystem“sprechen. Er schlägt daher einen „ethischen Welthandel“vor, der Handel als Mittel, nicht jedoch als Ziel sieht. Aufzuhören sei mit der Unterstellung, dass Freihandelsgegner gegen Freiheit sind („Nach der Logik, Menschen, die es vorziehen, kein Fleisch zu essen, als ´Ernährungsgegner´ zu bezeichnen.“[S. 75])
Neue Gesetzesvorhaben müssten auf ihre Konformität mit Menschenrechten und Umweltschutz, nicht jedoch auf „Freihandelskonformität“geprüft werden.
Felber schlägt ein ethisches Welthandelssystem unter der Ägide der UNO vor. Dessen Kern könnte in einer Taxativ-liste von Un-abkommen liegen, deren Nicht-ratifikation zu Zollaufschlägen gegenüber den Ratifizierenden führt: „Am Ende muss es Teilnehmer am Welthandel auf dem ´ebenen Spielfeld´ teurer kommen, dass sie foulen, nicht billiger.“(S. 95) „Asymmetrische Grenzöffnungen“bzw. eine „Infant Industry Policy“, die bereits der weitgehend vergessene Ökonom des 19. Jahrhunderts Friedrich List vorgeschlagen hatte, der Erlass von Finanz-schulden („Insolvenzrecht für Staaten“) sowie Hilfe beim Aufbau funktionierender Infrastrukturen wären laut Felber auch die bessere Entwicklungshilfe. Der Autor nimmt auch die Unternehmen in die Pflicht: CSR müsste strenger gefasst werden, um die „Struktur der Verantwortungslosigkeit“bzw. der „Architektur der Straflosigkeit“(S. 150) zu überwinden. Verbindliche Un-normen für transnationale Unternehmen seien nötig. Felber verweist dabei auf 2003 publizierte „Norms on the Responsibilities of Transnational Corporations and Other Business Enterprises with Regard to Human Rights“einer Un-subkommission, die dem unverbindlichen „Global Compact“von Kofi Annan Zähne verleihen sollten, was jedoch von den Konzernlobbys verhindert wurde (S. 151). Die internationale Bewegung der Gemeinwohlökonomie könnte – so der Autor – Vorbild für ganzheitliche Unternehmensbilanzen werden.
Schließlich plädiert Felber für die Stärkung von regionalen Wirtschaftsstrukturen und „ökonomischer Subsidiarität“(S. 143). Er wird dabei fündig auch bei John Maynard Keynes, der 1933 geschrieben hat: „Ich sympathisiere mit denen, die ökonomische Verbindungen zwischen den Nationen minimieren statt zu maximieren. Ideen, Wissen, Wissenschaft und Gastfreundschaft, Reisen – diese Dinge sollten aufgrund ihrer Natur international sein. Aber lassen wir Waren hausgemacht sein, wo immer das vernünftig, zweckmäßig und möglich ist.“(zit. S. 145)
Das Buch macht deutlich, wem der gegenwärtige ´Freihandel´ nützt, und es enthält eine Fülle an plausiblen Vorschlägen, wie internationale Wirtschaft anders und fairer organisiert werden könnte. Bleibt die Frage, wie der Wandel gelingen soll. Felber plädiert analog zu den in seinem Buch über die Gemeinwohlökonomie vorgeschlagenen Wirtschaftskonventen für handelspolitische Konvente, in denen ein neues „Wirtschafts-völkerrecht“erarbeitet werden soll. Ein erster Schritt dorthin wäre völlige Transparenz im Bereich der Verhandlung von Freihandelsabkommen und deren Abstimmung durch den Souverän. Politischer Druck hierfür wird wohl entscheidend sein, um die Weichen neu zu stellen.
