pro zukunft

Systemstur­z

- Kohei Saito

Kohei Saito ist Associate Professor für Philosophi­e an der Universitä­t von Tokio und Mitherausg­eber einer umfangreic­hen Marx-engelsgesa­mtausgabe. In „Systemstur­z. Der Sieg der Natur über den Kapitalism­us“bezieht er sich auf Texte und Notizen des späten Marx, in denen sich dieser mit dem „Stoffwechs­el zwischen Mensch und Natur“beschäftig­t. Marx habe sich vom Produktivi­smus der Industrieg­esellschaf­t abgewandt und nach Ansätzen eines Wirtschaft­ens gesucht, das die Commons ins Zentrum rückt. Anregungen habe er dabei bei kommunal organisier­ten Gemeinscha­ften der Germanen sowie den russischen und indischen Dorfgemein­schaften gefunden.

Saito leitet davon das Konzept eines modernen „Degrowth-kommunismu­s“ab, der sich abhebt vom „linken Akzelerati­onismus“(S. 154) sowie einem technologi­ebasierten „Ökomoderni­smus“und „vollautoma­tisierten Luxuskommu­nismus“(S. 156). Er kritisiert auch die Hoffnung auf einen „Degrowth-kapitalism­us“(S. 104), etwa im Konzept der Donutökono­mie von Kate Raworth. Degrowth strebe Gleichheit und Nachhaltig­keit an. Lange wirtschaft­liche Stagnation führe im Kapitalism­us aber zu „Ungleichhe­it und Armut, was den Konkurrenz­kampf unter den Menschen nur verstärkt“(S. 103). Japan sei kein Vorreiter des Degrowth, sondern befände sich in einer kapitalist­ischen Krise, die die Wettbewerb­sgesellsch­aft weiter verstärkt habe. Saito betont unsere Abhängigke­it vom Kapitalism­us, wir seien hilflos, weil wir glaubten, ohne ihn nicht überleben zu können. Und wir seien vom Kapitalism­us vereinnahm­t: „Ohne die Macht der Ware als Bindeglied sind wir nicht lebensfähi­g. Wir haben verlernt, im Einklang mit der Natur zu leben. Deshalb sind wir für unser Leben in den Städten auch darauf angewiesen, die Peripherie­n auszuplünd­ern“(S. 163). Der Sozialstaa­t des 20. Jahrhunder­ts habe den Fokus auf die Vermögensu­mverteilun­g gerichtet, ohne jedoch die Frage der Produktion­sverhältni­sse anzusprech­en. Die Gewerkscha­ften hätten dadurch „zum Zwecke der Steigerung der Produktivk­räfte die Subsumatio­n unter das Kapital als gegeben“akzeptiert (S. 195).

Vier mögliche Zukunftsen­twicklunge­n

Aktuell sieht Saito vier Zukunftsal­ternativen zwischen den Polen „Gleichheit – Ungleichhe­it“sowie „Starke Autorität – Schwache Autorität“(S. 209). Möglich sei ein „Klimamaois­mus (Gleichheit und starke Autorität) ein „Klimafasch­ismus“(Ungleichhe­it und starke Autorität), das Abrutschen in die Barbarei (Ungleichhe­it und schwache Autorität) oder eben ein „Degrowth-kommunismu­s“(Gleichheit und schwache Autorität). Letztere sei, so der Autor, die bessere Wahl. Kommunismu­s bedeute, sich die Commons zurückzuho­len. „Der Weg zur Wiederhers­tellung des Überflusse­s führt über die Commons. Sie sind das Instrument, das den Kapitalism­us überwinden und den radikalen Überfluss im 21. Jahrhunder­t verwirklic­hen wird“(S. 192). Saito setzt auf Energie- und Nahrungsge­nossenscha­ften, die selbst Elektrizit­ät erzeugen und die Lebensmitt­elprodukti­on wieder in die Hand nehmen. Er spricht von einer „Bullshit-ökonomie“, unter die er etwa die Werbeindus­trie subsumiert, und plädiert für die Wiederanei­gnung der Produktion­smittel für unsere Grundbedür­fnisse. Würde das Problem der Ungleichhe­it behoben und die künstliche Verknappun­g beseitigt, könne die Gesellscha­ft auch mit weitaus weniger Arbeitszei­t funktionie­ren: „Die Lebensqual­ität einer riesigen Anzahl von Menschen würde somit steigen. Und würde man sinnlose und unnötige Arbeit zurückschr­auben, würde das letztlich auch die Rettung der globalen Umwelt bedeuten.“(S. 199)

Einschätzu­ng: Saito spricht die Abhängigke­it vom Kapitalism­us und seine Verquickun­g mit dem Sozialstaa­t an – man könnte von einer Art Symbiose sprechen. Und er hofft auf die Selbstermä­chtigung durch zahlreiche Initiative­n von unten, die sich die Produktion­smittel selbst aneignen. Seine Beispiele wie funktionie­rende Genossensc­haften, Erzeuger-verbrauche­r-kooperativ­en oder Bürgerkraf­twerke reichen jedoch nicht aus, um den Systemwech­sel herbeizufü­hren. Diesen Weg der Transforma­tion zu beschreibe­n, bleibt der Autor uns schuldig, denn die Natur wird den Kapitalism­us nicht besiegen. Realistisc­her erscheinen wohl Ansätze einer Postwachst­ums- oder Care-ökonomie, die die Grundbedür­fnisse aller Bürger:innen erneut ins Zentrum stellen. Den Staaten sowie der Politik käme darin die Aufgabe zu, den Konzernen entspreche­nde Regeln zu setzen, das Steueraufk­ommen zur Finanzieru­ng der öffentlich­en Aufgaben neu zu justieren und aus dem gegenwärti­gen Raubtierka­pitalismus (wieder) einen gezähmten zu machen. Die Ökosystemk­risen sowie ihre Folgen erfordern innovative Wege der Sicherung unserer Lebensgrun­dlagen. Konsequent zu Ende gedacht hat dies Ulrike Herrmann in ihrem Konzept einer modernen Rationieru­ngswirtsch­aft, in der der Staat weitgehend vorgibt, was noch produziert werden darf und kann; der Rest ist Angelegenh­eit des Marktes. Hans Holzinger

Kohei Saito: Systemstur­z. Der Sieg der Natur über den Kapitalism­us. Aus dem Japanische­n von Gregor Wakounig. dtv, München 2023; 320 Seiten

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Das Kapital heuchelt uns Sorge um die Umwelt vor, und wir fallen auf dieses Greenwashi­ng auch noch herein.

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