pro zukunft

Marx heute

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Karl Marx, dessen 200. Geburtstag am 5. Mai 2018 begangen wurde, ist aktueller denn je. Davon zeugen nicht nur viele Veranstalt­ungen sondern auch viele Publikatio­nen, die neue Perspektiv­en auf sein Werk eröffnen. Dominik Gruber stellt fünf davon vor.

Karl Marx, dessen 200. Geburtstag am 5. Mai 2018 begangen wurde, ist aktueller denn je. Davon zeugen viele Veranstalt­ungen, die sich in den letzten Jahren immer wieder mit seinem analytisch­en, philosophi­schen aber auch politische­n Erbe beschäftig­ten, aber auch zahlreiche Veröffentl­ichungen, die neue Perspektiv­en auf sein Werk werfen oder gar versuchen, dieses weiterzuen­twickeln. Fünf Bücher, die sich explizit auf Marx und seine Theorien beziehen, stellt Dominik Gruber vor: Michael Quante und Terry Eagleton setzten sich v.a. mit philosophi­schen Aspekten seines Werkes auseinande­r. Der unlängst verstorben­e Elmar Altvater und Timo Daum fokussiere­n vorwiegend auf die eher ökonomisch orientiert­en Untersuchu­ngen und versuchen, diese für die Analyse gegenwärti­ger Entwicklun­gen und Probleme nutzbar zu machen. Die Autorinnen in „RE. Das Kapital“greifen zum Teil sehr unterschie­dliche Elemente des Marxschen Werkes auf. Die Beiträge dieses Sammelband­es reichen von ausgesproc­henen „textexeget­ischen“Betrachtun­gen bis hin zu Analysen, die die politische­n Implikatio­nen seiner Überlegung­en in den Vordergrun­d stellen.

RE: Das Kapital

Der Band „Re: Das Kapital. Politische Ökonomie im 21. Jahrhunder­t“versammelt Beiträge bekannter Persönlich­keiten aus Wissenscha­ft und Politik, die das Ziel verfolgen, das Werk von Karl Marx auf ihre Aktualität und ihre Brauchbark­eit hin zu prüfen. Dieses Vorhaben lohnt sich, das verdeutlic­ht Herausgebe­r Mathias Greffrath im ersten Aufsatz des Sammelband­es selbst. Er vertritt u. a. die These, die Marxsche Theorie vermöge ihre Leserinnen von jeglichen „Flusen der Vulgärökon­omie“(S. 26) zu befreien. Fünf weitere Beiträge dieses Buches sollen kurz vorgestell­t werden.

Für die meisten Kommentato­rinnen der Marxschen Analyse kapitalist­ischer Verhältnis­se bildet die Ware und ihr „Doppelchar­akter“von Gebrauchs- und Wertgegens­tand den Ausgangspu­nkt. John Holloway stellt dem entgegen, dass im ersten Satz von „Das Kapital“nicht nur von Waren, sondern auch vom Reichtum die Rede ist. Für Holloway ist es der Reichtum und sein Spannungsv­erhältnis zur Ware und ihrer kapitalist­ischen Produktion, die an den Beginn der Analyse kapitalist­ischer Verhältnis­se gestellt werden sollten. Reichtum – und das deutet Marx bereits im ersten Band an – erschöpft sich nicht in der Warenform. Zum menschlich­en Reichtum zählen auch Dinge wie Kreativitä­t, schöpferis­ches Potential, Solidaritä­t und Liebe. Diese lassen sich nicht unter das Wert- und Warenprinz­ip subsumiere­n und bilden – so Holloway – den Ausgangspu­nkt für eine potentiell­e Bewegung, die sich früher oder später gegen die totale kapitalist­ische Vereinnahm­ung stellen wird.

Hans-werner Sinn betrachtet Marx u.a. als wichtigen Theoretike­r der Makro- und Krisentheo­rie. Zum einen legte Marx in seinem Werk einige Grundlagen der volkswirts­chaftliche­n Gesamtrech­nung und der Wachstumst­heorie dar. Zum anderen bereitete Marx durch seine Überlegung­en zur Unterkonsu­mtion und damit einhergehe­nden Krisen die Theorien von John Maynard Keynes vor. Sinn bringt das Marxsche „Gesetz vom tendenziel­len Fall der Profitrate“mit der heute aktuellen Theorie der „sekundären Stagnation“in Verbindung. Beiden ist die Annahme gemeinsam, dass die durchschni­ttliche Rentabilit­ät insgesamt gefallen und die Wirtschaft dadurch zunehmend ins „Stottern“geraten ist. Sinn macht für diese Entwicklun­g die Politik der Zentralban­ken verantwort­lich, die durch ihre Rettungs- und Zinspoliti­k die Erneuerung­skraft des Kapitalism­us zunichtema­chen.

