Das Ende der sozialen Kämpfe
Manche Autoren kritisieren, dass die Forderung nach Gleichheit zugunsten des Schutzes von „Identitäten“in den Hintergrund gedrängt wurde. Andere wiederum sind diesbezüglich skeptisch. Stefan Wally und Birgit Bahtic-kunrath zeichnen die Argumentationen nach.
Guillaume Paoli und Robert Pfaller kritisieren, dass die Forderung nach Gleichheit zugunsten des Schutzes von „Identitäten“in den Hintergrund gedrängt wurde. Andere, wie Armin Nassehi, würden angesichts dieses Denkens skeptisch sein: Die Komplexität unserer Gesellschaft lässt die Dominanz eines Hauptwiderspruchs, der unser Leben prägt, gar nicht zu. Schließlich verweist Isolde Charim auf die Tatsache, dass Gesellschaften mittlerweile so pluralisiert seien, dass um Identität gerungen werden müsse. Stefan Wally und Birgit Bahtic-kunrath zeichnen die Argumentationen nach. Gentrifizierung der Kultur
„Nehmen wir vorübergehend diese Behauptung für unbezweifelbar: Eine anthropologische Mutation ist in vollem Gange. In letzter Zeit fand eine brachiale Veränderung statt, die die geistige Verfasstheit der Individuen betrifft. Sitten und Denkweisen, die vormals als selbstverständlich galten, scheinen nicht mehr nachvollziehbar, dafür werden Zustände akzeptiert, gegen die vergangene Generationen sofort auf die Barrikaden gegangen wären.“(S. 13) Dieser Hypothese hafte zwar ein „Hauch von Hysterie und, blamabler noch, von Kulturpessimismus an“, Guillaume Paoli stellt sie dennoch als Bezugspunkt in die Mitte seiner Überlegungen. Das tue ja nicht nur er, auch andere, einander sogar entgegengesetzte Denkweisen seien sich darin einig.
Die einen schwärmen von einem nie da gewesenen Wohlstand der westlichen Gesellschaft, von einem historischen Menschentypus, der sich von allen falschen Vorstellungen und abscheulichen Sitten definitiv verabschiedet hätte. Lediglich einige noch nicht Mutierte seien noch zu bekehren. Die anderen zeichnen ein katastrophales Bild der Gegenwart. „Anhand zahlreicher Abhandlungen über Flexibilisierungsdrang, Selbstoptimierungswahn, Konsumsucht, Narzissmus und Depression wird ein Phantombild des Mutanten erstellt, selbst, wenn dies nicht beim Namen genannt wird.“(S. 20) Implizit wird gehofft,
dass noch genug Noch-nicht-mutierte übrig seien, die diese Kritik teilen mögen. „Konservative und Fortschrittsfreunde stehen einfach auf verschiedenen Seiten der Metamorphose. Die einen können den Nutzen nicht nachvollziehen, der durch die Mutation entstanden ist. Die anderen können nicht erkennen, welche Vorteile des Alten verschollen gegangen sein sollen.“(S. 23)
Paoli übernimmt nun die Idee, dass die Mutation im Gange sei. Er fragt nach der Triebkraft hinter dem Geschehen. Das sei der Neoliberalismus, so seine Annahme. „Damit die Märkte ihren ‚spontan‘ ‚natürlichen‘ Zustand erreichen konnten, mussten die Individuen diszipliniert und neu modelliert werden.“(S. 31) Schlüsselbegriffe bzw. -phrasen seien „Selbstverwirklichung“, „der eigene Chef sein“, „Selbstkontrolle“. Im Jahr 1961 hieß es bei der OECD zur Erklärung des Begriffs „Humankapital“: „Heute versteht es sich von selbst, dass es genauso wichtig ist, Menschen für die Wirtschaft vorzubereiten wie Sachgüter und Maschinen. Das Erziehungswesen steht nun gleichwertig neben Autobahnen, Stahlwerken und Kunstdüngerfabriken.“(S. 92) Unabhängig von ihrer Klassenzugehörigkeit versuchen Menschen diese Ideen über das marktfähige Selbst mit Leben zu füllen. Die Klassenunterschiede werden zwar nicht aufgehoben, sie werden jedoch durch die verschiedenen Identifikationsmodelle und Alltagserfahrungen zunehmend verwischt. Arbeiter, Angestellte
und auch Aktionäre werden zusammen zu Selbstoptimierern. (S. 32)
Der Neoliberalismus sei nicht nur eine Ideologie, die sich an Individuen verschiedener Schichten mit Vorschlägen zur Selbstsicht wende. Er materialisiere sich auch in Produkten, die selbst dann noch präsent sein werden, wenn eine Gesellschaft mehrheitlich der Ideologie abschwören würde. Ritalin, Facebook, Fair-trade-kaffee, Realtity-tv, Leihmütterschaft und Lottoscheine seien vergegenständlichte Ideologie. (S. 33)
Paoli geht auf dieser Grundlage zum Angriff auf den Mainstream liberalen Denkens über: Besserverdienende und alle aufgeklärten Bürgerinnen teilten heute dieselbe tolerante und weltoffenen Lebenseinstellung. Konservativ seien nur noch die Unterschichten, nun werde Vorbehalt gegen das liberale System mit dem Antiliberalismus eines Putin oder Kim Jong-un identifiziert. In dieser neuen Dichotomie verschwindet die Frage der Klassenunterschiede in einer dunklen Ecke.
