Marx heute
Karl Marx, dessen 200. Geburtstag am 5. Mai 2018 begangen wurde, ist aktueller denn je. Davon zeugen nicht nur viele Veranstaltungen sondern auch viele Publikationen, die neue Perspektiven auf sein Werk eröffnen. Dominik Gruber stellt fünf davon vor.
Karl Marx, dessen 200. Geburtstag am 5. Mai 2018 begangen wurde, ist aktueller denn je. Davon zeugen viele Veranstaltungen, die sich in den letzten Jahren immer wieder mit seinem analytischen, philosophischen aber auch politischen Erbe beschäftigten, aber auch zahlreiche Veröffentlichungen, die neue Perspektiven auf sein Werk werfen oder gar versuchen, dieses weiterzuentwickeln. Fünf Bücher, die sich explizit auf Marx und seine Theorien beziehen, stellt Dominik Gruber vor: Michael Quante und Terry Eagleton setzten sich v.a. mit philosophischen Aspekten seines Werkes auseinander. Der unlängst verstorbene Elmar Altvater und Timo Daum fokussieren vorwiegend auf die eher ökonomisch orientierten Untersuchungen und versuchen, diese für die Analyse gegenwärtiger Entwicklungen und Probleme nutzbar zu machen. Die Autorinnen in „RE. Das Kapital“greifen zum Teil sehr unterschiedliche Elemente des Marxschen Werkes auf. Die Beiträge dieses Sammelbandes reichen von ausgesprochenen „textexegetischen“Betrachtungen bis hin zu Analysen, die die politischen Implikationen seiner Überlegungen in den Vordergrund stellen.
RE: Das Kapital
Der Band „Re: Das Kapital. Politische Ökonomie im 21. Jahrhundert“versammelt Beiträge bekannter Persönlichkeiten aus Wissenschaft und Politik, die das Ziel verfolgen, das Werk von Karl Marx auf ihre Aktualität und ihre Brauchbarkeit hin zu prüfen. Dieses Vorhaben lohnt sich, das verdeutlicht Herausgeber Mathias Greffrath im ersten Aufsatz des Sammelbandes selbst. Er vertritt u. a. die These, die Marxsche Theorie vermöge ihre Leserinnen von jeglichen „Flusen der Vulgärökonomie“(S. 26) zu befreien. Fünf weitere Beiträge dieses Buches sollen kurz vorgestellt werden.
Für die meisten Kommentatorinnen der Marxschen Analyse kapitalistischer Verhältnisse bildet die Ware und ihr „Doppelcharakter“von Gebrauchs- und Wertgegenstand den Ausgangspunkt. John Holloway stellt dem entgegen, dass im ersten Satz von „Das Kapital“nicht nur von Waren, sondern auch vom Reichtum die Rede ist. Für Holloway ist es der Reichtum und sein Spannungsverhältnis zur Ware und ihrer kapitalistischen Produktion, die an den Beginn der Analyse kapitalistischer Verhältnisse gestellt werden sollten. Reichtum – und das deutet Marx bereits im ersten Band an – erschöpft sich nicht in der Warenform. Zum menschlichen Reichtum zählen auch Dinge wie Kreativität, schöpferisches Potential, Solidarität und Liebe. Diese lassen sich nicht unter das Wert- und Warenprinzip subsumieren und bilden – so Holloway – den Ausgangspunkt für eine potentielle Bewegung, die sich früher oder später gegen die totale kapitalistische Vereinnahmung stellen wird.
Hans-werner Sinn betrachtet Marx u.a. als wichtigen Theoretiker der Makro- und Krisentheorie. Zum einen legte Marx in seinem Werk einige Grundlagen der volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung und der Wachstumstheorie dar. Zum anderen bereitete Marx durch seine Überlegungen zur Unterkonsumtion und damit einhergehenden Krisen die Theorien von John Maynard Keynes vor. Sinn bringt das Marxsche „Gesetz vom tendenziellen Fall der Profitrate“mit der heute aktuellen Theorie der „sekundären Stagnation“in Verbindung. Beiden ist die Annahme gemeinsam, dass die durchschnittliche Rentabilität insgesamt gefallen und die Wirtschaft dadurch zunehmend ins „Stottern“geraten ist. Sinn macht für diese Entwicklung die Politik der Zentralbanken verantwortlich, die durch ihre Rettungs- und Zinspolitik die Erneuerungskraft des Kapitalismus zunichtemachen.
