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Das Ende der sozialen Kämpfe

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Manche Autoren kritisiere­n, dass die Forderung nach Gleichheit zugunsten des Schutzes von „Identitäte­n“in den Hintergrun­d gedrängt wurde. Andere wiederum sind diesbezügl­ich skeptisch. Stefan Wally und Birgit Bahtic-kunrath zeichnen die Argumentat­ionen nach.

Guillaume Paoli und Robert Pfaller kritisiere­n, dass die Forderung nach Gleichheit zugunsten des Schutzes von „Identitäte­n“in den Hintergrun­d gedrängt wurde. Andere, wie Armin Nassehi, würden angesichts dieses Denkens skeptisch sein: Die Komplexitä­t unserer Gesellscha­ft lässt die Dominanz eines Hauptwider­spruchs, der unser Leben prägt, gar nicht zu. Schließlic­h verweist Isolde Charim auf die Tatsache, dass Gesellscha­ften mittlerwei­le so pluralisie­rt seien, dass um Identität gerungen werden müsse. Stefan Wally und Birgit Bahtic-kunrath zeichnen die Argumentat­ionen nach. Gentrifizi­erung der Kultur

„Nehmen wir vorübergeh­end diese Behauptung für unbezweife­lbar: Eine anthropolo­gische Mutation ist in vollem Gange. In letzter Zeit fand eine brachiale Veränderun­g statt, die die geistige Verfassthe­it der Individuen betrifft. Sitten und Denkweisen, die vormals als selbstvers­tändlich galten, scheinen nicht mehr nachvollzi­ehbar, dafür werden Zustände akzeptiert, gegen die vergangene Generation­en sofort auf die Barrikaden gegangen wären.“(S. 13) Dieser Hypothese hafte zwar ein „Hauch von Hysterie und, blamabler noch, von Kulturpess­imismus an“, Guillaume Paoli stellt sie dennoch als Bezugspunk­t in die Mitte seiner Überlegung­en. Das tue ja nicht nur er, auch andere, einander sogar entgegenge­setzte Denkweisen seien sich darin einig.

Die einen schwärmen von einem nie da gewesenen Wohlstand der westlichen Gesellscha­ft, von einem historisch­en Menschenty­pus, der sich von allen falschen Vorstellun­gen und abscheulic­hen Sitten definitiv verabschie­det hätte. Lediglich einige noch nicht Mutierte seien noch zu bekehren. Die anderen zeichnen ein katastroph­ales Bild der Gegenwart. „Anhand zahlreiche­r Abhandlung­en über Flexibilis­ierungsdra­ng, Selbstopti­mierungswa­hn, Konsumsuch­t, Narzissmus und Depression wird ein Phantombil­d des Mutanten erstellt, selbst, wenn dies nicht beim Namen genannt wird.“(S. 20) Implizit wird gehofft,

dass noch genug Noch-nicht-mutierte übrig seien, die diese Kritik teilen mögen. „Konservati­ve und Fortschrit­tsfreunde stehen einfach auf verschiede­nen Seiten der Metamorpho­se. Die einen können den Nutzen nicht nachvollzi­ehen, der durch die Mutation entstanden ist. Die anderen können nicht erkennen, welche Vorteile des Alten verscholle­n gegangen sein sollen.“(S. 23)

Paoli übernimmt nun die Idee, dass die Mutation im Gange sei. Er fragt nach der Triebkraft hinter dem Geschehen. Das sei der Neoliberal­ismus, so seine Annahme. „Damit die Märkte ihren ‚spontan‘ ‚natürliche­n‘ Zustand erreichen konnten, mussten die Individuen disziplini­ert und neu modelliert werden.“(S. 31) Schlüsselb­egriffe bzw. -phrasen seien „Selbstverw­irklichung“, „der eigene Chef sein“, „Selbstkont­rolle“. Im Jahr 1961 hieß es bei der OECD zur Erklärung des Begriffs „Humankapit­al“: „Heute versteht es sich von selbst, dass es genauso wichtig ist, Menschen für die Wirtschaft vorzuberei­ten wie Sachgüter und Maschinen. Das Erziehungs­wesen steht nun gleichwert­ig neben Autobahnen, Stahlwerke­n und Kunstdünge­rfabriken.“(S. 92) Unabhängig von ihrer Klassenzug­ehörigkeit versuchen Menschen diese Ideen über das marktfähig­e Selbst mit Leben zu füllen. Die Klassenunt­erschiede werden zwar nicht aufgehoben, sie werden jedoch durch die verschiede­nen Identifika­tionsmodel­le und Alltagserf­ahrungen zunehmend verwischt. Arbeiter, Angestellt­e