Die Gentrifizierung der Kultur bedeute heute, dass das Flutlicht auf zwei sehr marginale Pole gerichtet wird. „Wir werden alle aufgefordert, uns mittels binärer Kategorien zu positionieren, die wir selber niemals gewählt hätten. Sind sie für Globalisierung oder Identität? Für Freiheit oder Gleichheit? Für Vergangenheit oder Gegenwart?“
Auch der Umgang mit der Vergangenheit ist umkämpft. Anscheinend bestehe in Zeiten der Mutation aber die einzig legitime Verbindung in die Vergangenheit in der Thematisierung eines erlittenen oder geerbten Unrechts. Zugelassen sei nur die Identifikation mit den Verfolgten und Ermordeten der Weltgeschichte, genauso wie der gegenwärtige Protest auf partikulare Diskriminierungen fokussiert sei. Ein breiterer Winkel würde das Leid nur bagatellisieren, so das herrschende Argument. Im Ergebnis produziere das Fehlen des breiteren Winkels jedoch „ein unentwirrbares Durcheinander von zusammenhanglosen Ereignissen und irrationalen Hysterien, schicksalhaften Unfällen und obskuren Verschwörungsvermutungen, apokalyptischen Prophezeiungen und frommen Erlösungswünschen”. Die Möglichkeit kollektiver sozialer Veränderungen sei blockiert. Zudem fehle ein konkreter Raum, im Rahmen dessen sich Kooperationen und Rivalitäten abspielen könnten. Der supranationale Raum sei unerreichbar, der nationale durch die Geschichte des Nationalismus vergiftet. Einzig auf lokaler Ebene könne sich noch ein alternatives Projekt über die Grenzen hinweg bilden. Dazu bedürfe es aber einer starken subjektiven Zugehörigkeit zu dem Raum. Selbst das sei zunehmend als lokalpatriotisch verpönt und außerdem eine lokale Zugehörigkeit bloß eine beliebige Station im eigenen nomadischen Lebenslauf (vgl. S. 176). Der soziale Kampf fällt aus. Auch das postmoderne Denken leiste dazu einen Beitrag: „Während die Welt in tausend kleine periphere Domänen dekonstruiert worden ist, bleibt das große soziale Konstrukt des Kapitals im toten Winkel – was ihm den Status einer zweiten Natur verleiht, einen unveränderlichen Hintergrund, vor dem sich der Maskenball der Subjektivitäten abspielt.“(S. 72) Und trotzdem ist die Welt nach der Mutation nicht stabil. „Jetzt kommt die dialektische Pointe: Gerade dieser jüngste Sieg des Kapitals über seine Gegner könnte der Anfang seines Ruins sein“(S. 202). In dem die sozialen Gegenkräfte des Kapitalismus marginalisiert wurden, ist dieser jetzt auf sich selbst gestellt. „Aber, je weniger Geld die Menschen haben, je vernachlässigter öffentliche Infrastrukturen sind, desto sicherer kollabieren mittelfristig die Märkte.“(S. 203) Letztlich hätten postmodernes Denken und die kulturalistische Linke doch subversiv gewirkt: „Indem sie dazu beitrugen, den Gedanken des sozialen Kampfes auszumerzen, haben sie die Selbstzerstörungsmaschinen schön geschmiert.“(S. 203) S. W. Gesellschaftskritik
Paoli, Guillaume: Die lange Nacht der Metamorphose. Über die Gentrifizierung der Kultur. Berlin: Matthes und Seitz, 2018. 218 S., € 20,- [D], 20,60 [A] ISBN 978-3-95757-474-9
Erwachsenensprache
Robert Pfallers Argumentation beginnt mit dem Hinweis auf die (vorsichtig formuliert) Gleichzeitigkeit des Beginns der Defensive des Wohlfahrtsstaates und dem Bedeutungsgewinn postmoderner Identitätskonzeptionen. „Die postmodernen Politiken der kleinen Unterschiede sind keine Folge der durch das moderne Versprechen von Gleichheit geweckten Sensibilitäten. Es verhält sich vielmehr umgekehrt: Die postmodernen Politiken wurden ausgerufen, als die hegemonialen Gruppen die Versprechen der Moderne von Gleichheit preisgaben. In dem Moment, als sich die Einkommensunterschiede wieder dramatisch verschärften und gleiches Recht für alle von den neoliberalen Eliten nicht einmal mehr als Utopie festgehalten wurde, entstand die Propaganda unterschiedlichen Rechts für Diverse.“(S. 25)
