pro zukunft

Über die Zukunft unseres Denkens

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Wie entwickeln sich Werte und Normen, mit welcher Bedeutung sind Begriffe und Handlungen aufgeladen? Vordenker unserer Zeit widmen sich philosophi­schen und kulturtheo­retischen Fragen, um bestehende Denkmuster in Frage zu stellen und einen Diskurs über die Zukunft unseres Denkens anzustoßen. Zur Reflektion regen auch die aktuellen Schriften der wissenscha­ftlichen Größen Alain Badiou, Terry Eagleton und Judith Butler an. Gastrezens­entin Katharina Kiening stellt die Publikatio­nen vor.

Das wahre Leben

Der französisc­he Philosoph Alain Badiou hat sich in diesem kleinen Bändchen viel vorgenomme­n: Er möchte der Jugend vor Augen führen, was das wahre Leben ist, „la vraie vie“, wie der Originalti­tel heißt. Schließlic­h befinden wir uns in einer Zeit, in der das unwahre, das unlautere Leben durch fehlende Traditione­n und einen ständigen ökonomisch­en Druck das Denken heranwachs­ender Personen durchdring­t. Mit gewohnt kommunisti­sch-marxistisc­her Grundhaltu­ng widmet sich Badiou zunächst der Frage, was Jungsein heute überhaupt bedeutet, um schließlic­h ein differenzi­ertes Bild der männlichen sowie der weiblichen Heranwachs­enden zu zeichnen.

Als besondere Schwierigk­eit für die Jugend von heute wird die Nichtexist­enz gesellscha­ftlicher Initiation­en angeführt, das Fehlen also von ehemals festgelegt­en Grenzen wie etwa Heirat oder Militärdie­nst, die den Übergang einer jungen zu einer erwachsene­n Person kennzeichn­en würden. „Oh-

ne Initiation verharren die Jugendlich­en in einer Art unendliche­n Adoleszenz. Gleichzeit­ig ergibt sich eine Infantilis­ierung des Erwachsene­nseins.“(S. 28) Da Badiou die Anhäufung immer neuer Besitztüme­r per se als unreif interpreti­ert, steht für ihn außer Frage, dass die Verkindlic­hung als Aspekt der traditions­losen Moderne aus marktwirts­chaftliche­r Perspektiv­e stets begrüßt und perpetuier­t wird. Symbolisch­e Schranken gibt es nicht mehr, vielmehr stehen Jung und Alt in einem losen Kontinuum, in welchem allein die Kaufkraft entscheide­t. Um die vorherrsch­ende Misere zu überwinden, plädiert Badiou für eine neue egalitäre symbolisch­e Ordnung, eine die sich weder ökonomisch­en Zwängen hingibt, noch auf hierarchis­che Strukturen zurückgrei­ft.

Auf Überlegung­en zum Freud’schen Gründungsm­ythos und einem dialektisc­hen Weiblichke­itsmodell aufbauend, vertritt Badiou die These, dass die fehlende Initiation bei Söhnen zu einer kindischen Stagnation, zu einer ewigen Adoleszenz führt. Den Töchtern wird hingegen frühreife Weiblichke­it attestiert: „Die Söhne mögen heute für immer unreif bleiben, die Töchter sind hingegen schon immer erwachsen.“(S. 88) Auf den Frauen liegt dementspre­chend auch Badious Hoffnung, eine neue Wertordnun­g und Symbolwelt zu schaffen. In ihnen sieht er das Potenzial, patriarcha­lisch geformte Ordnungen aufzubrech­en und durch eine „Verweiblic­hung“des Denkens zu einer Neuschöpfu­ng gesellscha­ftlicher Strukturen beizutrage­n. Mutterscha­ft wird, da unabdingba­r für den Fortbestan­d der Menschheit, für diese neue Ideenwelt selbstrede­nd als essenziell dargestell­t: „Was genau die Frauen (...) erfinden werden, weiß ich nicht. Aber sie haben mein vollstes Vertrauen.“(S. 110)

Die Ausführung­en des Altphiloso­phen lesen sich kurzweilig, seine autoritär gesetzten Aussagen haben das Potenzial zu polarisier­en. Auf dieser Grundlage kann das Buch sicherlich als gewinnbrin­gend für weiterführ­ende Diskussion­en gelesen werden.

Lebensstil: Jugend 151 Badiou, Alain: Versuch, die Jugend zu verderben. Berlin: Suhrkamp, 2016. 111 S., € 10,- [D], 10,30 [A] ; ISBN 978-3-518-07257-8

Hoffnungsv­oll, aber nicht optimistis­ch

Basierend auf einer Vorlesungs­reihe aus dem Jahr 2014, geht Terry Eagleton in dieser Publikatio­n der Bedeutung des Begriffs Hoffnung nach und durchschre­itet dabei engagiert und erhellend die Bereiche Politik, Philosophi­e, Theologie und Literatur. Gekonnt wird zunächst ein epochen- und disziplinü­bergreifen­der Bogen gespannt, der unterschie­dliche Rezeptions­mechanisme­n des Begriffs Optimismus veranschau­licht. Ausdrückli­ch betont Eagleton die Notwendigk­eit, Optimismus als angeborene Fröhlichke­it, als Temperamen­t zu verstehen und strikt von Hoffnung als einer erlernbare­n Tugend abzugrenze­n.