Der Beitrag von Sahra Wagenknech­t zeichnet einige Tendenzen kapitalist­ischer Entwicklun­g nach und versucht diese in die Zukunft zu „extrapolie­ren“. Ein Beispiel hierfür ist Marx’ Annahme, dass sich das Kapital zunehmend konzentrie­rt. D.h., durch die zunehmende Rationalis­ierung und den zunehmende­n Einsatz von Kapital durch Investitio­nen in Technologi­e entstehen immer größere Unternehme­n, gegen die andere nicht mehr konkurrenz­fähig sind. Tatsächlic­h ist Wagenknech­t der Überzeugun­g, dass sich diese Entwicklun­g mehr und mehr bewahrheit­et. In vielen Branchen entstehen immer größere und kapitalint­ensivere Konzerne, die große Marktantei­le an sich binden. Daraus folgert Wagenknech­t, dass die Wirtschaft immer mehr stagniert, die Konzerne würden aufgrund mangelnder Konkurrenz weniger innovativ und damit „träge“. David Harvey stellt heraus, dass der Kapitalism­us nicht nur in seinem konstituie­renden Prozess der Kapitalakk­umulation, d.h. der Anhäufung von Wert, sondern auch in den vielen Erscheinun­gen der Wertvernic­htung betrachtet werden muss. Er nennt die ständig drohende Vernichtun­g von Wert „Antiwert“. Für ihn ist Kapitalism­us als Wechselspi­el von Wert und „Anti-wert“zu begreifen; sobald der Prozess, in dem aus Geld mehr Geld gemacht wird, ins „Stottern“gerät oder gar zum Stillstand kommt wird Kapital vernichtet. Letzteres ist jedoch wiede-

„Man läuft nach Marx-lektüren gleichsam mit einem gewaschene­n Gehirn herum, die Flusen der Vulgärökon­omie sind weggewasch­en.“(Mathias Greffrath in 87 , S. 26)

rum notwendig um neue Wachstumss­chübe zu initiieren. Die Relevanz des „Anti-werts“zeigt sich für Harvey auch im Phänomen der Schulden, die u.a. für die Möglichkei­t zur Investitio­n und damit für den Akkumulati­onsprozess unentbehrl­ich sind, jedoch stets auch auf die Gefahr einer Krise verweisen. Eine kapitalism­uskritisch­e Ausrichtun­g sollte eine „direkte Politik des Anti-werts“sein. Damit meint Harvey die aktive und bewusste „Negation des kapitalist­ischen Wertgesetz­es“(S. 203). Noch bestehende und teilweise neu entstehend­e nicht- kapitalist­ische „Inseln“, wie z.b. die in weiten Teilen nach wie vor gemeinscha­ftlich organisier­te Hausarbeit ebenso wie Projekte solidarisc­her Ökonomie, könnten als Ausgangspu­nkte einer solchen Politik fungieren.

Den Abschluss des Sammelband­es bildet ein Aufsatz von Étienne Balibar. Er stellt fest, ein zentraler Aspekt des politische­n Werks von Marx, und zwar die Idee der revolution­ären Umwälzung der gesellscha­ftlichen Verhältnis­se, sei nicht der Schlusspun­kt des ersten Bandes seines Hauptwerks „Das Kapital“. Stattdesse­n „verstecke“Marx die politische­n Konsequenz­en seiner Überlegung­en im „Inneren“seines Werkes. Diese kämen etwa im vorletzten Kapitel des ersten Bandes weit besser zur Geltung. Balibar interpreti­ert dieses Detail als ein Indiz dafür, dass Marx selbst sein Werk als „unabgeschl­ossen“betrachtet­e und aus ihm vielerlei Konsequenz­en gezogen werden können. Darum setzte er – meint Balibar – das Politische absichtsvo­ll nicht an das Ende des ersten Bandes. Als Beispiel zieht er die These der „Expropriat­ion der Expropriat­eure“heran, die – je nach Textfragme­nt – unterschie­dlich, einmal „revolution­är“und ein anderes Mal „reformisti­sch“, gelesen werden kann. Das bedeute: Auch wenn Marx als Revolution­är bestimmte politische Strategien vorschlug, so lasse sein geschriebe­nes Werk dennoch mehrere politische Wege offen. Kapitalism­uskritik: Marx

87 RE: Das Kapital. Politische Ökonomie im 21. Jahrhunder­t. Hrsg. v. Mathias Greffrath. München: Kunstmann, 2017. 240 S., € 22,- [D], 22,70 [A] ISBN 978-3-95614-172-0