Der Beitrag von Sahra Wagenknecht zeichnet einige Tendenzen kapitalistischer Entwicklung nach und versucht diese in die Zukunft zu „extrapolieren“. Ein Beispiel hierfür ist Marx’ Annahme, dass sich das Kapital zunehmend konzentriert. D.h., durch die zunehmende Rationalisierung und den zunehmenden Einsatz von Kapital durch Investitionen in Technologie entstehen immer größere Unternehmen, gegen die andere nicht mehr konkurrenzfähig sind. Tatsächlich ist Wagenknecht der Überzeugung, dass sich diese Entwicklung mehr und mehr bewahrheitet. In vielen Branchen entstehen immer größere und kapitalintensivere Konzerne, die große Marktanteile an sich binden. Daraus folgert Wagenknecht, dass die Wirtschaft immer mehr stagniert, die Konzerne würden aufgrund mangelnder Konkurrenz weniger innovativ und damit „träge“. David Harvey stellt heraus, dass der Kapitalismus nicht nur in seinem konstituierenden Prozess der Kapitalakkumulation, d.h. der Anhäufung von Wert, sondern auch in den vielen Erscheinungen der Wertvernichtung betrachtet werden muss. Er nennt die ständig drohende Vernichtung von Wert „Antiwert“. Für ihn ist Kapitalismus als Wechselspiel von Wert und „Anti-wert“zu begreifen; sobald der Prozess, in dem aus Geld mehr Geld gemacht wird, ins „Stottern“gerät oder gar zum Stillstand kommt wird Kapital vernichtet. Letzteres ist jedoch wiede-
„Man läuft nach Marx-lektüren gleichsam mit einem gewaschenen Gehirn herum, die Flusen der Vulgärökonomie sind weggewaschen.“(Mathias Greffrath in 87 , S. 26)
rum notwendig um neue Wachstumsschübe zu initiieren. Die Relevanz des „Anti-werts“zeigt sich für Harvey auch im Phänomen der Schulden, die u.a. für die Möglichkeit zur Investition und damit für den Akkumulationsprozess unentbehrlich sind, jedoch stets auch auf die Gefahr einer Krise verweisen. Eine kapitalismuskritische Ausrichtung sollte eine „direkte Politik des Anti-werts“sein. Damit meint Harvey die aktive und bewusste „Negation des kapitalistischen Wertgesetzes“(S. 203). Noch bestehende und teilweise neu entstehende nicht- kapitalistische „Inseln“, wie z.b. die in weiten Teilen nach wie vor gemeinschaftlich organisierte Hausarbeit ebenso wie Projekte solidarischer Ökonomie, könnten als Ausgangspunkte einer solchen Politik fungieren.
Den Abschluss des Sammelbandes bildet ein Aufsatz von Étienne Balibar. Er stellt fest, ein zentraler Aspekt des politischen Werks von Marx, und zwar die Idee der revolutionären Umwälzung der gesellschaftlichen Verhältnisse, sei nicht der Schlusspunkt des ersten Bandes seines Hauptwerks „Das Kapital“. Stattdessen „verstecke“Marx die politischen Konsequenzen seiner Überlegungen im „Inneren“seines Werkes. Diese kämen etwa im vorletzten Kapitel des ersten Bandes weit besser zur Geltung. Balibar interpretiert dieses Detail als ein Indiz dafür, dass Marx selbst sein Werk als „unabgeschlossen“betrachtete und aus ihm vielerlei Konsequenzen gezogen werden können. Darum setzte er – meint Balibar – das Politische absichtsvoll nicht an das Ende des ersten Bandes. Als Beispiel zieht er die These der „Expropriation der Expropriateure“heran, die – je nach Textfragment – unterschiedlich, einmal „revolutionär“und ein anderes Mal „reformistisch“, gelesen werden kann. Das bedeute: Auch wenn Marx als Revolutionär bestimmte politische Strategien vorschlug, so lasse sein geschriebenes Werk dennoch mehrere politische Wege offen. Kapitalismuskritik: Marx
87 RE: Das Kapital. Politische Ökonomie im 21. Jahrhundert. Hrsg. v. Mathias Greffrath. München: Kunstmann, 2017. 240 S., € 22,- [D], 22,70 [A] ISBN 978-3-95614-172-0
Das Kapital sind wir
Timo Daum, derautor dieser Nautilus-flugschrift, deren Titel an jenen des Marxschen Hauptwerkes erinnert, erteilt allen Prognosen eine Absage, die den Kapitalismus auf sein Ende zusteuern sehen. Vielmehr nimmt Daum an, dass sich der Kapitalismus zum wiederholten Male transformiert und sich dabei intensiviert. Durch neue, internetbasierte Technologien gelingt es diesem, uns immer weiter in den Sog der Kapitalakkumulation hineinzuziehen. Heute leben wir – so Daum – im Zeitalter der digitalen Waren und damit im „digitalen Kapitalismus“. Es sind v.a. die informationsverarbeitenden Technologien und Algorithmen, die das Fortbestehen kapitalistischer Verhältnisse sichern. Durch die rasant fortschreitende Technologie-entwicklung kommt es jedoch in immer kürzeren Abständen zu wirtschaftlichen Disruptionen. Das bedeutet, auch große Unternehmen und Konzerne sind einem hohen Innovationsdruck ausgesetzt und verschwinden dementsprechend auch so schnell, wie sie aufgetaucht sind.