Diese Politiken habe sich auch die Sozialdemokratie zu Eigen gemacht. Mit Tony Blair und Gerhard Schröder habe man sich Regierungsämter um den Preis erkämpft, auf die Ausgleichung von Klassenunterschieden zu verzichten. Man verlagerte die Agenda auf „Frauenpolitik statt Klassenpolitik, und da lieber auf Politik für Homosexuelle oder Queers
„ „Wir sehen alle gleich individuell aus und tanzen zu derselben Musik. (...) Die kulturliberale Angleichung bedeute aber nicht, dass die Tage der Klassenverachtung vorüber seien: diese hat sich nur umgepolt. Sie richtet sich fortan auf diejenigen, die sich in der globalen, offenen Welt nicht zurechtfinden.“(Guillaume Paoli in ,S. 46f.)
als Frauenpolitik und überhaupt am liebsten ‚diversity‘“(S. 41). „Diese Fehleinschätzung beziehungsweise Fehldeklaration von postmoderner Pseudopolitik als linke Politik ist es, die gegenwärtig massenhaft ehemalige sozialdemokratische Stammwähler ins Lager der neuen Rechten (oder auch in das immer größer werdende der Nichtwähler) überlaufen lässt.“(S. 41f.)
Diese „Identity Politics“haben keine guten Karten bei Pfaller: Benachteiligte aller Missstände der Missachtung von Identitäten behandle man seitdem so, als ob sie keine anderen Sorgen hätten, als mit einem speziellen, meist zartbesaiteten Namen bezeichnet zu werden. In einer Art von magischer Weltauffassung behaupte die mit solchen Maßnahmen betraute Bürokratie, dass mit den besseren Namen auch bessere Tatbestände herbeigeführt werden könnten (S. 164). Die Akzeptanz der anderen Identität steht für Pfaller durchaus zur Disposition. Er erklärt dies anhand der vom Komiker Sacha Baron Cohen entwickelten idiotischen Figuren „Ali G“und „Borat“. Diese werden in den Filmen in aller Regel von ihren Gegenüber geduldig „akzeptiert“. „Wenn man den anderen so behandelt, als ob er nichts anderes wäre als seine idiotische Identität (...), dann ist man buchstäblich rassistisch. Der postmoderne Rassismus besteht darin, den anderen auf dessen bloße Identität zu beschränken, mithin nicht das Geringste von ihm zu erwarten und ihn zum Idioten zu homogenisieren – zum kulturfernen Kasachen; zum unendlich dummen Rapper; oder zum pornographischen Unterschichtler, zum bildungsfernen Studierenden, (...).” (S. 173)
In einer Schlüsselstelle des Buches setzt sich Pfaller mit der Idee der Inklusion sowie der Idee der Universität als „safe space“auseinander, in der die Empfindungen der Beteiligten zu berücksichtigen seien. Bekannt sind die Überlegungen, zumindest „triggerwarnings“auszusprechen, wenn Dinge gezeigt oder angesprochen werden, die bei Anwesenden Auslöser von Traumatisierungen sein könnten. Für Pfaller wird hier deutlich, dass Inklusion Auswirkung auf das Sagbare hat. Und er meint deswegen: „Inklusion, wörtlich Einschließung, ist das genaue Gegenteil des Prinzips der Offenen Gesellschaft.“(S. 50)
Diese postmoderne Toleranz und das Nicht-angreifen von Identitäten sei dabei, „jene Bereiche der Gesellschaft zu zerstören, in denen ohneansehen der Person gesprochen und gehandelt werden kann.“(S. 203). Er hält diesem wechselseitigen Schutz durch Zurückhaltung die „Erwachsenensprache“entgegen. Das sei eine Haltung, erklärt Pfaller, die bedeutet, „manche Unanehmlichkeiten oder Übel ebenso als notwendige Begleiterscheinungen des Lebens zu erkennen wie die eigenen Möglichkeiten, sie zu ertragen oder zu überwinden. Nur auf diesem Weg lassen sich von diesen Übeln andere unterscheiden, die im sozialen Leben bewältigt werden müssen und für die die Politik zuständig ist” (S. 10).