Welthandel: ethischer 136 Felber, Christian: Ethischer Welthandel. Alternativen zu TTIP, WTO & Co. Wien: Deuticke, 2017. 223 S., € 18,- [D], 18,50 [A] ; ISBN 978-3-552-06338-9
Zivilisierungsprojekt Weltunordnung
Exakt 40 Beiträge enthält eine Festschrift zum 90. Geburtstag eines österreichischen Politikers, der (s)eine Vision wahr werden ließ, nämlich auf einer Burg an der Grenze zwischen Ungarn und Österreich ein Friedensforschungszentrum zu errichten. Die Rede ist von Gerald Mader, der 1982 als Antipode zum Kalten Krieg und atomaren Wettrüsten den Grundstein für das Österreichische Studienzentrum für Frieden und Konfliktforschung (ÖSFK) auf der Burg Schlaining legte. Ob die Ausbildungsprogramme für zivile Konfliktbearbeitung oder die jährlichen Sommerakademien, an denen auch der Rezensent mehrere Male mitwirken konnte – das ÖSFK genießt internationalen Ruf. Die Beiträge der Festschrift für den Gründer, allesamt von Referierenden und Mitarbeitenden des Zentrums verfasst
– können hier nur kursorisch erwähnt werden. Der von Thomas Roithner und Ursula Gamaufeberhardt herausgegebene Band thematisiert vielfältige Aspekte von Friedensforschung und Friedensarbeit: das „Zivilisierungsprojekt Weltunordnung“– Elmar Altvater verweist dabei auf die Gewaltstrukturen des gegenwärtigen Weltwirtschaftssystems – sowie die ambivalente „Friedensmacht Europa“(u. a. mit einer kritischen Analyse von Ekkehart Krippendorff) werden ebenso angesprochen wie ökologische Herausforderungen (Helga Kromp-kolb und Wolfgang Kromp legen eindrucksvoll die epochale Herausforderung des Klimawandels dar) und die Wachstumsgrenzen des Kapitalismus (Birgit Mahnkopf) sowie der Krisenfaktor des entfesselten Finanzkapitalismus (Stefan Schulmeister schreibt über den „Lernwiderstand der Eliten in einer großen Krise“).
Weitere Abschnitte thematisieren die Rolle von „Recht und Un-recht“, die Chancen und Grenzen von Friedensarbeit und ziviler Konfliktbearbeitung sowie die Rolle von Religionen als Kriegstreiber und Friedensstifter (mit einem erhellenden Beitrag von Superintendent Michael Bünker). Der kroatische Philosoph Zarko Puhovsky zeigt am Beispiel postkommunistischer Staaten, dass Demokratie und Frieden nicht immer gleichzusetzen sind. So hätten die Unabhängigkeitsbestrebungen in den jugoslawischen Teilrepubliken direkt in den Nationalismus und Krieg geführt. Puhovsky spricht von „instabilen Gleichgewichten“, die sich bei deren Störung in Gewalt entladen können. Eine Analyse, die wohl auf zahlreiche so genannte „failed states“zutrifft.
Friedensforschung 137 Am Anfang war die Vision vom globalen Frieden. Hrsg. v. Thomas Roithner ... Wien: Kremayr & Scheriau, 2016. 592 S., € 27,- [A, D]
ISBN 978-3-2180-1037-5
Zivile Konfliktbearbeitung
Auf eine der letzten Sommerakademien des ÖSFK geht der Band „Zivilgesellschaft im Konflikt“zurück. Beschrieben werden darin die Chancen und Grenzen, Praxiserfahrungen und theoretischen Grundlagen ziviler Konfliktbearbeitung. Gleich zu Beginn erinnert Ulrich Menzel daran, dass die Zunahme von Gewalt und die Erosion staatlicher Strukturen in vielen Regionen nicht nur Entwicklungszusammenarbeit, sondern auch zivile Konfliktbearbeitung desavouiere. Ein zentrales Problem sieht er im Fehlen einer bürgerlichen Gesellschaft in vielen Staaten, in denen nicht wirtschaftlicher Erfolg, sondern Macht über den Zugang zu Ressourcen entscheide: „Viele Konflikte, selbst wenn sie religiös oder ethisch grundiert werden, sind Konflikte zwischen Fraktionen der Elite um den Zugriff auf die Rente, mit der auch die eigene Klientel bedient wird.