Es sind nicht nur die Innovationen in der Produktionsweise, sondern auch die digitalen Waren selbst, die durch ihre Eigenschaften den Kapitalismus transformieren. Digitale Waren – Musik, Filme, Apps, Programme, Berichterstattung etc. – sind nahezu zum Nulltarif vervielfältigbar. Ihre Grenzkosten tendieren gegen Null. Information und Wissen bringen jedoch nur dann hohe Gewinne, wenn sie auf verschiedene Weise „eingezäunt“und monopolisiert werden. Dominante „Internet-riesen“wie Google zeugen von diesem Mechanismus. Sie versuchen immer mehr digitale Angebote an sich zu reißen. Aspekte der angesprochenen Transformation lassen sich auch anhand der Sharing-ökonomie nachzeichnen. Diese setzt traditionelle Angebote ebenfalls vermehrt unter Druck. Daum geht davon aus, dass in naher Zukunft die „Stromriesen“ins Hintertreffen geraten werden; und zwar durch die Erzeugung von Strom in sog. „Prosumer-plattformen“, bei der eine Vielzahl von Privatpersonen selbst erzeugte und erneuerbare Energie in ein „Peer-to-peer-netzwerk“einspeisen. Jedes Projekt im Bereich der Sharing-ökonomie ist jedoch selbst gefährdet kapitalistisch „eingehegt“zu werden. Plattformen wie Uber oder Airbnb überformen den Sharing-gedanken. Sie nutzen privates Eigentum, wie den privaten PKW oder die eigene Wohnung zur Akkumulation von Kapital. In der Regel auf Kosten anderer, wie der privaten „Taxifahrer“bei Uber, die sich selbst um einen Spottpreis verkaufen.
Die Digitalisierung trägt noch andere „Früchte“. Hinter vielen Technologien liegen immer komplexere und damit undurchsichtigere Algorithmen. Wir sind auf immer mehr digitale Prozesse angewiesen, die wir nicht (mehr) durchschauen. Die Verortung und Zuschreibung von Verantwortung wird dadurch immer schwieriger. Aber nicht nur das: Auf der Grundlage von Algorithmen werden wir selbst und unsere Identitäten zudem immer mehr zu Waren. Unternehmen wie Google und Facebook sammeln automatisiert eine riesige Menge von Daten, die sie in kapitalistischer Manier – u.a. durch individuell zugeschnittene Werbung – verwerten. Die dafür notwendigen Inhalte und Informationen er-
„Die Ziele und Kalküle von Algorithmen müssen diskutiert werden, es sollte möglich sein, jeden Code und seinen Kontext aus Daten, Regeln, In- und Outputs zum Gegenstand gesellschaftlicher Debatte zu machen: Wir brauchen eine algorithmische Alphabetisierung.“(Timo Daum in 88 ,S. 240)
„Der ‚Sieg im Kalten Krieg' hat den kapitalistischen Kräften […] freie Bahn geschaffen. […] Doch die Euphorie des Endes der Geschichte währte nicht lange. Denn die Entwicklung führte ‚alternativlos' immer sichtbarer in die Sackgasse der Krise des gesellschaftlichen Naturverhältnisses, in die Energie-, Klima-, Ernährungskrise und in die schwerste Finanz- und Wirtschaftskrise in der Geschichte des Kapitalismus. Eine ‚Große Transformation' steht tatsächlich an." (Elmar Altvater in 89 , S. 134f.)