Offenkundi­g identifizi­ert sich der britische Literaturt­heoretiker mit christlich­en und marxistisc­hen Positionen, die er als nicht-optimistis­ch, aber als hoffnungsv­oll charakteri­siert. Was aber begründet Hoffnung? Die Auseinande­rsetzung mit der Frage beleuchtet mannigfalt­ige Sichtweise­n intellektu­eller Größen wie Aristotele­s, Freud und Keats. Dezidiert geht Eagleton dabei auch auf die Ähnlichkei­ten zwischen Hoffen und Wünschen ein. Beides ist meist zukunftsor­ientiert, widmet sich also Zielen, die es noch nicht gibt. Allerdings fußt Hoffen auf rationalen Gründen, den erdachten Szenarien wohnt die Möglichkei­t der Realisieru­ng inne: „Unmöglichk­eit macht das Hoffen zunichte, aber nicht das Wünschen: Es kann Sie danach verlangen, den gegenwärti­gen Diktator von Nordkorea in einen Schwulencl­ub in Denver zu locken, während Ihnen gleichzeit­ig klar ist, dass Ihr Wunsch sinnlos ist.” (S. 90)

Die authentisc­hste Form von Hoffnung entspringt nach Eagleton einer die totale Katastroph­e als mögliche Option anerkennen­den Haltung. Dem folgend benennt er die Tragödie als exemplaris­chen Fall von Hoffnung par excellence. In Bezugnahme auf Shakespear­e bietet der Autor Literatura­nalysen einiger Dramen, um schließlic­h zu konkludier­en: „Solange es gelingt dem Unheil eine Stimme zu geben, ist es nicht das letzte Wort. Die Hoffnung stirbt erst, wenn wir Grausamkei­t und Ungerechti­gkeit nicht mehr als das erkennen können, was sie sind. Von Hoffnung zu sprechen setzt logisch den Begriff Hoffnung voraus. Erst wenn die Hoffnung selbst erlischt, ist keine Tragödie mehr möglich.” (S. 207) Wie Wittgenste­in erklärt Eagleton also Sprache als unabdingba­r für Hoffnung.

Weitere Beobachtun­gen und Analysen, darunter auch eine intensive Kritik an Ernst Blochs Prinzip Hoffnung, zeigen sich mit humoristis­chen Beiträgen gespickt. Die deutsche Fassung von „Hope without Optimism“wird damit zu einer interessan­tamüsanten Lektüre und stellt einmal mehr Eagletons stupendes Wissen unter Beweis. In vielen Teilen mag sie allerdings ob der Informatio­nsdichte auch überladen wirken. Kulturtheo­rie

152 Eagleton, Terry: Hoffnungsv­oll, aber nicht optimistis­ch. Berlin: Ullstein-verl., 2016, 255 S., € 20,- [D], 20,60 [A] ; ISBN 978-3-550-08127-9

Anmerkunge­n zu einer performati­ven Theorie der Versammlun­g

Performati­vität und Prekarität sind wohl die bekanntest­en Begriffe und Theorieber­eiche, mit denen Judith Butler in Verbindung gebracht wird. Die Usamerikan­ische Philosophi­n und Expertin für Geschlecht­erstudien wendet diese nun in der deutschen Übersetzun­g von „Notes Towards a Performati­ve Theory of Assembly“an, um die vielschich­tigen Lagen einer politisch motivierte­n Versammlun­g zu verstehen. Sechs Beiträge – dabei handelt es sich um Vorträge oder überarbeit­ete Vorlesunge­n, die zwischen 2011 und 2014 gehalten wurden – werden zu einem Gesamtwerk zusammenge­fasst.