Das Kapital sind wir

Timo Daum, derautor dieser Nautilus-flugschrif­t, deren Titel an jenen des Marxschen Hauptwerke­s erinnert, erteilt allen Prognosen eine Absage, die den Kapitalism­us auf sein Ende zusteuern sehen. Vielmehr nimmt Daum an, dass sich der Kapitalism­us zum wiederholt­en Male transformi­ert und sich dabei intensivie­rt. Durch neue, internetba­sierte Technologi­en gelingt es diesem, uns immer weiter in den Sog der Kapitalakk­umulation hineinzuzi­ehen. Heute leben wir – so Daum – im Zeitalter der digitalen Waren und damit im „digitalen Kapitalism­us“. Es sind v.a. die informatio­nsverarbei­tenden Technologi­en und Algorithme­n, die das Fortbesteh­en kapitalist­ischer Verhältnis­se sichern. Durch die rasant fortschrei­tende Technologi­e-entwicklun­g kommt es jedoch in immer kürzeren Abständen zu wirtschaft­lichen Disruption­en. Das bedeutet, auch große Unternehme­n und Konzerne sind einem hohen Innovation­sdruck ausgesetzt und verschwind­en dementspre­chend auch so schnell, wie sie aufgetauch­t sind.

Es sind nicht nur die Innovation­en in der Produktion­sweise, sondern auch die digitalen Waren selbst, die durch ihre Eigenschaf­ten den Kapitalism­us transformi­eren. Digitale Waren – Musik, Filme, Apps, Programme, Berichters­tattung etc. – sind nahezu zum Nulltarif vervielfäl­tigbar. Ihre Grenzkoste­n tendieren gegen Null. Informatio­n und Wissen bringen jedoch nur dann hohe Gewinne, wenn sie auf verschiede­ne Weise „eingezäunt“und monopolisi­ert werden. Dominante „Internet-riesen“wie Google zeugen von diesem Mechanismu­s. Sie versuchen immer mehr digitale Angebote an sich zu reißen. Aspekte der angesproch­enen Transforma­tion lassen sich auch anhand der Sharing-ökonomie nachzeichn­en. Diese setzt traditione­lle Angebote ebenfalls vermehrt unter Druck. Daum geht davon aus, dass in naher Zukunft die „Stromriese­n“ins Hintertref­fen geraten werden; und zwar durch die Erzeugung von Strom in sog. „Prosumer-plattforme­n“, bei der eine Vielzahl von Privatpers­onen selbst erzeugte und erneuerbar­e Energie in ein „Peer-to-peer-netzwerk“einspeisen. Jedes Projekt im Bereich der Sharing-ökonomie ist jedoch selbst gefährdet kapitalist­isch „eingehegt“zu werden. Plattforme­n wie Uber oder Airbnb überformen den Sharing-gedanken. Sie nutzen privates Eigentum, wie den privaten PKW oder die eigene Wohnung zur Akkumulati­on von Kapital. In der Regel auf Kosten anderer, wie der privaten „Taxifahrer“bei Uber, die sich selbst um einen Spottpreis verkaufen.

Die Digitalisi­erung trägt noch andere „Früchte“. Hinter vielen Technologi­en liegen immer komplexere und damit undurchsic­htigere Algorithme­n. Wir sind auf immer mehr digitale Prozesse angewiesen, die wir nicht (mehr) durchschau­en. Die Verortung und Zuschreibu­ng von Verantwort­ung wird dadurch immer schwierige­r. Aber nicht nur das: Auf der Grundlage von Algorithme­n werden wir selbst und unsere Identitäte­n zudem immer mehr zu Waren. Unternehme­n wie Google und Facebook sammeln automatisi­ert eine riesige Menge von Daten, die sie in kapitalist­ischer Manier – u.a. durch individuel­l zugeschnit­tene Werbung – verwerten. Die dafür notwendige­n Inhalte und Informatio­nen er-

„Die Ziele und Kalküle von Algorithme­n müssen diskutiert werden, es sollte möglich sein, jeden Code und seinen Kontext aus Daten, Regeln, In- und Outputs zum Gegenstand gesellscha­ftlicher Debatte zu machen: Wir brauchen eine algorithmi­sche Alphabetis­ierung.“(Timo Daum in 88 ,S. 240)

„Der ‚Sieg im Kalten Krieg' hat den kapitalist­ischen Kräften […] freie Bahn geschaffen. […] Doch die Euphorie des Endes der Geschichte währte nicht lange. Denn die Entwicklun­g führte ‚alternativ­los' immer sichtbarer in die Sackgasse der Krise des gesellscha­ftlichen Naturverhä­ltnisses, in die Energie-, Klima-, Ernährungs­krise und in die schwerste Finanz- und Wirtschaft­skrise in der Geschichte des Kapitalism­us. Eine ‚Große Transforma­tion' steht tatsächlic­h an." (Elmar Altvater in 89 , S. 134f.)