zeugen wir selbst und zwar kostenlos. Das bedeutet: Wir sind in diesen Verwertungsprozess so stark verstrickt wie nie zuvor. Daum behauptet daher wohl zu Recht: „Der Kapitalismus ist keine fremde, uns knechtende Macht: Wir selbst sind der Kapitalismus.“(S. 123) Das zeigt sich auch in unserem Arbeitsleben. Arbeit „entgrenzt“sich zunehmend. Und das zeigt sich darin, dass wir in der Freizeit immer mehr auf die Verwertung unserer eigenen Person „schielen“; alles kann heute zum potentiellen Wettbewerbsvorteil werden. Selbstoptimierung steht auf der Tagesordnung, fast rund um die Uhr. Jedes Individuum wird zum „Unternehmer seiner selbst“und lässt sich – sowohl als Produzent als auch als Konsument von Information – in den „digitalen Kapitalismus“perfekt einpassen. Im „Eiltempo“beschreibt Daum eine Vielzahl aktueller gesellschaftlicher Entwicklungen. Gleichzeitig benennt er ihre tiefsitzenden Probleme, die der Grundstruktur des Kapitalismus, aber auch der neu entstehenden digitalen Ökonomie geschuldet sind. Ein Modell, das zumindest einige Auswüchse des Kapitalismus eindämmen könnte und mittlerweile auch von Vertreterinnen der Wirtschaft angepriesen wird, ist das bedingungslose Grundeinkommen (BGE). Für Daum bricht das BGE jedoch nicht mit der kapitalistischen Logik. Der Großteil unseres Daseins, seien es unsere sozialen Kontakte oder unsere Grundbedürfnisse, bleibt auch unter dem BGE geld- und wertvermittelt. Ein bedürfnisorientiertes Wirtschaften sei auch mit einem Grundeinkommen nicht zu haben. Darum plädiert derautor für nahezu klassisch sozialistische Forderungen, wie etwa für eine allgemeine und kostenlose Grundversorgung. Was die Sphäre der Information betrifft, spricht sich Daum für mehr Transparenz aus. Die Entscheidung darüber, wie und wofür digitale Daten eingesetzt und verwendet werden, soll nicht privaten Unternehmen überlassen, sondern vielmehr demokratischen Prozessen unterworfen werden.
Kapitalismuskritik: Digitalisierung Daum, Timo. Das Kapital sind wir. Zur Kritik der digitalen Ökonomie. Hamburg: Ed. Nautilus, 2017. 272 S. (Nautilus Flugschrift), € 18,- [D], 18,50 [A]
ISBN 978-3-96054-058-8
Marx neu entdecken
Das Buch „Marx neu entdecken“von Elmar Altvater bietet eine dichte und kenntnisreiche Einführung in die Theorie und Philosophie von Karl Marx (und von Friedrich Engels). Im Zentrum steht – wenig überraschend – die „Kritik der politischen Ökonomie“, die Marx v. a. in seinem Hauptwerk „Das Kapital“ausformulierte. Altvater skizziert eine Vielzahl von Begriffen der Marxschen Theorie, wie z.b. Ware, Arbeit, Geld und Fetisch, ohne jedoch in zu abstrakte sprachliche „Sphären“abzugleiten. Dieses Buch bietet – trotz seiner Kürze – aber auch noch mehr: Der Autor versucht zahlreiche Gedanken der Marxschen Theorie für aktuelle gesellschaftliche Fragestellungen und Probleme fruchtbar zu machen.