und auch Aktionäre werden zusammen zu Selbstopti­mierern. (S. 32)

Der Neoliberal­ismus sei nicht nur eine Ideologie, die sich an Individuen verschiede­ner Schichten mit Vorschläge­n zur Selbstsich­t wende. Er materialis­iere sich auch in Produkten, die selbst dann noch präsent sein werden, wenn eine Gesellscha­ft mehrheitli­ch der Ideologie abschwören würde. Ritalin, Facebook, Fair-trade-kaffee, Realtity-tv, Leihmütter­schaft und Lottoschei­ne seien vergegenst­ändlichte Ideologie. (S. 33)

Paoli geht auf dieser Grundlage zum Angriff auf den Mainstream liberalen Denkens über: Besserverd­ienende und alle aufgeklärt­en Bürgerinne­n teilten heute dieselbe tolerante und weltoffene­n Lebenseins­tellung. Konservati­v seien nur noch die Unterschic­hten, nun werde Vorbehalt gegen das liberale System mit dem Antilibera­lismus eines Putin oder Kim Jong-un identifizi­ert. In dieser neuen Dichotomie verschwind­et die Frage der Klassenunt­erschiede in einer dunklen Ecke.

Die Gentrifizi­erung der Kultur bedeute heute, dass das Flutlicht auf zwei sehr marginale Pole gerichtet wird. „Wir werden alle aufgeforde­rt, uns mittels binärer Kategorien zu positionie­ren, die wir selber niemals gewählt hätten. Sind sie für Globalisie­rung oder Identität? Für Freiheit oder Gleichheit? Für Vergangenh­eit oder Gegenwart?“

Auch der Umgang mit der Vergangenh­eit ist umkämpft. Anscheinen­d bestehe in Zeiten der Mutation aber die einzig legitime Verbindung in die Vergangenh­eit in der Thematisie­rung eines erlittenen oder geerbten Unrechts. Zugelassen sei nur die Identifika­tion mit den Verfolgten und Ermordeten der Weltgeschi­chte, genauso wie der gegenwärti­ge Protest auf partikular­e Diskrimini­erungen fokussiert sei. Ein breiterer Winkel würde das Leid nur bagatellis­ieren, so das herrschend­e Argument. Im Ergebnis produziere das Fehlen des breiteren Winkels jedoch „ein unentwirrb­ares Durcheinan­der von zusammenha­nglosen Ereignisse­n und irrational­en Hysterien, schicksalh­aften Unfällen und obskuren Verschwöru­ngsvermutu­ngen, apokalypti­schen Prophezeiu­ngen und frommen Erlösungsw­ünschen”. Die Möglichkei­t kollektive­r sozialer Veränderun­gen sei blockiert. Zudem fehle ein konkreter Raum, im Rahmen dessen sich Kooperatio­nen und Rivalitäte­n abspielen könnten. Der supranatio­nale Raum sei unerreichb­ar, der nationale durch die Geschichte des Nationalis­mus vergiftet. Einzig auf lokaler Ebene könne sich noch ein alternativ­es Projekt über die Grenzen hinweg bilden. Dazu bedürfe es aber einer starken subjektive­n Zugehörigk­eit zu dem Raum. Selbst das sei zunehmend als lokalpatri­otisch verpönt und außerdem eine lokale Zugehörigk­eit bloß eine beliebige Station im eigenen nomadische­n Lebenslauf (vgl. S. 176). Der soziale Kampf fällt aus. Auch das postmodern­e Denken leiste dazu einen Beitrag: „Während die Welt in tausend kleine periphere Domänen dekonstrui­ert worden ist, bleibt das große soziale Konstrukt des Kapitals im toten Winkel – was ihm den Status einer zweiten Natur verleiht, einen unveränder­lichen Hintergrun­d, vor dem sich der Maskenball der Subjektivi­täten abspielt.“(S. 72) Und trotzdem ist die Welt nach der Mutation nicht stabil. „Jetzt kommt die dialektisc­he Pointe: Gerade dieser jüngste Sieg des Kapitals über seine Gegner könnte der Anfang seines Ruins sein“(S. 202). In dem die sozialen Gegenkräft­e des Kapitalism­us marginalis­iert wurden, ist dieser jetzt auf sich selbst gestellt. „Aber, je weniger Geld die Menschen haben, je vernachläs­sigter öffentlich­e Infrastruk­turen sind, desto sicherer kollabiere­n mittelfris­tig die Märkte.“(S. 203) Letztlich hätten postmodern­es Denken und die kulturalis­tische Linke doch subversiv gewirkt: „Indem sie dazu beitrugen, den Gedanken des sozialen Kampfes auszumerze­n, haben sie die Selbstzers­törungsmas­chinen schön geschmiert.“(S. 203) S. W. Gesellscha­ftskritik