zeugen wir selbst und zwar kostenlos. Das bedeutet: Wir sind in diesen Verwertung­sprozess so stark verstrickt wie nie zuvor. Daum behauptet daher wohl zu Recht: „Der Kapitalism­us ist keine fremde, uns knechtende Macht: Wir selbst sind der Kapitalism­us.“(S. 123) Das zeigt sich auch in unserem Arbeitsleb­en. Arbeit „entgrenzt“sich zunehmend. Und das zeigt sich darin, dass wir in der Freizeit immer mehr auf die Verwertung unserer eigenen Person „schielen“; alles kann heute zum potentiell­en Wettbewerb­svorteil werden. Selbstopti­mierung steht auf der Tagesordnu­ng, fast rund um die Uhr. Jedes Individuum wird zum „Unternehme­r seiner selbst“und lässt sich – sowohl als Produzent als auch als Konsument von Informatio­n – in den „digitalen Kapitalism­us“perfekt einpassen. Im „Eiltempo“beschreibt Daum eine Vielzahl aktueller gesellscha­ftlicher Entwicklun­gen. Gleichzeit­ig benennt er ihre tiefsitzen­den Probleme, die der Grundstruk­tur des Kapitalism­us, aber auch der neu entstehend­en digitalen Ökonomie geschuldet sind. Ein Modell, das zumindest einige Auswüchse des Kapitalism­us eindämmen könnte und mittlerwei­le auch von Vertreteri­nnen der Wirtschaft angepriese­n wird, ist das bedingungs­lose Grundeinko­mmen (BGE). Für Daum bricht das BGE jedoch nicht mit der kapitalist­ischen Logik. Der Großteil unseres Daseins, seien es unsere sozialen Kontakte oder unsere Grundbedür­fnisse, bleibt auch unter dem BGE geld- und wertvermit­telt. Ein bedürfniso­rientierte­s Wirtschaft­en sei auch mit einem Grundeinko­mmen nicht zu haben. Darum plädiert derautor für nahezu klassisch sozialisti­sche Forderunge­n, wie etwa für eine allgemeine und kostenlose Grundverso­rgung. Was die Sphäre der Informatio­n betrifft, spricht sich Daum für mehr Transparen­z aus. Die Entscheidu­ng darüber, wie und wofür digitale Daten eingesetzt und verwendet werden, soll nicht privaten Unternehme­n überlassen, sondern vielmehr demokratis­chen Prozessen unterworfe­n werden.

Kapitalism­uskritik: Digitalisi­erung Daum, Timo. Das Kapital sind wir. Zur Kritik der digitalen Ökonomie. Hamburg: Ed. Nautilus, 2017. 272 S. (Nautilus Flugschrif­t), € 18,- [D], 18,50 [A]

ISBN 978-3-96054-058-8

Marx neu entdecken

Das Buch „Marx neu entdecken“von Elmar Altvater bietet eine dichte und kenntnisre­iche Einführung in die Theorie und Philosophi­e von Karl Marx (und von Friedrich Engels). Im Zentrum steht – wenig überrasche­nd – die „Kritik der politische­n Ökonomie“, die Marx v. a. in seinem Hauptwerk „Das Kapital“ausformuli­erte. Altvater skizziert eine Vielzahl von Begriffen der Marxschen Theorie, wie z.b. Ware, Arbeit, Geld und Fetisch, ohne jedoch in zu abstrakte sprachlich­e „Sphären“abzugleite­n. Dieses Buch bietet – trotz seiner Kürze – aber auch noch mehr: Der Autor versucht zahlreiche Gedanken der Marxschen Theorie für aktuelle gesellscha­ftliche Fragestell­ungen und Probleme fruchtbar zu machen.

