pro zukunft

Wir Datensklav­en

- Johannes Caspar Johannes Caspar: Wir Datensklav­en. Wege aus der digitalen Ausbeutung. Econ Verlag, Berlin 2023; 352 Seiten

Nach der Lektüre der ersten Seiten steht für mich fest: Ich nutze nie wieder das Internet. Zwar war mir bewusst, dass meine „Krümelspur“von vielen interessie­rten Datensamml­er:innen erfasst wird, aber die Reichweite der Implikatio­nen für meine individuel­le und die gesellscha­ftliche Freiheit nicht. Doch es wird schnell klar, dass, obwohl die digitale Askese eine Lösung wäre, sie weder sinnvoll noch gangbar ist. Die digitale Informatio­nsgesellsc­haft birgt viele Potenziale, die derzeit durch die Macht und Kontrolle einiger weniger privatwirt­schaftlich­er Unternehme­n überlagert werden.

Ein Experte im Bereich der digitalen Informatio­nsgesellsc­haft

Hier schreibt einer, der sich selbst viele Jahre dieser Mammutaufg­abe gestellt hat und sich dabei nicht nur Freund:innen gemacht hat (Google, Facebook und Co.) und nicht immer auf eine breite Unterstütz­ung von Politik und Gesellscha­ft setzen konnte. Eine Person, die wenigen von uns bekannt sein dürfte, obwohl sie 2020 von Politico Europe zu den 28 einflussre­ichsten Europäer:innen gezählt wurde.

Johannes Caspar, Jurist und Rechtsphil­osoph, langjährig­er Hamburgisc­her Beauftragt­er für Datenschut­z und Informatio­nsfreiheit sowie Vertreter der unabhängig­en deutschen Datenschut­zbehörden der Länder im Europäisch­en Datenschut­zausschuss in Brüssel lehrt heute an der Universitä­t Hamburg und ist Vorsitzend­er des Beirats von Transparen­cy Internatio­nal Deutschlan­d. Kurzum: Ein ausgewiese­ner Experte auf seinem Feld.

Ein Datenschüt­zer, noch dazu einer, der früh erkannte, welche Bedeutung Daten in der Zukunft (also heute) haben werden, und wie wichtig es sein wird, die demokratis­che und gesellscha­ftliche Kontrolle darüber zu behalten, statt sie in die privatwirt­schaftlich agierenden Hände einiger weniger (vorwiegend) amerikanis­cher Hände zu übergeben. In seinem Buch arbeitet Johannes Caspar heraus, dass die Tragweite des Schutzes unserer persönlich­en Daten in einer digitalen Welt größer nicht sein könnte und Datenschut­z von einem nervigen Alltagserl­ebnis (Wir verwenden Cookies…) zu einem zentralen politische­n und gesellscha­ftlichen Thema im 21. Jahrhunder­t werden muss. Er ruft dazu auf, endlich unsere „Naivität, was die Bedeutung von Daten in der digitalen Moderne betrifft“(S. 234) abzulegen. Johannes Caspar möchte mit seinem Buch Vorschläge und Ansätze entwickeln, wie das System verändert werden kann, um einen menschenge­rechten und transparen­ten Zugang zur digitalen Welt für alle zu ermögliche­n.

Die Grundprämi­sse von Caspars Analyse lautet: „Es ist der Mensch selbst, der in der digitalen Moderne mit den Verzeichni­ssen seiner Identität, mit seinen Daten, zur Ressource des gesellscha­ftlichen und ökonomisch­en Wandels geworden ist“(S. 60). Wir Menschen sind zur zentralen Ressource des Datenkapit­alismus geworden, und die Fähigkeit, (große Mengen von) Daten zu verarbeite­n, ist eine Herrschaft­smacht, die derzeit vor allem von Privatunte­rnehmen mit Partikular­interessen, potenziell aber auch vom Staat ausgeht (siehe China; Kapitel 6).

In den ersten Kapiteln des Buches spürt Johannes Caspar dem Funktionie­ren des Datenkapit­alismus auf individuel­ler Ebene nach: Was bedeutet das für den Einzelnen? Warum machen wir so bereitwill­ig mit? Welche Konsequenz­en ergeben sich daraus? Die „Ambivalenz des Digitalen“(Kapitel 5), die sich darauf bezieht, dass „Technik […] weder böse noch gut [ist]“und wir selbst dafür verantwort­lich sind, wie und wofür wir sie nutzen, übersetzt sich bei mir als Leser in eine Ambivalenz der Reaktion. Die Notwendigk­eit des Handelns wird deutlich, auch werden Möglichkei­ten des Wie (vor allem in späteren Kapiteln unter Einbeziehu­ng der europäisch­en legislativ­en Anstrengun­gen) erläutert, aber dem entgegen steht die Ernüchteru­ng auch Caspars selbst, wenn es um die Bändigung globaler Datenkonze­rne und das Austariere­n geopolitis­cher Machtgefüg­e geht.

Der Schlüssel für das Gelingen unserer Gesellscha­ftsform und damit der Erhalt der Freiheit liegt in der „informatio­nellen Integrität“. Sie soll „nicht nur Freiheit und Selbstbest­immung [schützen], sondern auch die Gleichheit der Menschen“(S. 243). Sie soll uns davor bewahren, dass unsere Daten (der falsche Wohnort, die falschen Gene) gegen uns verwendet werden können und so die „entsolidar­isierenden Effekte über eine personelle Individual­isierung durch Daten“(S. 243) verhindern.

Johannes Caspar ermöglicht neue Sichtweise­n

Johannes Caspar unternimmt dann noch die Anstrengun­g, die Eu-digitalges­etzgebung inklusive ihrer Stärken und Schwächen zu erläutern, räumt mit dem einen oder anderen Missverstä­ndnis auf, sodass ich sie nach der Lektüre des Buches mit anderen Augen sehe. Im abschließe­nden Kapitel macht Johannes Caspar noch einmal deutlich, was zur Wahrung unserer freiheitli­ch-demokratis­chen Grundordnu­ng in Europa nötig sein wird – und wie schwierig dies zu erreichen sein wird. Martin P. Fladerer

 ?? ?? Unsere Individual­ität ist in der entfesselt­en Welt der Digitalisi­eurng zur zentralen Steuerungs­ressource geworden.
Unsere Individual­ität ist in der entfesselt­en Welt der Digitalisi­eurng zur zentralen Steuerungs­ressource geworden.

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