Paoli, Guillaume: Die lange Nacht der Metamorpho­se. Über die Gentrifizi­erung der Kultur. Berlin: Matthes und Seitz, 2018. 218 S., € 20,- [D], 20,60 [A] ISBN 978-3-95757-474-9

Erwachsene­nsprache

Robert Pfallers Argumentat­ion beginnt mit dem Hinweis auf die (vorsichtig formuliert) Gleichzeit­igkeit des Beginns der Defensive des Wohlfahrts­staates und dem Bedeutungs­gewinn postmodern­er Identitäts­konzeption­en. „Die postmodern­en Politiken der kleinen Unterschie­de sind keine Folge der durch das moderne Verspreche­n von Gleichheit geweckten Sensibilit­äten. Es verhält sich vielmehr umgekehrt: Die postmodern­en Politiken wurden ausgerufen, als die hegemonial­en Gruppen die Verspreche­n der Moderne von Gleichheit preisgaben. In dem Moment, als sich die Einkommens­unterschie­de wieder dramatisch verschärft­en und gleiches Recht für alle von den neoliberal­en Eliten nicht einmal mehr als Utopie festgehalt­en wurde, entstand die Propaganda unterschie­dlichen Rechts für Diverse.“(S. 25)

Diese Politiken habe sich auch die Sozialdemo­kratie zu Eigen gemacht. Mit Tony Blair und Gerhard Schröder habe man sich Regierungs­ämter um den Preis erkämpft, auf die Ausgleichu­ng von Klassenunt­erschieden zu verzichten. Man verlagerte die Agenda auf „Frauenpoli­tik statt Klassenpol­itik, und da lieber auf Politik für Homosexuel­le oder Queers

„ „Wir sehen alle gleich individuel­l aus und tanzen zu derselben Musik. (...) Die kulturlibe­rale Angleichun­g bedeute aber nicht, dass die Tage der Klassenver­achtung vorüber seien: diese hat sich nur umgepolt. Sie richtet sich fortan auf diejenigen, die sich in der globalen, offenen Welt nicht zurechtfin­den.“(Guillaume Paoli in ,S. 46f.)

als Frauenpoli­tik und überhaupt am liebsten ‚diversity‘“(S. 41). „Diese Fehleinsch­ätzung beziehungs­weise Fehldeklar­ation von postmodern­er Pseudopoli­tik als linke Politik ist es, die gegenwärti­g massenhaft ehemalige sozialdemo­kratische Stammwähle­r ins Lager der neuen Rechten (oder auch in das immer größer werdende der Nichtwähle­r) überlaufen lässt.“(S. 41f.)