Auf der Grundlage der Marxschen These, nur im und durch den Produktionsprozess – d. h. durch Arbeit und Ausbeutung – werde Wert und Mehrwert geschaffen, analysiert Altvater den gegenwärtigen „finanzgetriebenen Kapitalismus“. Die (spekulativen) Gewinne, die auf den Finanzmärkten generiert werden, können durch den Wert, der im Produktionsprozess entsteht, nicht „eingeholt“werden. Es entsteht eine immer breiter klaffende Lücke zwischen produziertem Wert und den Massen an „fiktivem Kapital“auf den Finanzmärkten. Die monetäre Sphäre verliert vermehrt an „Bodenhaftung“. Dies führt – früher oder später – zum wirtschaftlichen Crash. Dieser finanzgetriebene Mechanismus ist nicht die einzige „Quelle“ökonomischer Krisen. Eine klassische Krisenursache ist jene des „tendenziellen Falls der Profitrate“. Durch Rationalisierungsprozesse wird der Anteil der menschlichen Arbeit im Vergleich zum konstanten Kapital immer kleiner. Wenn jedoch Arbeit – die laut Marx jenes Element ist, das den Wert erst hervorbringt – in ihrer Bedeutung schwindet, gerät auch die Verwertung des Kapitals zunehmend ins „Stocken“. Letztendlich kommt Altvater – in klassisch marxistischer Manier – zum Schluss, Krisen gehörten zum Funktionieren des Kapitalismus. Erst dadurch können die „Ungleichgewichte“, die durch seine inneren Widersprüche fortlaufend erzeugt werden, zumindest für kurze Zeit „bereinigt“werden; – zumindest bis zur nächsten Krise.
Auch wenn Marx selbst (nahezu) kein Wort über die „Überausbeutung“von Frauen in kapitalistischen Systemen verloren hat, analysiert der Autor gemeinsam mit Dagmar Vinz die bestehenden Geschlechterverhältnisse. Durch und mit Marx lässt sich erkennen, dass der zirkuläre Prozess der Kapitalverwertung, in dem aus Geld mehr Geld gemacht wird, eine Voraussetzung hat: und zwar die Reproduktion der Arbeitskraft. Um die Ökonomie am Laufen zu halten, müssen sich zum einen Arbeiterinnen regenerieren, z.b. durch Essen, Schlaf, Hygiene etc.; zum anderen müssen sie neue Arbeitskräfte schaffen, und zwar durch Fortpflanzung und Erziehung. Diese reproduktiven Tätigkeiten werden auch heute noch vorwiegend Frauen überantwortet und zugeschrieben; jedoch nicht als Arbeit er- und anerkannt. Sie werden vielmehr ins Private abgeschoben und dadurch „unsichtbar“gemacht. Mit Bezugnahme auf Nancy Fraser und Frigga Haug plädieren Altvater und Vinz daher für eine Neu- und Höherbewertung reproduktiver Arbeit. Diese Neubewertung kann wohl nur ein
Schritt unter vielen für mehr Geschlechtergerechtigkeit sein.
Wenig überraschend streicht Altvater die Bedeutung der ökologischen Frage an vielen Stellen des Buchs heraus. Grundsätzlich wird der menschliche Reproduktionsprozess durch Arbeit und damit durch die „Bearbeitung“von Natur bewerkstelligt. Arbeit und die Generierung von Mehrwert haben eine Voraussetzung: die Ausbeutung der natürlichen Ressourcen. Unter den bestehenden Verhältnissen werden immer mehr Ressourcen in immer exzessiverer Weise in den kapitalistischen Verwertungsprozess hineingezogen. Letztendlich führt dies zu einer Bedrohung menschlicher Existenzgrundlagen. Viele Ökonominnen und Ökologinnen versuchen Umweltprobleme durch ein Mehr an Rationalisierung und durch die Steigerung von Effizienz in den Griff zu bekommen. Diese Strategie entlarvt Altvater als wenig hilfreiches Unterfangen. Denn sie unterschlägt, dass Effizienzsteigerungen fast ausschließlich durch den Ersatz von lebendiger Arbeit durch Maschinerie bewerkstelligt werden können. Dieser Vorgang, d.h. die Produktion und das Betreiben von Maschinen, benötigt in vielen Fällen nicht weniger, sondern mehr Energie. Überdies wird oftmals der sogenannte „rebound effect“unterschätzt: Effizienter und durch weniger Energieverbrauch hergestellt Produkte führen aufgrund ihres geringen Verkaufspreises in der Regel zu einer Konsumsteigerung. Potentielle Energieersparnisse, die durch den Einsatz von umweltfreundlicheren Verfahren angestrebt werden, werden dadurch wieder zunichtegemacht. Altvater richtet sich daher gegen die Idee einer „green economy“, die sich genau in diese Irrtümer verstrickt. Vielmehr spricht er sich für einen „grünen Sozialismus“aus, der u.a. für den Einsatz nicht-fossiler Energiequellen und für eine „Entschleunigung“der Wirtschaft im Allgemeinen steht.