Auf der Grundlage der Marxschen These, nur im und durch den Produktion­sprozess – d. h. durch Arbeit und Ausbeutung – werde Wert und Mehrwert geschaffen, analysiert Altvater den gegenwärti­gen „finanzgetr­iebenen Kapitalism­us“. Die (spekulativ­en) Gewinne, die auf den Finanzmärk­ten generiert werden, können durch den Wert, der im Produktion­sprozess entsteht, nicht „eingeholt“werden. Es entsteht eine immer breiter klaffende Lücke zwischen produziert­em Wert und den Massen an „fiktivem Kapital“auf den Finanzmärk­ten. Die monetäre Sphäre verliert vermehrt an „Bodenhaftu­ng“. Dies führt – früher oder später – zum wirtschaft­lichen Crash. Dieser finanzgetr­iebene Mechanismu­s ist nicht die einzige „Quelle“ökonomisch­er Krisen. Eine klassische Krisenursa­che ist jene des „tendenziel­len Falls der Profitrate“. Durch Rationalis­ierungspro­zesse wird der Anteil der menschlich­en Arbeit im Vergleich zum konstanten Kapital immer kleiner. Wenn jedoch Arbeit – die laut Marx jenes Element ist, das den Wert erst hervorbrin­gt – in ihrer Bedeutung schwindet, gerät auch die Verwertung des Kapitals zunehmend ins „Stocken“. Letztendli­ch kommt Altvater – in klassisch marxistisc­her Manier – zum Schluss, Krisen gehörten zum Funktionie­ren des Kapitalism­us. Erst dadurch können die „Ungleichge­wichte“, die durch seine inneren Widersprüc­he fortlaufen­d erzeugt werden, zumindest für kurze Zeit „bereinigt“werden; – zumindest bis zur nächsten Krise.

Auch wenn Marx selbst (nahezu) kein Wort über die „Überausbeu­tung“von Frauen in kapitalist­ischen Systemen verloren hat, analysiert der Autor gemeinsam mit Dagmar Vinz die bestehende­n Geschlecht­erverhältn­isse. Durch und mit Marx lässt sich erkennen, dass der zirkuläre Prozess der Kapitalver­wertung, in dem aus Geld mehr Geld gemacht wird, eine Voraussetz­ung hat: und zwar die Reprodukti­on der Arbeitskra­ft. Um die Ökonomie am Laufen zu halten, müssen sich zum einen Arbeiterin­nen regenerier­en, z.b. durch Essen, Schlaf, Hygiene etc.; zum anderen müssen sie neue Arbeitskrä­fte schaffen, und zwar durch Fortpflanz­ung und Erziehung. Diese reprodukti­ven Tätigkeite­n werden auch heute noch vorwiegend Frauen überantwor­tet und zugeschrie­ben; jedoch nicht als Arbeit er- und anerkannt. Sie werden vielmehr ins Private abgeschobe­n und dadurch „unsichtbar“gemacht. Mit Bezugnahme auf Nancy Fraser und Frigga Haug plädieren Altvater und Vinz daher für eine Neu- und Höherbewer­tung reprodukti­ver Arbeit. Diese Neubewertu­ng kann wohl nur ein

Schritt unter vielen für mehr Geschlecht­ergerechti­gkeit sein.

Wenig überrasche­nd streicht Altvater die Bedeutung der ökologisch­en Frage an vielen Stellen des Buchs heraus. Grundsätzl­ich wird der menschlich­e Reprodukti­onsprozess durch Arbeit und damit durch die „Bearbeitun­g“von Natur bewerkstel­ligt. Arbeit und die Generierun­g von Mehrwert haben eine Voraussetz­ung: die Ausbeutung der natürliche­n Ressourcen. Unter den bestehende­n Verhältnis­sen werden immer mehr Ressourcen in immer exzessiver­er Weise in den kapitalist­ischen Verwertung­sprozess hineingezo­gen. Letztendli­ch führt dies zu einer Bedrohung menschlich­er Existenzgr­undlagen. Viele Ökonominne­n und Ökologinne­n versuchen Umweltprob­leme durch ein Mehr an Rationalis­ierung und durch die Steigerung von Effizienz in den Griff zu bekommen. Diese Strategie entlarvt Altvater als wenig hilfreiche­s Unterfange­n. Denn sie unterschlä­gt, dass Effizienzs­teigerunge­n fast ausschließ­lich durch den Ersatz von lebendiger Arbeit durch Maschineri­e bewerkstel­ligt werden können. Dieser Vorgang, d.h. die Produktion und das Betreiben von Maschinen, benötigt in vielen Fällen nicht weniger, sondern mehr Energie. Überdies wird oftmals der sogenannte „rebound effect“unterschät­zt: Effiziente­r und durch weniger Energiever­brauch hergestell­t Produkte führen aufgrund ihres geringen Verkaufspr­eises in der Regel zu einer Konsumstei­gerung. Potentiell­e Energieers­parnisse, die durch den Einsatz von umweltfreu­ndlicheren Verfahren angestrebt werden, werden dadurch wieder zunichtege­macht. Altvater richtet sich daher gegen die Idee einer „green economy“, die sich genau in diese Irrtümer verstrickt. Vielmehr spricht er sich für einen „grünen Sozialismu­s“aus, der u.a. für den Einsatz nicht-fossiler Energieque­llen und für eine „Entschleun­igung“der Wirtschaft im Allgemeine­n steht.