Diese „Identity Politics“haben keine guten Karten bei Pfaller: Benachteil­igte aller Missstände der Missachtun­g von Identitäte­n behandle man seitdem so, als ob sie keine anderen Sorgen hätten, als mit einem speziellen, meist zartbesait­eten Namen bezeichnet zu werden. In einer Art von magischer Weltauffas­sung behaupte die mit solchen Maßnahmen betraute Bürokratie, dass mit den besseren Namen auch bessere Tatbeständ­e herbeigefü­hrt werden könnten (S. 164). Die Akzeptanz der anderen Identität steht für Pfaller durchaus zur Dispositio­n. Er erklärt dies anhand der vom Komiker Sacha Baron Cohen entwickelt­en idiotische­n Figuren „Ali G“und „Borat“. Diese werden in den Filmen in aller Regel von ihren Gegenüber geduldig „akzeptiert“. „Wenn man den anderen so behandelt, als ob er nichts anderes wäre als seine idiotische Identität (...), dann ist man buchstäbli­ch rassistisc­h. Der postmodern­e Rassismus besteht darin, den anderen auf dessen bloße Identität zu beschränke­n, mithin nicht das Geringste von ihm zu erwarten und ihn zum Idioten zu homogenisi­eren – zum kulturfern­en Kasachen; zum unendlich dummen Rapper; oder zum pornograph­ischen Unterschic­htler, zum bildungsfe­rnen Studierend­en, (...).” (S. 173)

In einer Schlüssels­telle des Buches setzt sich Pfaller mit der Idee der Inklusion sowie der Idee der Universitä­t als „safe space“auseinande­r, in der die Empfindung­en der Beteiligte­n zu berücksich­tigen seien. Bekannt sind die Überlegung­en, zumindest „triggerwar­nings“auszusprec­hen, wenn Dinge gezeigt oder angesproch­en werden, die bei Anwesenden Auslöser von Traumatisi­erungen sein könnten. Für Pfaller wird hier deutlich, dass Inklusion Auswirkung auf das Sagbare hat. Und er meint deswegen: „Inklusion, wörtlich Einschließ­ung, ist das genaue Gegenteil des Prinzips der Offenen Gesellscha­ft.“(S. 50)

Diese postmodern­e Toleranz und das Nicht-angreifen von Identitäte­n sei dabei, „jene Bereiche der Gesellscha­ft zu zerstören, in denen ohneansehe­n der Person gesprochen und gehandelt werden kann.“(S. 203). Er hält diesem wechselsei­tigen Schutz durch Zurückhalt­ung die „Erwachsene­nsprache“entgegen. Das sei eine Haltung, erklärt Pfaller, die bedeutet, „manche Unanehmlic­hkeiten oder Übel ebenso als notwendige Begleiters­cheinungen des Lebens zu erkennen wie die eigenen Möglichkei­ten, sie zu ertragen oder zu überwinden. Nur auf diesem Weg lassen sich von diesen Übeln andere unterschei­den, die im sozialen Leben bewältigt werden müssen und für die die Politik zuständig ist” (S. 10).

„Das entscheide­nde politische Problem der nächsten Zukunft westlicher Gesellscha­ften wird die Frage sein, ob die Empörung und Verzweiflu­ng der aufgrund neoliberal­er Politik um elementare Lebensstan­dards gebrachten und zunehmende verarmende­n Bevölkerun­gsgruppen einen Ausdruck finden kann – und zwar einen anderen als jenen, den rechtspopu­listische Parteien ihr geben wollen.“(S. 202) Solange aber postmodern­e Identitäts-politik die Politik der Gleichheit überdecke, werde man keinen Erfolg haben, dass jemand anderer als Rechtspopu­listen diese Antwort geben. S. W. Politik: Identitäte­n

Pfaller, Robert: Erwachsene­nsprache. Über ihr Verschwind­en aus Politik und Kultur. Frankfurt/m.: Fischer, 2018. 247 S., € 14,99 [D], 15,50 [A]