Marxismus: Theorie Altvater, Elmar. Marx neu entdecken. Das hellblaue Bändchen zur Einführung in die Kritik der Politischen Ökonomie. Hamburg: VSA, 2012. 144 S.,
€ 9,- [D], 9,30 [A] ; ISBN 978-3-89965-499-8
Die Welt erfassen und verändern
Der Marxist und Literaturtheoretiker Terry Eagleton legt in diesem, kürzlich auf Deutsch erschienen Buch seine materialistische Grundposition dar. Gleichzeitig grenzt sich der Autor vom Materialitätsund Körperverständnis postmoderner und poststrukturalistischer Theorien ab, die heute im links-akademischen Spektrum als „Mainstream“gelten. Diese zählen zum Theorieinventar einer „kulturellen Linken“– wie sie Eagleton polemisch nennt –, die bereits in den 1980er Jahren „betreten über den Gegenstand des Kapitalismus schwieg“(S. 9) und die heute nahezu inflationär von „Körperlichkeit“spricht.
Im ersten Kapitel stellt Eagleton klar, dass es nicht den Materialismus gibt. Vom „kühlen“Materialismus, der alles Lebende und alles Geistige auf Mechanistisches reduzieren will, bis hin zum Vitalismus, der auch in Gegenstände Leben und Geist hineinprojiziert, scheint alles möglich zu sein. Der Autor plädiert für einen klaren und marxistisch inspirierten Standpunkt, der den Menschen als naturhaftes Wesen betrachtet, jedoch – ungleich postmoderner Spielarten des Materialismus – Differenzen zwischen Menschen und leblosen Gegenständen sowie Tieren nicht einebnet. Menschen sind Teil der Natur und damit abhängige Wesen, aber gleichzeitig zu Autonomie fähig. Autonomie ist ein „Umgehen“mit Abhängigkeit, d.h. durch Abhängigkeiten bedingt; ansonsten käme autonomes Handeln zufälligem Verhalten gleich. Abhängigkeiten machen uns als materielle Wesen verletzlich, aber nur in der Auseinandersetzung mit ihnen kann etwas Neues und Produktives entstehen. „Weil wir Fleischklumpen einer speziellen Sorte sind, sind wir auch dazu fähig, als Träger der Geschichte aufzutreten.“(S. 31) Genau dieser „Fleischklumpen“ist für Eagleton von besonderem Interesse. Der Autor stellt sich jeglichem Dualismus, wie z.b. jenem zwischen Geist bzw. Leben und Materie, entgegen. Leben ist für ihn stets materiell realisiert. Auch den Dualismus zwischen „Subjektivem“und „Objektivem“unterzieht er einer kritischen Reflexion. Mit Wittgenstein kommt er etwa zum Schluss, dass der lebende Körper gleich der Seele ist und umgekehrt. In jeder Bewegung und in jedem Gefühlsausdruck wird das Seelische des Körperlichen offenbart. Blickt man in ein vor Angst verzerrtes Gesicht, erlebt man den Geist sozusagen in vivo. Auch Bedeutung ist mit dem Materiellen enger verknüpft als wir – geprägt vom cartesianischen Dualismus – landläufig annehmen. Die Bedeutungen von Gesten ergeben sich aus der Praxis, aus dem Tun. Die materielle Lebensform und unsere Körperlichkeit veranlassen und prägen unser Denken. Auch die Vernunft ist nichts Abstraktes und vom Himmel Gefallenes. Sie gründet sich in unserem Streben nach Glück und Wohlbefinden, welches nur durch konkretes Handeln verwirklicht werden kann. „Eine Rationalität, die nicht in einer praktischen, sinnlichen Existenz geerdet ist, ist nicht einfach mangelhaft: Sie ist ganz und gar nicht rational.“(S. 68)
Mit Marx führt Eagleton aus, dass zwischen dem Postulat der Geschichtlichkeit sowie Veränderbarkeit des Menschen und dem Glauben an Eigen-
„Der Materialismus ist in verschiedenen Geschmackssorten erhältlich. Es gibt hartgesottene Varianten und weichgekochte. […] Mir geht es […] um Arten von Materialismus, die im weiteren Sinne gesellschaftlich oder politisch sind – und von denen die Neurowissenschaften nichts Spannendes zu berichten wissen.“
(Terry Eagleton in , S. 11)
„Wir mögen von der Natur abhängen, aber die Natur hängt nicht von uns ab. In einer Gesellschaft zu leben, heißt nicht, nicht mehr länger in der Natur zu leben, sondern die Natur in einer speziellen Art zu ‚leben‘ – durch Arbeit beispielsweise, die der Natur menschliche Bedeutung verleiht.“
(Terry Eagleton in , S. 85)