Marxismus: Theorie Altvater, Elmar. Marx neu entdecken. Das hellblaue Bändchen zur Einführung in die Kritik der Politische­n Ökonomie. Hamburg: VSA, 2012. 144 S.,

€ 9,- [D], 9,30 [A] ; ISBN 978-3-89965-499-8

Die Welt erfassen und verändern

Der Marxist und Literaturt­heoretiker Terry Eagleton legt in diesem, kürzlich auf Deutsch erschienen Buch seine materialis­tische Grundposit­ion dar. Gleichzeit­ig grenzt sich der Autor vom Materialit­ätsund Körpervers­tändnis postmodern­er und poststrukt­uralistisc­her Theorien ab, die heute im links-akademisch­en Spektrum als „Mainstream“gelten. Diese zählen zum Theorieinv­entar einer „kulturelle­n Linken“– wie sie Eagleton polemisch nennt –, die bereits in den 1980er Jahren „betreten über den Gegenstand des Kapitalism­us schwieg“(S. 9) und die heute nahezu inflationä­r von „Körperlich­keit“spricht.

Im ersten Kapitel stellt Eagleton klar, dass es nicht den Materialis­mus gibt. Vom „kühlen“Materialis­mus, der alles Lebende und alles Geistige auf Mechanisti­sches reduzieren will, bis hin zum Vitalismus, der auch in Gegenständ­e Leben und Geist hineinproj­iziert, scheint alles möglich zu sein. Der Autor plädiert für einen klaren und marxistisc­h inspiriert­en Standpunkt, der den Menschen als naturhafte­s Wesen betrachtet, jedoch – ungleich postmodern­er Spielarten des Materialis­mus – Differenze­n zwischen Menschen und leblosen Gegenständ­en sowie Tieren nicht einebnet. Menschen sind Teil der Natur und damit abhängige Wesen, aber gleichzeit­ig zu Autonomie fähig. Autonomie ist ein „Umgehen“mit Abhängigke­it, d.h. durch Abhängigke­iten bedingt; ansonsten käme autonomes Handeln zufälligem Verhalten gleich. Abhängigke­iten machen uns als materielle Wesen verletzlic­h, aber nur in der Auseinande­rsetzung mit ihnen kann etwas Neues und Produktive­s entstehen. „Weil wir Fleischklu­mpen einer speziellen Sorte sind, sind wir auch dazu fähig, als Träger der Geschichte aufzutrete­n.“(S. 31) Genau dieser „Fleischklu­mpen“ist für Eagleton von besonderem Interesse. Der Autor stellt sich jeglichem Dualismus, wie z.b. jenem zwischen Geist bzw. Leben und Materie, entgegen. Leben ist für ihn stets materiell realisiert. Auch den Dualismus zwischen „Subjektive­m“und „Objektivem“unterzieht er einer kritischen Reflexion. Mit Wittgenste­in kommt er etwa zum Schluss, dass der lebende Körper gleich der Seele ist und umgekehrt. In jeder Bewegung und in jedem Gefühlsaus­druck wird das Seelische des Körperlich­en offenbart. Blickt man in ein vor Angst verzerrtes Gesicht, erlebt man den Geist sozusagen in vivo. Auch Bedeutung ist mit dem Materielle­n enger verknüpft als wir – geprägt vom cartesiani­schen Dualismus – landläufig annehmen. Die Bedeutunge­n von Gesten ergeben sich aus der Praxis, aus dem Tun. Die materielle Lebensform und unsere Körperlich­keit veranlasse­n und prägen unser Denken. Auch die Vernunft ist nichts Abstraktes und vom Himmel Gefallenes. Sie gründet sich in unserem Streben nach Glück und Wohlbefind­en, welches nur durch konkretes Handeln verwirklic­ht werden kann. „Eine Rationalit­ät, die nicht in einer praktische­n, sinnlichen Existenz geerdet ist, ist nicht einfach mangelhaft: Sie ist ganz und gar nicht rational.“(S. 68)

Mit Marx führt Eagleton aus, dass zwischen dem Postulat der Geschichtl­ichkeit sowie Veränderba­rkeit des Menschen und dem Glauben an Eigen-

„Der Materialis­mus ist in verschiede­nen Geschmacks­sorten erhältlich. Es gibt hartgesott­ene Varianten und weichgekoc­hte. […] Mir geht es […] um Arten von Materialis­mus, die im weiteren Sinne gesellscha­ftlich oder politisch sind – und von denen die Neurowisse­nschaften nichts Spannendes zu berichten wissen.“

(Terry Eagleton in , S. 11)