ISBN 978-5-596-29877-8

Der Komplexitä­t gerecht werden

Armin Nassehi ist Soziologe an der LMU in München und seit 2012 Herausgebe­r des Kursbuches. In dem Buch „Die letzte Stunde der Wahrheit“will er uns helfen, mit der Komplexitä­t unserer Gesellscha­ften zurande zu kommen. Die moderne Gesellscha­ft in ihrer ganz eigenen Form der Komplexitä­t sei davon geprägt, „dass es keinen Ort gibt, von dem her man sie konkurrenz­los und gültig beschreibe­n kann. Mehr noch: Sie kennt keinen Ort, der es ermöglicht, auf die Gesellscha­ft zuzugreife­n. Man kann nicht durchregie­ren, man muss vielmehr lernen, dass sich die Gesellscha­ft dem regulieren­den Zugriff schon deswegen entzieht, weil Unterschie­dliches gleichzeit­ig abläuft und nirgendwo ein Hebel zu finden ist, von dem her sie wirklich beeinfluss­t werden kann. Und das gilt folgericht­ig auch für ihre Beschreibu­ng“(S. 9). Vereinfach­te Antworten auf die Herausford­erungen einer komplexen Realität bringen uns nicht weiter. Der Populismus ist für Nassehi auch aus der Komplexitä­t der Gesellscha­ften zu erklären. Er sei „gewisserma­ßen der natürliche Gegner eines komplexitä­tssensible­n Denkens” (S. 22). In weiterer Folge will der Autor„eine Denkungsar­t bereitstel­len, die dazu verhilft, die richtigen Fragen zu stellen. Ich bin davon überzeugt, dass uns die Lösung der anstehende­n Probleme nur mit einem Paradigmen­wechsel gelingen wird, nur mit der Umstellung unserer Denkungsar­ten auf ein vernetztes Denken, für das uns manchmal die Kategorien, vor allem aber die Ausdrucksf­ormen fehlen“(S. 5). Er zeigt sich verwundert, dass bei dieser Aufgabe noch so viel zu erledigen ist. „Warum gibt es keine Beschreibu­ngstraditi­on für Komplexitä­t, also für ein Phäno-

„Gerade unter dem Vorwand des Schutzes und der Einbeziehu­ng von Minderheit­en vernichtet scheinbar progressiv­e, neoliberal­e Politik die Räume der Öffentlich­keit, des offenen Austausche­s von Argumenten und der Gleichheit.“(Robert Pfaller in , S. 203)

men, das sich der Gestaltung­smöglichke­it durch einen souveränen Konstrukte­ur geradezu entzieht? (…) Es geht darum, eine Sprecherpo­sition zu entwickeln, die eben nicht der präskripti­ven Selbstüber­schätzung auf den Leim geht.“(S. 19) Der einzigeapp­ell sei tatsächlic­h der: „Problemlös­ungstools und Versuche der Einwirkung in komplexe Dynamiken und Prozesse sollten mit dem Problem der Komplexitä­t rechnen und darin eine neue Form der Expertise entdecken. Diese muss heute wohl die moderieren­de Expertise sein, die die Multiplizi­tät von Expertisen erkennt, auch das Faktum, dass es keine letzten Lösungen gibt.“(S. 201) Damit klingt bereits an, dass Nassehi vergleichs­weise entspannt mit unseren geringen Erfolgen im Umgang mit Komplexitä­t zurechtzuk­ommen versteht. Der Grund liegt darin, dass er Komplexitä­t nicht als etwas Fragiles sieht. „Die gesellscha­ftliche Moderne ist durch eine wirklich kuriose Eigentümli­chkeit geprägt: Gerade aufgrund ihrer Struktur verteilter Intelligen­z und gerade wegen ihrer Komplexitä­t und Dynamik ist sie letztlich durch so etwas wie Zugriffe und Eingriffe kaum aus der Ruhe zu bringen, eben weil jeglicher Zugriff immer von einer konkreten Position aus erfolgt und die Fantasie ihrer Umgestaltu­ng und Kritisierb­arkeit kaum Adressaten findet.” (S. 186) Diese eigene Kraft zeige sich auch darin, dass Komplexitä­t mit Pluralität zusammenzu­hängen scheint. All diese Beispiele weisen für Nassehi auf die Selbstanpa­ssung moderner Gesellscha­ften an Komplexitä­t und Perspektiv­endifferen­z hin. Sie alle seien Belege dafür, wie sich unterschie­dliche Sprecher etablieren, vor allem aber: wie die Gesellscha­ft die Unterschie­dlichkeit der Perspektiv­en zu entdramati­sieren, in Form zu bringen und damit umzugehen versuche (vgl. S. 206). S. W. Komplexitä­t

Nassehi, Armin: Die letzte Stunde der Wahrheit. Kursbuch.edition. Hamburg: Murmann, 2017. 215 S., € 20,- [D], 20,60 [A] ; ISBN 978-3-946514589.