“(S. 34) Karin Fischer macht in der Folge deutlich, dass es keinen einheitlichen Begriff von Zivilgesellschaft geben könne. Ansätze, die sich auf kapitalistische Strukturen stützen (im Sinne der bürgerlichen Gesellschaft von Menzel), sind ebenso denkbar wie emanzipatorische Bewegungen, die andere Formen kooperativen Wirtschaftens erproben, oder Interessensverbände wie Gewerkschaften oder Berufsverbände. Als Beispiel nennt Fischer Handwerksverbände in den Städten der islamischen Welt, die eine wichtige zivilgesellschaftliche Funktion hätten (S. 46). Tilman Evers geht auf die Handlungsmöglichkeiten ziviler Konfliktbearbeitung ein und zeigt anhand einer Analyse über 40 Friedensschlüsse seit 1990, dass jene unter Beteiligung zivilgesellschaftlicher Akteure haltbarer und leichter umzusetzen waren als solche, die die Streitparteien nur unter sich ausmachten (S. 67). Weitere Beiträge widmen sich den Möglichkeiten und Grenzen zivil-militärischer Kooperation, dem von Wilfried Graf und Gudrun Kramer entwickelten Ansatz „Interaktiver Konflikttransformation“(mit einem Fallbeispiel aus dem Tamilenkonflikt), einem 7-Phasenmodell der Konfliktbearbeitung in Anlehnung an Galtungs Skpprinzip (demgemäß Konflikte immer strukturelle, kulturelle und persönliche Ursachen haben) sowie zur Politischen Bildung als Friedensarbeit (Magdalena Freudenschuss). Aufhorchen lässt ein Beitrag über so genannte „Nonwar Communities“, Zonen des Friedens innerhalb von Konfliktregionen. Diese zeichnen sich aus durch die Fähigkeit, sich aus Konflikten herauszuhalten, nicht aus pazifistischen, sondern aus pragmatischen Überlebensmotiven, wie Christina Saulich und Sascha Werthes berichten. Als Beispiel nennen sie Tuzla, in dem auch während des Krieges bosnische, serbische und kroatische Gruppen zusammengearbeitet und ihre Stadt gemeinsam gegen Angriffe der serbischen Freischärler verteidigt haben. Charismatische Führungspersönlichkeiten und nicht-hierarchische Gemeinschaftsstrukturen machen die beiden u. a. als Bedingungen solcher „Peace Societies“aus. Konfliktbearbeitung: zivile
138 Zivilgesellschaft im Konflikt. Vom Gelingen und Scheitern in Krisengebieten. Hrsg. v. Maximilian Lakitsch ... Wien: LIT-VERL., 2016. 211 S.,
€ 9,80 [D, A] ; ISBN 978-3-643-50728-0
Märkte, Macht und Muskeln
Seit vielen Jahren versucht der Friedensforscher Thomas Roithner durch publizistische Beiträge den Diskurs über sicherheitspolitische Themen mitzubestimmen. Aktuelle Artikel sind in dem Band „Märkte, Macht und Muskeln“gesammelt erschienen. Wie der Titel des Buchs andeutet, analysiert Roithner insbesondere die Zusammenhänge von „Sicherheitspolitik“und ökonomischen Interessen. Er warnt vor einer „Versicherheitlichung“der Außenpolitik und einer Militarisierung der Europäischen Union, wirft dieser vor, im Bereich Waffenhandel mit zweierlei Maß zu messen und insistiert auf einem umfassenden Friedensbegriff (“Friede ist bedeutend mehr, als militärisch nicht bedroht zu werden“, S. 49). Roithner erinnert daran, dass die nukleare Abrüstung trotz Ende des Kalten Krieges nicht wirklich klappt, und er appelliert – mit Blick auch auf Österreich – an die aktive Rolle, die neutrale Staaten in der Konfliktbearbeitung einnehmen können. Ein informativer Band mit streitbaren Beiträgen für ein erweitertes Sicherheitsverständnis. Untermauert mit dem Hinweis, dass wir längst in eine multipolare Welt eingetreten sind, wie etwa der Umstand zeigt, dass mittlerweile 45 Prozent der Weltbevölkerung aus den Bricsstaaten kommen. Konfliktbearbeitung: zivile