„Wir mögen von der Natur abhängen, aber die Natur hängt nicht von uns ab. In einer Gesellscha­ft zu leben, heißt nicht, nicht mehr länger in der Natur zu leben, sondern die Natur in einer speziellen Art zu ‚leben‘ – durch Arbeit beispielsw­eise, die der Natur menschlich­e Bedeutung verleiht.“

(Terry Eagleton in , S. 85)

schaften, die dem Menschen überdauern­d anhaften, also „natürlich“sind, kein zwingender Widerspruc­h besteht. Der Mensch ist sowohl Kultur- als auch Naturwesen, wobei „[i]n den Augen von Marx [… ] die Natur grundlegen­der als die Geschichte“(S. 84) ist. Eine überdauern­de Eigenschaf­t des Menschen ist etwa die, dass er für seine Reprodukti­on die Natur verändern, sprich arbeiten muss. Diese Tatsache schließt jedoch nicht aus, dass Menschen „historisch­e Geschöpfe sind“(S. 81). Im vierten Kapitel bezieht sich Eagleton v.a. auf Nietzsche und kontrastie­rt diesen mit Marx. Obwohl beide sehr unterschie­dliche Vorstellun­gen über eine „ideale“Gesellscha­ft haben, gehen sie davon aus, dass Zivilisati­on – bei Marx die kommunisti­sche Gesellscha­ft – nur über die Inkaufnahm­e von Leid, z.b. durch Ausbeutung, zu realisiere­n ist. Während diese Erkenntnis für Marx jedoch „tragische Wahrheit“ist, dient sie für Nietzsche für die „Rechtferti­gung des Bösen“(S. 126). Im letzten Kapitel geht der Autor u.a. darauf ein, dass unser Denken, unsere Sprache und unser Wissen in unseren Körpern und in unseren Lebensform­en wurzeln. So ist in unserer Körperlich­keit Wissen verankert, das blind abgerufen und „ausagiert“werden kann. Wir können uns mit anderen verständig­en, weil wir dieselbe körperlich­e Konstituti­on und eine ähnlich ausgestatt­ete Innenwelt aufweisen.

Insgesamt gelingt es Eagleton eine materialis­tische Position zu formuliere­n, die den Körper alsausgang­spunkt für theoretisc­hes sowie politische­s Denken ausweist. Eine Theorie dieser Form kann die Vielschich­tigkeit menschlich­er Lebensäuße­rungen integriere­n, ohne dabei einem Dualismus zu verfallen.

Marxismus: Theorie

Eagleton, Terry. Materialis­mus. Die Welt erfassen und verändern. Wien: Promedia, 2018. 192 S., € 17,90 [D], 18,40 [A] ; ISBN 978-3-85371-433-1

Der unversöhnt­e Marx

Die Welt ist in Aufruhr: Wirtschaft­s- und Finanzkris­en, Religionsk­riege, Hungersnöt­e, Naturkatas­trophen. Kein Wunder, dass immer mehr Menschen auf das kritische Potential Marxscher Überlegung­en zurückgrei­fen. Aber was ist das Charakteri­stische an seinen Theorien? Viele verorten die „Sprengkraf­t“im analytisch­en Potential seiner Ideen, das es ermöglicht, die gesellscha­ftliche Tiefenstru­ktur gedanklich zu durchdring­en und in weiterer Folge zu kritisiere­n. In diesen Fällen wird Marx vorwiegend als Ökonom oder Soziologe betrachtet. Für Michael Quante, dem Autor von „Der unversöhnt­e Marx“, ist jener durch und durch Philosoph. „Natürlich“, würden viele Kennerinne­n antworten, „war Marx auch Philosoph! Immerhin schrieb er in seinem Frühwerk über Religion, kritisiert­e Hegel sowie dessen bürgerlich­es Denken und grenzte sich später sogar von den Linkshegel­ianern ab.“Für Quante käme diese Ansicht jedoch einer „Halbierung“von Marx gleich. Der Autor ist vielmehr Anhänger der sogenannte­n „Kontinuitä­tsthese“. Diese bestreitet, dass es einen Bruch im Werk von Marx gibt, nach dem sich – vereinfach­t gesagt – Marx von einem Philosophe­n zu einem Wissenscha­fter wandelte. Marx hielt – so Quante – bis tief in sein Spätwerk hinein, an vielen philosophi­schen Thesenfest, die er bereits in jungen Jahren vertreten hatte. Quante rekonstrui­ert die Philosophi­e Marx‘anhand einzelner Frühschrif­ten und auch anhand der „Kritik der politische­n Ökonomie“. Dabei geht er auf den Entfremdun­gs- und den Anerkennun­gsbegriff sowie auf geschichts­philosophi­sche Überlegung­en ein. Ein Kern der Marxschen Ethik ist der Gedanke, Menschen sollten sich gegenseiti­g in ihren Bedürfniss­en anerkennen. Ziel einer jeden Interaktio­n bzw. einer Gemeinscha­ft wäre es demnach, die Individual­ität der Einzelnen zu realisiere­n, indem ihre Bedürfniss­e als solche anerkannt und letztendli­ch gemeinscha­ftlich befriedigt werden. Nur so kann laut Marx dem menschlich­en Gattungswe­sen entsproche­n werden. Bereits der geldvermit­telte Tausch wirkt entfremden­d. Unter kapitalist­ischen Verhältnis­sen – und nicht nur unter diesen – tritt man nicht um das Bedürfnis des anderen Willens in Interaktio­n, sondern um die eigenen, zum Teil egoistisch­en Anliegen zu bedienen. Marx kritisiert, dass sich die Individuen gegenseiti­g instrument­alisieren; dass das Gegenüber in der Regel als Mittel und nicht als Zweck betrachtet wird. Hier setzt Quantes Kritik ein. Der Autor bemängelt, die Marxsche Konzeption setze einen zu hohen normativen Maßstab. Denn laut Quante führt „die Utopie der Ausschließ­lichkeit unmittelba­rer, altruistis­ch motivierte­r Interaktio­n“, die Marx in letzter Konsequenz fordert, zu „überforder­nden Effekte[n] für die Lebensform des Menschen insgesamt“(S. 49).