„Das entscheidende politische Problem der nächsten Zukunft westlicher Gesellschaften wird die Frage sein, ob die Empörung und Verzweiflung der aufgrund neoliberaler Politik um elementare Lebensstandards gebrachten und zunehmende verarmenden Bevölkerungsgruppen einen Ausdruck finden kann – und zwar einen anderen als jenen, den rechtspopulistische Parteien ihr geben wollen.“(S. 202) Solange aber postmoderne Identitäts-politik die Politik der Gleichheit überdecke, werde man keinen Erfolg haben, dass jemand anderer als Rechtspopulisten diese Antwort geben. S. W. Politik: Identitäten
Pfaller, Robert: Erwachsenensprache. Über ihr Verschwinden aus Politik und Kultur. Frankfurt/m.: Fischer, 2018. 247 S., € 14,99 [D], 15,50 [A]
ISBN 978-5-596-29877-8
Der Komplexität gerecht werden
Armin Nassehi ist Soziologe an der LMU in München und seit 2012 Herausgeber des Kursbuches. In dem Buch „Die letzte Stunde der Wahrheit“will er uns helfen, mit der Komplexität unserer Gesellschaften zurande zu kommen. Die moderne Gesellschaft in ihrer ganz eigenen Form der Komplexität sei davon geprägt, „dass es keinen Ort gibt, von dem her man sie konkurrenzlos und gültig beschreiben kann. Mehr noch: Sie kennt keinen Ort, der es ermöglicht, auf die Gesellschaft zuzugreifen. Man kann nicht durchregieren, man muss vielmehr lernen, dass sich die Gesellschaft dem regulierenden Zugriff schon deswegen entzieht, weil Unterschiedliches gleichzeitig abläuft und nirgendwo ein Hebel zu finden ist, von dem her sie wirklich beeinflusst werden kann. Und das gilt folgerichtig auch für ihre Beschreibung“(S. 9). Vereinfachte Antworten auf die Herausforderungen einer komplexen Realität bringen uns nicht weiter. Der Populismus ist für Nassehi auch aus der Komplexität der Gesellschaften zu erklären. Er sei „gewissermaßen der natürliche Gegner eines komplexitätssensiblen Denkens” (S. 22). In weiterer Folge will der Autor„eine Denkungsart bereitstellen, die dazu verhilft, die richtigen Fragen zu stellen. Ich bin davon überzeugt, dass uns die Lösung der anstehenden Probleme nur mit einem Paradigmenwechsel gelingen wird, nur mit der Umstellung unserer Denkungsarten auf ein vernetztes Denken, für das uns manchmal die Kategorien, vor allem aber die Ausdrucksformen fehlen“(S. 5). Er zeigt sich verwundert, dass bei dieser Aufgabe noch so viel zu erledigen ist. „Warum gibt es keine Beschreibungstradition für Komplexität, also für ein Phäno-
„Gerade unter dem Vorwand des Schutzes und der Einbeziehung von Minderheiten vernichtet scheinbar progressive, neoliberale Politik die Räume der Öffentlichkeit, des offenen Austausches von Argumenten und der Gleichheit.“(Robert Pfaller in , S. 203)
men, das sich der Gestaltungsmöglichkeit durch einen souveränen Konstrukteur geradezu entzieht? (…) Es geht darum, eine Sprecherposition zu entwickeln, die eben nicht der präskriptiven Selbstüberschätzung auf den Leim geht.“(S. 19) Der einzigeappell sei tatsächlich der: „Problemlösungstools und Versuche der Einwirkung in komplexe Dynamiken und Prozesse sollten mit dem Problem der Komplexität rechnen und darin eine neue Form der Expertise entdecken. Diese muss heute wohl die moderierende Expertise sein, die die Multiplizität von Expertisen erkennt, auch das Faktum, dass es keine letzten Lösungen gibt.