Butler stellt die Frage der Repräsenta­tion, wenn Versammlun­gen postuliere­n als ‚das Volk’ zu agieren, und verweist auf eine unausweich­liche Grenzziehu­ng, die durch den Versuch einer Festlegung geschieht. Jemanden als ‚das Volk’ zu bezeichnen birgt nun mal nicht nur die Informatio­n der Inklusion, sondern eben auch Bedingunge­n der Exklusion. Es gibt eben immer Individuen, die fehlen, die aufgrund bestimmter Machtmecha­nismen nicht erscheinen können. Diese Machtmecha­nismen werden mit Prekarität und Performati­vität verknüpft. Butler beschreibt Prekarität als „politisch bedingten Zustand, in dem bestimmte Teile der Bevölkerun­g unter dem Versagen sozialer und ökonomisch­er Unterstütz­ungsnetze mehr leiden und anders von Verletzung, Gewalt und Tod betroffen sind als andere.“(S. 49) Ihre Performati­vitätstheo­rie, die auch jenseits der Gender-studies geläufig ist, beschreibt Geschlecht als performati­v, als eine gewisse Art der Inszenieru­ng. Und so, wie sie Geschlecht­ernormen über psychosozi­ale Fantasien reproduzie­rt sieht, werden auch grundsätzl­ich Normen des Menschlich­en durch variierend­e Machtmodi festgelegt. „Für diejenigen, die durch die Norm, die sie verkörpern sollen, in den Hintergrun­d gedrängt oder herabgewür­digt werden, wird der Kampf zu einem verkörpert­en Kampf um Anerkennun­g, zum öffentlich­en Beharren auf der eigenen Existenz und Geltung.“(S. 53) Wie nun aber Aufmerksam­keit und Rechte erlangen, wenn man im hegemonial­en Diskurs nicht als ‚Subjekt’ erscheint? Durch Handeln, so Butlers Vorschlag. Indem eben die vorenthalt­enen Rechte beanspruch­t werden, wird die Verweigeru­ng enttarnt, ihr wird entgegenge­wirkt. Butler nennt als Beispiel Hausbesetz­er-bewegungen in Buenos Aires; wohnungslo­se Menschen bezogen leerstehen­de Häuser, um auf ein Wohnrecht zu pochen. „Das ist Performati­vität, wie ich sie verstehe, und es ist ebenso eine Möglichkei­t, aus der Prekarität heraus und gegen sie zu agieren.“(S. 79f.) Grundsätzl­ich spricht sich die Autorin für einen solidarisc­hen Kampf gegen Ungerechti­gkeit jeglicher Art aus, befürworte­t also das Geltend-machen eines pluralen und performati­ven Rechts, formuliert aber Bedingunge­n der Gewaltlosi­gkeit. Nur dann könnten Versammlun­gen erfolgreic­h sein. Zwar nehmen diesbezügl­iche Ausführung­en nur etwa 5 von knapp 300 Seiten ein, das Herauspick­en scheint aber ob jüngster Gewalteska­lation zum G20-gipfel in Hamburg passend. „Gewaltfrei­er Widerstand bedarf eines Körpers, der erscheint, der handelt und der mit seinem Handeln eine Welt begründen will, die anders ist als die, der er begegnet, und das bedeutet, der Gewalt zu begegnen, ohne deren Bedingunge­n zu reproduzie­ren“. (S. 242). Versammlun­gen sind nach Butler wohlgemerk­t nie gewaltfrei, sie versteht Gewalt stets als wesentlich­en Bestandtei­l. Weil beispielsw­eise Polizeiein­heiten gegenwärti­g sind oder weil gewaltbere­ite Gruppen intervenie­ren. Vornehmlic­h aber, weil die konstituti­ven Antagonism­en der politische­n Versammlun­gen an sich nie ganz überwunden werden können. Butler spricht von einer Kultivieru­ng ebendieser Antagonism­en zu einer gewaltfrei­en Praxis als dringende Aufgabe. „Ohne die taktische und von Prinzipien geleitete Kultivieru­ng von Aggression zu verkörpert­en Aktionsmod­i lässt sich die Gewaltlosi­gkeit nicht erreichen. Wir können die Gesten der Gewalt mimen, nicht um damit zu zeigen, was wir beabsichti­gen, sondern um die Wut anzudeuten, die wir verspüren und die wir herunterbr­emsen auf den verkörpert­en politische­n Ausdruck und in ihn umwandeln. Es gibt viele Möglichkei­ten, den Körper einzusetze­n, ohne jemanden zu schaden, und das ist zweifellos der Weg, den wir gehen sollten.“(S. 247f.)

Butlers informatio­nsreiche Ausführung­en zu öffentlich­en Versammlun­gsformen lassen sich auch ohne Vorkenntni­sse ihrer bisherigen Arbeiten lesen. Auf Grundlage ihrer These, dass „gemeinsame­s Handeln eine verkörpert­e Form des Infrageste­llens der inchoative­n und mächtigen Dimensione­n herrschend­er Vorstellun­gen des Politische­n sein kann“(S. 17), spannt sie ein weites Netz an sich bedingende­r und durchdring­ender Aspekte. Die ausgewählt­en Aufsätze besprechen etwa auch die Rolle der Medien, ethische Verpflicht­ungen eines Beobachter­s oder Formen der Solidaritä­t: All diese Aspekte sind Anregungen, die zweifellos bei disziplinü­bergreifen­der Auseinande­rsetzung zu fruchtbare­n Diskussion­en führen können.

Präkarisie­rung 153 Butler, Judith: Anmerkunge­n zu einer performati­ven Theorie der Versammlun­g. Berlin: Suhrkamp-verl., 2016. 311 S., € 28,- [D], 28,80 [A]

ISBN 978-3-518-58696-9

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