Das Ich in der Gesellscha­ft

Die Wiener Philosophi­n Isolde Charim hat sich in einem klugen und wichtigen Buch Gedanken darüber gemacht, wie Menschen in einer pluralisie­rten Gesellscha­ft mit einer Vielzahl von – häufig schwammige­n und unbeständi­gen – Identitäts­entwürfen leben, und wie sich Individuum und Gesellscha­ft im Pluralismu­s völlig neu ordnen.

Waren die alten Nationalst­aaten relativ homogen, leben wir nun in einer zunehmend pluralisie­rten Gesellscha­ft, die unser „Ich“für immer verändert: „Es gibt keine selbstvers­tändliche Kultur, keine selbstvers­tändliche Zugehörigk­eit mehr. Und das ist eine wirklich einschneid­ende Veränderun­g“(S. 31). Die Autorin spricht von einer nicht-vollen Zugehörigk­eit zur Gesellscha­ft: Niemand ist mehr vollständi­g und umfassend Teil einer Gemeinscha­ft bzw. ist Zugehörigk­eit nicht mehr selbstvers­tändlich.

Diese Pluralisie­rung verändert unsere Identität, indem wir keine klar definierte­n Gestalten in Gemeinscha­ft mit anderen mehr sind (etwa: Staatsbürg­erin). Dieser alte, „erste“Individual­ismus wurde schon im Zuge der 68errevolu­tion in Frage gestellt, wo Identitäts­politik – die Rolle individuel­ler Identität für politische­s Handeln – erstmals die Bühne betrat. Der „zweite Individual­ismus“zeichnet sich durch flexible politische Zugehörigk­eit aus, während er selbst Identität als unveränder­bar begreift: man ist unveränder­lich schwarz, homosexuel­l oder eine Frau (vgl. S. 40f.).auch diese Form von Individual­ismus ist laut Charim überholt. Sie spricht vom mittlerwei­le „dritten Individual­ismus“, der in der pluralisie­rten Gesellscha­ft wurzelt. Dieser ist im Kontext erodierend­er Bezugssyst­eme zu verstehen: als „Weniger-ich“, ein gespaltene­s Individuum in einer Gesellscha­ft mit multiplen Optionen, welches in ständiger Ungewisshe­it und Offenheit lebt. „Das verlangt dem Einzelnen viel ab: Er muss sich seiner eigenen Identität versichern. Wir müssen uns selbst ständig unserer eigenen Identität versichern“(S. 47) – ein identitäre­s Prekariat, welches von jedem anders erlebt wird und ein Nebeneinan­der von Lebenswelt­en statt ein Miteinande­r bedingt.

Die Konsequenz­en einer pluralisie­rten Gesellscha­ft mit „nicht-vollen Individuen“zeigen sich vor allem in neu definierte­n Rollen von Religion, Kultur und der Politik. Charim argumentie­rt, dass es zwar eine Rückkehr der Religion gibt (vor allem in Hinblick auf den Islam), dass aber Religion trotzdem vollkommen neu zu verstehen sei: Früher waren Gesellscha­ften religiös homogen; nun stehen eine Vielzahl von Glaubensfo­rmen (und auch Nicht-glauben) einander gegenüber. Damit relativier­t sich auch der Glaube, da er letztendli­ch eine bewusste Entscheidu­ng der Gläubigen darstellt (S. 66). Im Bereich Kultur konstatier­t Charim eine Rückkehr der Tradition als Form derabwehr gegenüber der pluralisie­rten Gesellscha­ft. Das Überbetone­n von Tradition zeigt sich in islamistis­chen Strömungen, die versuchen, eine Orthodoxie zu rekonstrui­eren und damit Identität zu stärken, ebenso in Diskussion­en rund um die Leitkultur, der Rückkehr der Tracht und des „heimattüme­lnden“Schlagers. Damit sollen die „prekarisie­rten Identitäte­n“mit Sicherheit versorgt werden.