“(S. 201) Damit klingt bereits an, dass Nassehi vergleichsweise entspannt mit unseren geringen Erfolgen im Umgang mit Komplexität zurechtzukommen versteht. Der Grund liegt darin, dass er Komplexität nicht als etwas Fragiles sieht. „Die gesellschaftliche Moderne ist durch eine wirklich kuriose Eigentümlichkeit geprägt: Gerade aufgrund ihrer Struktur verteilter Intelligenz und gerade wegen ihrer Komplexität und Dynamik ist sie letztlich durch so etwas wie Zugriffe und Eingriffe kaum aus der Ruhe zu bringen, eben weil jeglicher Zugriff immer von einer konkreten Position aus erfolgt und die Fantasie ihrer Umgestaltung und Kritisierbarkeit kaum Adressaten findet.” (S. 186) Diese eigene Kraft zeige sich auch darin, dass Komplexität mit Pluralität zusammenzuhängen scheint. All diese Beispiele weisen für Nassehi auf die Selbstanpassung moderner Gesellschaften an Komplexität und Perspektivendifferenz hin. Sie alle seien Belege dafür, wie sich unterschiedliche Sprecher etablieren, vor allem aber: wie die Gesellschaft die Unterschiedlichkeit der Perspektiven zu entdramatisieren, in Form zu bringen und damit umzugehen versuche (vgl. S. 206). S. W. Komplexität
Nassehi, Armin: Die letzte Stunde der Wahrheit. Kursbuch.edition. Hamburg: Murmann, 2017. 215 S., € 20,- [D], 20,60 [A] ; ISBN 978-3-946514589.
Das Ich in der Gesellschaft
Die Wiener Philosophin Isolde Charim hat sich in einem klugen und wichtigen Buch Gedanken darüber gemacht, wie Menschen in einer pluralisierten Gesellschaft mit einer Vielzahl von – häufig schwammigen und unbeständigen – Identitätsentwürfen leben, und wie sich Individuum und Gesellschaft im Pluralismus völlig neu ordnen.
Waren die alten Nationalstaaten relativ homogen, leben wir nun in einer zunehmend pluralisierten Gesellschaft, die unser „Ich“für immer verändert: „Es gibt keine selbstverständliche Kultur, keine selbstverständliche Zugehörigkeit mehr. Und das ist eine wirklich einschneidende Veränderung“(S. 31). Die Autorin spricht von einer nicht-vollen Zugehörigkeit zur Gesellschaft: Niemand ist mehr vollständig und umfassend Teil einer Gemeinschaft bzw. ist Zugehörigkeit nicht mehr selbstverständlich.
Diese Pluralisierung verändert unsere Identität, indem wir keine klar definierten Gestalten in Gemeinschaft mit anderen mehr sind (etwa: Staatsbürgerin). Dieser alte, „erste“Individualismus wurde schon im Zuge der 68errevolution in Frage gestellt, wo Identitätspolitik – die Rolle individueller Identität für politisches Handeln – erstmals die Bühne betrat. Der „zweite Individualismus“zeichnet sich durch flexible politische Zugehörigkeit aus, während er selbst Identität als unveränderbar begreift: man ist unveränderlich schwarz, homosexuell oder eine Frau (vgl. S. 40f.).auch diese Form von Individualismus ist laut Charim überholt. Sie spricht vom mittlerweile „dritten Individualismus“, der in der pluralisierten Gesellschaft wurzelt. Dieser ist im Kontext erodierender Bezugssysteme zu verstehen: als „Weniger-ich“, ein gespaltenes Individuum in einer Gesellschaft mit multiplen Optionen, welches in ständiger Ungewissheit und Offenheit lebt. „Das verlangt dem Einzelnen viel ab: Er muss sich seiner eigenen Identität versichern. Wir müssen uns selbst ständig unserer eigenen Identität versichern“(S. 47) – ein identitäres Prekariat, welches von jedem anders erlebt wird und ein Nebeneinander von Lebenswelten statt ein Miteinander bedingt.
