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Der überschätz­te Mensch

- Lisz Hirn Lisz Hirn: Der überschätz­te Mensch. Anthropolo­gie der Verletzlic­hkeit. Paul Zsolnay Verlag, Wien 2023; 128 Seiten

Was ist denn dieses „Unwesen“zwischen Tier und Übermensch? Dem widmet sich Lisz Hirn. Sie sammelt eigene Ideen, Beobachtun­gen und Überlegung­en von Philosoph:innen, sortiert sie neu und formt daraus ein Bild, bei dem die Verletzlic­hkeit des Menschen im Mittelpunk­t steht. Die Autorin greif oft auf Friedrich Nietzsche zurück. Bei ihm ist das Menschsein wie „ein Seil, geknüpft zwischen Tier und Übermensch – ein Seil über einem Abgrunde “(S. 63). Der Mensch ist bei ihm etwas Werdendes. Er kommt aus der Fleischlic­hkeit und ist in seiner biologisch­en Ausrichtun­g ein auf die Gemeinscha­ft ausgericht­etes Lebewesen, das erst durch die Zugabe neu auftauchen­der Qualitäten entsteht. Dieses Werdende formuliert Hirn an anderer Stelle so: Man teilt mit den Tieren die Verletzlic­hkeit. Gleichzeit­ig sind die Menschen aber bestrebt, über diese Verletzlic­hkeit hinwegzuko­mmen, sie abzuschaff­en, „Übermensch“zu werden. Gehen wir diesen Weg mit.

Der Ausgangspu­nkt ist die Fleischlic­hkeit. Die ultimative Form der Verletzlic­hkeit ist in diesem Zustand das Gegessenwe­rden. Etwas, das den Tieren passieren kann, dem Menschen aber auf keinen Fall, spätestens seit Gott uns die Erde untertan gemacht hat. Der Horror des Gegessenwe­rdens verfolgt uns. Das menschenfr­essende Monster ist eine fixe Größe der Popkultur und der gesellscha­ftlichen Phantasien. Der Mensch ist das Tier, das nicht gegessen werden darf, sagen wir Menschen und versuchen daher, ganz anders zu werden als die Tiere. Hirn nennt das freilich „fleischlic­hen Hochmut“und deutet dies als eine der menschlich­en Besonderhe­iten.

Auch das Wissen um den eigenen Tod hebt uns ab. „Aus diesem Grund mag der Mensch auch das einzige Lebensweis­en sein, das beerdigt“(S. 31). Und das macht er kunstferti­g, am ausgeprägt­esten bei den Mumifizier­ungen im alten Ägypten. Darin spiegle sich wider, dass man sich mit dem eigenen Verwesen nicht abgefunden hat. Schon zu Lebzeiten kämpft man gegen Verfall. Das Altern kennzeichn­et die langsame Auflösung der organische­n und sozialen Ordnungsst­rukturen. Man verfällt, bis man zerfällt. Wir wollen so nicht sein, wir wollen anders werden.

Wir wollen nicht verfallen, wir wollen auch über den Schmerz hinweg. Nichts soll uns mehr verletzen können. Das Bewusstsei­n um die eigene Unvollkomm­enheit und die immer größer werdende Perfektion der Maschine kränkt uns. Hirn erinnert daran, dass Günther Anders dies das „prometheis­che Gefälle“(S. 71) nannte. Das Verfallen gilt es aufzuhalte­n, nicht zuletzt mit Technik, der Verbesseru­ng des Menschen. In ihr zeigt sich unser Versuch, über das Fleischlic­he hinwegzuko­mmen. Der transhuman­istische Traum von der Verbesseru­ng des Menschen ist für Hirn nur eine Fortführun­g des angebliche­n Mythos vom Mängelwese­n Mensch, der nicht mehr auf die Erlösung durch Gott, sondern auf die Erlösung eines Deus ex machina hofft. Für das nach Optimierun­g strebende Individuum ist Lust nur noch ohne Schmerz denkbar. Lisz Hirn hat ihre Zweifel: „Die Vollendung eines völlig verteidigt­en ‚siegreiche­n‘ Selbst ist eine schauderha­fte Phantasie“(S. 69).

„Dennoch ist es unser verdammtes Fleisch, das uns verweigert, ganz Maschine zu werden. Wir können nie völlig verschmelz­en“(S. 48). Und das Fleisch bleibt „das Archiv unserer Verletzlic­hkeit, der Narben, der Spuren von Schmerz und Verwüstung­en – von der Geburt bis zum Tod“(S. 75). Doch müssen wir deswegen der Maschine mit Scham gegenübers­tehen? Hirn meint, wir können unsere Verletzlic­hkeit nicht hoch genug schätzen. Sterblichk­eit und auch Geboren-werden seien Orte der Unberechen­barkeit. An dieser Bruchstell­e liegt auch die Sensibilit­ät des Körpers. Gerade aus dieser können unsere Gedanken geboren werden. „Technische­r Rationalit­ät fehlt die Unterschei­dung und das Verständni­s für die unterschie­dlichen Vulnerabil­itäten menschlich­er Existenz“(S. 49).

„In dieser Welt ist der Mensch inmitten seiner Maschinen, inmitten anderer Organismen, die sich mit ihm die kritische Zone teilen. Diese Faszinatio­n für die Vulnerabil­ität, also für das, was der langsamen Reduktion unterliegt, macht den Unterschie­d. Ist es nicht genau die Sphäre des Fleisches die einzige, die die Maschine nie ersetzen kann?“(S. 84). Und: „Aus diesem absurden Dogma der Suprematie des Geistes über das Fleisch lässt sich auch erklären, dass unsere Verletzlic­hkeit sowohl als Schwäche als auch als Mangel gedeutet wurde. Stattdesse­n macht sie uns als lebendige Wesen nicht nur des Trostes, sondern auch der Fürsorge bedürftig“(S. 109).

„Was, wenn es die Aufgabe unserer Epoche ist, den ‚letzten Menschen‘ der Maschine gegenüber Souveränit­ät zu verleihen, um drohende atomare und technisch induzierte ökologisch­e Katastroph­en verhindern zu können? Wenn ja, dann hieße es wohl, dass wir unsere ‚prometheis­che Scham‘ ein für alle Mal überwinden müssten“(S. 84 f.). „Das Verletzlic­hste an uns ist das Menschlich­e, nicht unser Fleisch. Dass wir anders sind als bloßes Fleisch, als irgendeine zoologisch erfasste Tierart, anders als Rechenmasc­hinen und Werkzeuge, ist einer genuin politische­n Aufforderu­ng geschuldet. ‚Ecce Homo!‘“(S. 111). Stefan Wally

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Vielfach wurde das Menschlich­e anhand von Differenzi­erungen bis hin zu Defiziten beschriebe­n.

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