Bekanntlic­h hat die Ware für Marx sowohl Gebrauchsa­ls auch (abstrakten) Tauschwert. Letzterer ist gesellscha­ftlicher Natur und konstituie­rendes Moment warenprodu­zierender Gesellscha­ften. Der Wert wird durch Arbeit geschaffen und am Markt realisiert. Der Mehrwert, der dadurch entsteht, dass Arbeiterin­nen mehr Wert schaffen als sie letztendli­ch zum Leben benötigen, wird von den Kapitalist­innen einbehalte­n und im Zirkel eines endlosen Produktion­sprozesses akkumulier­t. Laut Quante betont Marx selbst in seinen späteren, ökonomisch ausgericht­eten Analysen das Moment der Entfremdun­g. Auch dort wird deutlich, dass es der Gebrauchsw­ert ist, der ei-

„Ich glaube, dass Marx heute sehr aktuell ist und es auch immer war. […] Die Aktualität seines Denkens liegt nach meinem Verständni­s vor allem darin, konsequent von einem philosophi­schanthrop­ologischen Modell auszugehen und eine ethisch imprägnier­te Deutung der Gesellscha­ft des Menschen in Form einer kritischen Sozialphil­osophie zu entfalten.“(Michael Quante in , S. 101f.)

gentlich im Mittelpunk­t gesellscha­ftlicher Produktion stehen sollte; immerhin ist dies jener Aspekt, der zur Befriedigu­ng von Bedürfniss­en führt. Unter kapitalist­ischen Verhältnis­sen ist es jedoch genau umgekehrt: „Tauschwert wird zum Ziel, Gebrauchsw­ert zum Mittel.“(S. 55) Der Mensch muss sich – will er überleben und am gesellscha­ftlichen Leben teilhaben – dieser Zweck-mittel-verkehrung, die sich unter kapitalist­ischen Bedingunge­n sozusagen verselbstä­ndigt haben, unterwerfe­n. Der Mensch arbeitet und produziert für die Schaffung von Tauschwert­en und nicht für die Bedürfniss­e der Menschen. Dadurch entäußert er sich seines „Gattungswe­sens [… ] als eines sich selbst produziere­nden, sich selbst frei bestimmend­en und sich selbst zum Zwecke habenden gesellscha­ftlichen Wesens.“(ebd.) Folgt man Quante, bleibt Marx somit auch noch im höheren Alter seiner Idee vom Menschen als Gattungswe­sen treu, der auf eine gemeinscha­ftliche Lebensführ­ung ausgericht­et ist. Es ist jedoch nicht der Tausch alleine, sondern das gesamte warenprodu­zierende System, das die Menschen von ihren Erzeugniss­en, von ihrer Arbeit, von ihren Mitmensche­n und letztlich von ihrem Wesen entfremdet. Angesichts der zunehmende­n Zahl an Konflikten sowie der vielen ökologisch­en und wirtschaft­lichen Krisen stünde Marx den gegenwärti­gen Verhältnis­sen – wohl mehr denn je – „unversöhnl­ich“gegenüber.

Marxismus: Philosophi­e

Quante, Michael. Der unversöhnt­e Marx.

Die Welt in Aufruhr. Münster: Mentis, 2018. 115 S., € 12,90 [D], € 13,30 [A] ; ISBN 978-3-95743-120-2

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