Die Konsequenzen einer pluralisierten Gesellschaft mit „nicht-vollen Individuen“zeigen sich vor allem in neu definierten Rollen von Religion, Kultur und der Politik. Charim argumentiert, dass es zwar eine Rückkehr der Religion gibt (vor allem in Hinblick auf den Islam), dass aber Religion trotzdem vollkommen neu zu verstehen sei: Früher waren Gesellschaften religiös homogen; nun stehen eine Vielzahl von Glaubensformen (und auch Nicht-glauben) einander gegenüber. Damit relativiert sich auch der Glaube, da er letztendlich eine bewusste Entscheidung der Gläubigen darstellt (S. 66). Im Bereich Kultur konstatiert Charim eine Rückkehr der Tradition als Form derabwehr gegenüber der pluralisierten Gesellschaft. Das Überbetonen von Tradition zeigt sich in islamistischen Strömungen, die versuchen, eine Orthodoxie zu rekonstruieren und damit Identität zu stärken, ebenso in Diskussionen rund um die Leitkultur, der Rückkehr der Tracht und des „heimattümelnden“Schlagers. Damit sollen die „prekarisierten Identitäten“mit Sicherheit versorgt werden.
Was Politik anbelangt, hat sich das Konzept der Partizipation fundamental verändert: Partizipationsformen im dritten Individualismus sind kurzlebig, fluid, unhierarchisch, flexibel. Die Occupy Bewegung ist exemplarisch dafür. Dazu kommt ein grundsätzliches Misstrauen gegenüber Institutionen und Parteien, während politisches Handeln zunehmend von Emotionen getrieben wird – vor allem von Empörung, aber auch vom
„Man kann die kurze Geschichte der Moderne als eine Etablierung von Sprechern und Sprecherpositionen rekonstruieren. Die Demokratie lässt die Gegner der Regierung sprechen, die Wissenschaft etabliert den Streit unterschiedlicher Lösungen, das Recht bringt Antipoden im Gerichtssaal zusammen. Bildungsprogramme vergleichen Unterschiedliches und machen mit den Erfahrungen anderer vertraut.“(Armin Nassehi in , S. 205)
Begehren nach Anerkennung. Zwangsläufig werden politische „Lebensläufe“damit bunter; Loyalitäten verschwinden – man folgt allein dem eigenen spontanen moralischen Anspruch, und erwartet die Umsetzung politischer Glücksversprechen ohne Aufschub. „Politischer Hedonismus“nennt Charim dieses Verhalten (S. 128). Damit leitet die Autorin zum Thema Populismus über, dessen Erfolg darauf beruht, (negative) Emotionen zu kanalisieren und sogenannte unteilbare Konflikte (jene um Identitäten, Kultur, Werte) zu hegen (S. 149). Dazu kommt ein von Populisten neu inszenierter Politikertypus: der Narzist, dessen Attraktion auf Wähler allein darauf beruht, sich Dinge herauszunehmen, die man sich selber wünschen würde – ein Stellvertreter und keine übergeordnete Autorität mehr. Populistinnen treten zudem als entschiedene Gegnerinnen linker Identitätspolitiken auf und punkten damit bei den Wählerinnen. Tatsächlich ist vor allem in den USA die ursprünglich emanzipatorische Identitätspolitik gekippt, in eine „höchst gesteigerte Empfindsamkeit“mit einem „strategischen Vorteil des Opferstatus, aus dem nunmehr Anspruch auf Bevorzugung und moralische Überlegenheit abgeleitet wird“(S. 187). Im Grunde ist diese gekippte Identitätspolitik eine Abwehr gegen die pluralisierte Gesellschaft, nur eben von Seiten der Linken: Man hält an unveränderbaren, fixen Identitäten fest und steigert sie ins Maßlose. Was tun, fragt die Autorin am Schluss – nur um zu bemerken, dass man nichts tun kann: „Die Frage Was tun? gibt sich der irrigen Hoffnung hin, es gäbe eine Antwort, es gäbe eine konkrete Anleitung.“(S. 216) Das Buch endet ohne konkrete Lösung oder Empfehlung – und damit mit einer Verweigerung einfacher Rezepte. Es wäre freilich spannend, auch die komplizierten Wege auszuloten. B. B.-K.
Pluralisierung Charim, Isolde: Ich und die Anderen. Wie die neue Pluralisierung uns alle verändert. Wien: Zsolnay, 2018.
223 S., €22,- [D], 22,70 [A] ; ISBN 978-3-553-05666-0
„Es ist auch die Realität der Teilhabe selbst, die subjektive Wirklichkeit der Partizipation: das subjektive Gefühl, gehört zu werden, anerkannt zu werden, sich gemeint fühlen“(Isolde Charim in , S. 111).