schaften, die dem Menschen überdauernd anhaften, also „natürlich“sind, kein zwingender Widerspruch besteht. Der Mensch ist sowohl Kultur- als auch Naturwesen, wobei „[i]n den Augen von Marx [… ] die Natur grundlegender als die Geschichte“(S. 84) ist. Eine überdauernde Eigenschaft des Menschen ist etwa die, dass er für seine Reproduktion die Natur verändern, sprich arbeiten muss. Diese Tatsache schließt jedoch nicht aus, dass Menschen „historische Geschöpfe sind“(S. 81). Im vierten Kapitel bezieht sich Eagleton v.a. auf Nietzsche und kontrastiert diesen mit Marx. Obwohl beide sehr unterschiedliche Vorstellungen über eine „ideale“Gesellschaft haben, gehen sie davon aus, dass Zivilisation – bei Marx die kommunistische Gesellschaft – nur über die Inkaufnahme von Leid, z.b. durch Ausbeutung, zu realisieren ist. Während diese Erkenntnis für Marx jedoch „tragische Wahrheit“ist, dient sie für Nietzsche für die „Rechtfertigung des Bösen“(S. 126). Im letzten Kapitel geht der Autor u.a. darauf ein, dass unser Denken, unsere Sprache und unser Wissen in unseren Körpern und in unseren Lebensformen wurzeln. So ist in unserer Körperlichkeit Wissen verankert, das blind abgerufen und „ausagiert“werden kann. Wir können uns mit anderen verständigen, weil wir dieselbe körperliche Konstitution und eine ähnlich ausgestattete Innenwelt aufweisen.
Insgesamt gelingt es Eagleton eine materialistische Position zu formulieren, die den Körper alsausgangspunkt für theoretisches sowie politisches Denken ausweist. Eine Theorie dieser Form kann die Vielschichtigkeit menschlicher Lebensäußerungen integrieren, ohne dabei einem Dualismus zu verfallen.
Marxismus: Theorie
Eagleton, Terry. Materialismus. Die Welt erfassen und verändern. Wien: Promedia, 2018. 192 S., € 17,90 [D], 18,40 [A] ; ISBN 978-3-85371-433-1
Der unversöhnte Marx
Die Welt ist in Aufruhr: Wirtschafts- und Finanzkrisen, Religionskriege, Hungersnöte, Naturkatastrophen. Kein Wunder, dass immer mehr Menschen auf das kritische Potential Marxscher Überlegungen zurückgreifen. Aber was ist das Charakteristische an seinen Theorien? Viele verorten die „Sprengkraft“im analytischen Potential seiner Ideen, das es ermöglicht, die gesellschaftliche Tiefenstruktur gedanklich zu durchdringen und in weiterer Folge zu kritisieren. In diesen Fällen wird Marx vorwiegend als Ökonom oder Soziologe betrachtet. Für Michael Quante, dem Autor von „Der unversöhnte Marx“, ist jener durch und durch Philosoph. „Natürlich“, würden viele Kennerinnen antworten, „war Marx auch Philosoph! Immerhin schrieb er in seinem Frühwerk über Religion, kritisierte Hegel sowie dessen bürgerliches Denken und grenzte sich später sogar von den Linkshegelianern ab.“Für Quante käme diese Ansicht jedoch einer „Halbierung“von Marx gleich. Der Autor ist vielmehr Anhänger der sogenannten „Kontinuitätsthese“. Diese bestreitet, dass es einen Bruch im Werk von Marx gibt, nach dem sich – vereinfacht gesagt – Marx von einem Philosophen zu einem Wissenschafter wandelte. Marx hielt – so Quante – bis tief in sein Spätwerk hinein, an vielen philosophischen Thesenfest, die er bereits in jungen Jahren vertreten hatte. Quante rekonstruiert die Philosophie Marx‘anhand einzelner Frühschriften und auch anhand der „Kritik der politischen Ökonomie“. Dabei geht er auf den Entfremdungs- und den Anerkennungsbegriff sowie auf geschichtsphilosophische Überlegungen ein. Ein Kern der Marxschen Ethik ist der Gedanke, Menschen sollten sich gegenseitig in ihren Bedürfnissen anerkennen. Ziel einer jeden Interaktion bzw. einer Gemeinschaft wäre es demnach, die Individualität der Einzelnen zu realisieren, indem ihre Bedürfnisse als solche anerkannt und letztendlich gemeinschaftlich befriedigt werden. Nur so kann laut Marx dem menschlichen Gattungswesen entsprochen werden. Bereits der geldvermittelte Tausch wirkt entfremdend. Unter kapitalistischen Verhältnissen – und nicht nur unter diesen – tritt man nicht um das Bedürfnis des anderen Willens in Interaktion, sondern um die eigenen, zum Teil egoistischen Anliegen zu bedienen. Marx kritisiert, dass sich die Individuen gegenseitig instrumentalisieren; dass das Gegenüber in der Regel als Mittel und nicht als Zweck betrachtet wird. Hier setzt Quantes Kritik ein. Der Autor bemängelt, die Marxsche Konzeption setze einen zu hohen normativen Maßstab. Denn laut Quante führt „die Utopie der Ausschließlichkeit unmittelbarer, altruistisch motivierter Interaktion“, die Marx in letzter Konsequenz fordert, zu „überfordernden Effekte[n] für die Lebensform des Menschen insgesamt“(S. 49).