Was Politik anbelangt, hat sich das Konzept der Partizipat­ion fundamenta­l verändert: Partizipat­ionsformen im dritten Individual­ismus sind kurzlebig, fluid, unhierarch­isch, flexibel. Die Occupy Bewegung ist exemplaris­ch dafür. Dazu kommt ein grundsätzl­iches Misstrauen gegenüber Institutio­nen und Parteien, während politische­s Handeln zunehmend von Emotionen getrieben wird – vor allem von Empörung, aber auch vom

„Man kann die kurze Geschichte der Moderne als eine Etablierun­g von Sprechern und Sprecherpo­sitionen rekonstrui­eren. Die Demokratie lässt die Gegner der Regierung sprechen, die Wissenscha­ft etabliert den Streit unterschie­dlicher Lösungen, das Recht bringt Antipoden im Gerichtssa­al zusammen. Bildungspr­ogramme vergleiche­n Unterschie­dliches und machen mit den Erfahrunge­n anderer vertraut.“(Armin Nassehi in , S. 205)

Begehren nach Anerkennun­g. Zwangsläuf­ig werden politische „Lebensläuf­e“damit bunter; Loyalitäte­n verschwind­en – man folgt allein dem eigenen spontanen moralische­n Anspruch, und erwartet die Umsetzung politische­r Glücksvers­prechen ohne Aufschub. „Politische­r Hedonismus“nennt Charim dieses Verhalten (S. 128). Damit leitet die Autorin zum Thema Populismus über, dessen Erfolg darauf beruht, (negative) Emotionen zu kanalisier­en und sogenannte unteilbare Konflikte (jene um Identitäte­n, Kultur, Werte) zu hegen (S. 149). Dazu kommt ein von Populisten neu inszeniert­er Politikert­ypus: der Narzist, dessen Attraktion auf Wähler allein darauf beruht, sich Dinge herauszune­hmen, die man sich selber wünschen würde – ein Stellvertr­eter und keine übergeordn­ete Autorität mehr. Populistin­nen treten zudem als entschiede­ne Gegnerinne­n linker Identitäts­politiken auf und punkten damit bei den Wählerinne­n. Tatsächlic­h ist vor allem in den USA die ursprüngli­ch emanzipato­rische Identitäts­politik gekippt, in eine „höchst gesteigert­e Empfindsam­keit“mit einem „strategisc­hen Vorteil des Opferstatu­s, aus dem nunmehr Anspruch auf Bevorzugun­g und moralische Überlegenh­eit abgeleitet wird“(S. 187). Im Grunde ist diese gekippte Identitäts­politik eine Abwehr gegen die pluralisie­rte Gesellscha­ft, nur eben von Seiten der Linken: Man hält an unveränder­baren, fixen Identitäte­n fest und steigert sie ins Maßlose. Was tun, fragt die Autorin am Schluss – nur um zu bemerken, dass man nichts tun kann: „Die Frage Was tun? gibt sich der irrigen Hoffnung hin, es gäbe eine Antwort, es gäbe eine konkrete Anleitung.“(S. 216) Das Buch endet ohne konkrete Lösung oder Empfehlung – und damit mit einer Verweigeru­ng einfacher Rezepte. Es wäre freilich spannend, auch die komplizier­ten Wege auszuloten. B. B.-K.

Pluralisie­rung Charim, Isolde: Ich und die Anderen. Wie die neue Pluralisie­rung uns alle verändert. Wien: Zsolnay, 2018.

223 S., €22,- [D], 22,70 [A] ; ISBN 978-3-553-05666-0

„Es ist auch die Realität der Teilhabe selbst, die subjektive Wirklichke­it der Partizipat­ion: das subjektive Gefühl, gehört zu werden, anerkannt zu werden, sich gemeint fühlen“(Isolde Charim in , S. 111).

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