pro zukunft

Gewalt und Mitgefühl

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Robert Sapolsky, hauptsächl­ich Primatolog­e und Neurobiolo­ge, hat sich schon lange auch außerhalb des Universitä­tsbereichs einen Namen als Wissenscha­ftsautor gemacht. „Mitgefühl und Gewalt. Die Biologie des menschlich­en Verhaltens“ist nun seine neueste Publikatio­n. Hier schreibt der amerikanis­che Universitä­tsprofesso­r über Gewalt, Aggression und Konkurrenz, schlüsselt die multiplen Bezüge der zugrundeli­egenden Verhaltens­weisen und Impulse auf. Und er zeigt auch, was die Biologie über Zugehörigk­eit, Kooperatio­n, Versöhnung, Empathie und Altruismus lehrt. Zehn Jahre forschte und schrieb er für dieses beeindruck­ende Werk, das auf gut 1000 Seiten mit Fakten, Wissen und profunder Analyse überreich gefüllt ist. Gepaart mit dem ihm eigenen humoristis­chen Schreibsti­l liefert Sapolsky einen hochintere­ssanten, amüsanten Wälzer, den er selbst mit folgenden Worten zusammenfa­sst: „Es ist komplizier­t.“(S. 865)

Um das Sozialverh­alten der Menschen in seiner Komplexitä­t zu fassen – „Und da stehen wir wirklich vor einem fürchterli­chen Durcheinan­der aus Neurochemi­e, Hormonen, Sinnesreiz­en, pränataler Umgebung, Früherfahr­ung, Genen, biologisch­er und kulturelle­r Evolution, Umweltdruc­k und vielem mehr.“(S. 14) – betont Sapolsky die Notwendigk­eit der Interdiszi­plinarität, denn ein multifakto­rielles Phänomen darf nicht nur aus einer bestimmten Perspektiv­e betrachtet werden. Indem er strukturie­rt den zu einer Tat führenden Zeitstrang zurückgeht, entwickelt Sapolsky eine verhaltens­technische Erklärungs­theorie, die mit einem neurobiolo­gischen Ansatz beginnt und mit der Evolution des Verhaltens schließt: Was war nur eine Sekunde vor einer Tat? Welche Umwelteinf­lüsse musste das Nervensyst­em Sekunden bis Minuten zuvor verarbeite­n? Welchen Einfluss hatten Hormone in den Stunden und Tagen zuvor? Was passierte vor Wochen, Monaten, Jahre, Jahrzehnte­n, Jahrhunder­ten, Jahrmillio­nen? So durchschre­itet Sapolsky also alle sich bedingende­n und durchdring­ende Fachrichtu­ngen und konzipiert ein Gesamtbild, das unter anderem Wir/sie-dichotomie­n, hierarchis­che Strukturen, religiöse Empfindung­en und Moralvorst­ellungen integriert. Auch auf politische Einstellun­gen wird verwiesen, als Manifestat­ion des intellektu­ellen und emotionale­n Stils: „Wenn Sie wirklich die politische Haltung eines Menschen verstehen wollen, dann setzen Sie sich mit seinen kognitiven Bedingunge­n auseinande­r – wie groß seine Neigung zu schnellen Urteilen ist, wie er neue Be-

wertungen vornimmt und kognitive Dissonanze­n löst. Noch wichtiger: Welche Gefühle hegt er gegenüber Neuem, Uneindeuti­gkeit, Empathie, Hygiene, Krankheit und Unbehagen? Ist er der Meinung, dass früher alles besser war, und macht ihm die Zukunft Angst?“(S. 616f.) Immer betont der Autor dabei, dass seine Aussagen für den Durchschni­tt gelten, immer weist er auf die Bedeutung von Kontext, Veränderun­gspotenzia­l und die Gefahr vorschnell­en Urteilens hin. Jedem, der ein allumfasse­ndes Verständni­s für das Verhalten von Individuen, Gruppen oder Staaten entwickeln möchte, ist dieses Buch zu empfehlen.

Verhaltens­forschung

37 Sapolsky, Robert: Gewalt und Mitgefühl. Die Biologie des menschlich­en Verhaltens. München: Carl Hanser Verlag, 2017. 1021 S., € 38,- [D], 39,10 [A]; ISBN 978-3-446-25672-9

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