Bekanntlich hat die Ware für Marx sowohl Gebrauchsals auch (abstrakten) Tauschwert. Letzterer ist gesellschaftlicher Natur und konstituierendes Moment warenproduzierender Gesellschaften. Der Wert wird durch Arbeit geschaffen und am Markt realisiert. Der Mehrwert, der dadurch entsteht, dass Arbeiterinnen mehr Wert schaffen als sie letztendlich zum Leben benötigen, wird von den Kapitalistinnen einbehalten und im Zirkel eines endlosen Produktionsprozesses akkumuliert. Laut Quante betont Marx selbst in seinen späteren, ökonomisch ausgerichteten Analysen das Moment der Entfremdung. Auch dort wird deutlich, dass es der Gebrauchswert ist, der ei-
„Ich glaube, dass Marx heute sehr aktuell ist und es auch immer war. […] Die Aktualität seines Denkens liegt nach meinem Verständnis vor allem darin, konsequent von einem philosophischanthropologischen Modell auszugehen und eine ethisch imprägnierte Deutung der Gesellschaft des Menschen in Form einer kritischen Sozialphilosophie zu entfalten.“(Michael Quante in , S. 101f.)
gentlich im Mittelpunkt gesellschaftlicher Produktion stehen sollte; immerhin ist dies jener Aspekt, der zur Befriedigung von Bedürfnissen führt. Unter kapitalistischen Verhältnissen ist es jedoch genau umgekehrt: „Tauschwert wird zum Ziel, Gebrauchswert zum Mittel.“(S. 55) Der Mensch muss sich – will er überleben und am gesellschaftlichen Leben teilhaben – dieser Zweck-mittel-verkehrung, die sich unter kapitalistischen Bedingungen sozusagen verselbständigt haben, unterwerfen. Der Mensch arbeitet und produziert für die Schaffung von Tauschwerten und nicht für die Bedürfnisse der Menschen. Dadurch entäußert er sich seines „Gattungswesens [… ] als eines sich selbst produzierenden, sich selbst frei bestimmenden und sich selbst zum Zwecke habenden gesellschaftlichen Wesens.“(ebd.) Folgt man Quante, bleibt Marx somit auch noch im höheren Alter seiner Idee vom Menschen als Gattungswesen treu, der auf eine gemeinschaftliche Lebensführung ausgerichtet ist. Es ist jedoch nicht der Tausch alleine, sondern das gesamte warenproduzierende System, das die Menschen von ihren Erzeugnissen, von ihrer Arbeit, von ihren Mitmenschen und letztlich von ihrem Wesen entfremdet. Angesichts der zunehmenden Zahl an Konflikten sowie der vielen ökologischen und wirtschaftlichen Krisen stünde Marx den gegenwärtigen Verhältnissen – wohl mehr denn je – „unversöhnlich“gegenüber.
Marxismus: Philosophie
Quante, Michael. Der unversöhnte Marx.
Die Welt in Aufruhr. Münster: Mentis, 2018. 115 S., € 12,90 [D], € 13,30 [A] ; ISBN 978-3-95743-120-2