139 Roithner, Thomas: Märkte, Macht und Muskeln. Die Außen-, Sicherheits- und Friedenspolitik Österreichs und der Europäischen Union. Wien: mymorawa, 2017. 129 S., € 12,99 [D, A]
ISBN 978-3-99057-541-3
Atlas der Umweltmigration
Die sich verschärfenden Konflikte aufgrund von Krieg, Gewalt, Hunger- und Naturkatastrophen führen zu einem Phänomen, das nun auch die reichen Staaten tangiert, nämlich die Zunahme der Migration. 60 Mio. Flüchtlinge weltweit schätzt UNHCR für das Jahr 2016. Die Zahl der grenzüberschreitenden Migrantinnen hat sich im Laufe der letzten 30 Jahre mehr als verdoppelt. Noch viel größer ist die Binnenmigration. Laut UN sollen weltweit 763 Mio. Menschen außerhalb ihrer Heimatregion leben. Viele davon, weil sie zuhause keine wirtschaftlichen Überlebensgrundlagen vorfinden, viele weil sie aufgrund von Krieg und Gewalt fliehen mussten, und immer mehr auch, die aufgrund von Infrastrukturgroßprojekten wie Staudämmen vertrieben werden. 15 Mio. Menschen sollen in den letzten Jahren aus diesem Grund umgesiedelt worden sein. Soweit einige Daten, die in einem „Atlas der Umweltmigration“von einem Expertinnenteam – zusammengestellt wurden.
Die Autorinnen um Diana Ioneso, Leiterin der Abteilung für Migration, Umwelt und Klimawandel der Internationalen Organisation für Migration (IOM), betonen, dass die Unterscheidung in Wirtschafts-, Umwelt- und laut Genfer Flüchtlingskonvention anerkannte Flüchtlinge der Situation nicht mehr gerecht werde. Das Problem: „Naturkatastrophen, Umweltzerstörung und Klimawandel gelten demnach nicht als Verfolgung.“(S. 35) Natürlich gäbe es erzwungene und freiwillige Mobilität. Ob Menschen abwandern oder nicht, hänge von drei Faktoren ab: „Der Notwendigkeit, dem Wunsch und der Fähigkeit zur Migration.“(S. 44) Daher sei auch die „erzwungene Immobilität“zu bedenken. Es gibt Bedrohte, die es sich einfach nicht leisten können, ihre Heimat zu verlassen.
Der Atlas bietet eine Fülle an Informationen. Unterteilt in die Abschnitte „Migration und Umweltmigration heute“, „Faktoren der Umweltmigration“, „Herausforderungen und Chancen“sowie „Steuerungsmaßnahmen und politische Lösungen“werden die Ursachen und Ausformungen von Flucht und Migration, die bisherigen Aktivitäten der internationalen Staatengemeinschaft sowie Lösungsansätze vorgestellt. Berichtet wird etwa von Bestrebungen, Umweltflüchtlinge im Kontext des Klimawandels besseren Schutz zu gewähren und Migration als Anpassungsmaßnahme anzuerkennen. Zudem solle der ökonomische Nutzen von Migration für die Aufnahme- wie die Ursprungsländer stärker betont werden. So machen die Rücküberweisungen von Arbeitsmigranten in vielen Ländern mittlerweile 10 bis 15 Prozent des Bruttoinlandsproduktes aus.
Der von ‚Brot für die Welt‘ und Misereor gemeinsam mit der IOM in deutscher Fassung herausgegebene Atlas ist ein profundes Nachschlagewerk über alle Aspekte von Migration. Als ein zentrales Dilemma machen die Expertinnen aus, dass die Mehrzahl der Staaten sich weigert, verbindliche Verträge über Umweltflüchtlinge abzuschließen, sodass wohl auch in Zukunft auf freiwillige Vereinbarungen gesetzt werden müsse. Migration: Umweltzerstörung
140 Ionesco, Dina; Mokhnacheva, Daria; Gemenne, Francois: Atlas der Umweltmigration. München: oekom-verl., 2017. 169 S., € 22,- [D], 22,70 [A]
ISBN 978-3-86581-837-9