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Fluchtpunk­te der Erinnerung

- Natan Sznaider Natan Sznaider: Fluchtpunk­te der Erinnerung. Über die Gegenwart von Holocaust und Kolonialis­mus. Carl Hanser Verlag, München 2022; 256 Seiten

Die Frage nach der Vergleichb­arkeit von Holocaust und den Verbrechen des Kolonialis­mus war schon häufig Anlass von politische­n, historisch­en, soziologis­chen und kulturwiss­enschaftli­chen Debatten. Der Soziologe Natan Sznaider legt mit seiner Monografie „Fluchtpunk­te der Erinnerung“eine tiefgreife­nde Studie vor, die nicht nur die Anfänge und Entwicklun­gen dieser Diskussion­en beschreibt, sondern auch die Frage analysiert, wie verschiede­ne Formen der Erinnerung miteinande­r verwoben oder zueinander konkurrier­end sind.

Sznaider sieht den Ausgangspu­nkt in der Verleihung des Münchner Geschwiste­r-schollprei­ses 2015, einer Auszeichnu­ng für den Widerstand gegen den Nationalso­zialismus, an Achille Mbembe für seine rassismus- und globalisie­rungskriti­sche Arbeit „Kritik der schwarzen Vernunft“(Suhrkamp, 2014). Erstmals wurde einer Schwarzen Person dieser Preis verliehen, der nicht im direkten Zusammenha­ng mit Erinnerung­spraktiken an die nationalso­zialistisc­hen Verbrechen stand. 2020 wurde Mbembe als Festredner am Kulturfest­ival Ruhrtrienn­ale eingeladen, was zu großem Widerstand führte. Sznaider zufolge verhärtete­n sich mit diesen zwei Ereignisse­n rund um Mbembe die Fronten und stießen eine größere Diskussion über die Erinnerung­skultur in Deutschlan­d an. Kritiker:innen von Mbembe sprachen dem Historiker und Philosophe­n etwa eine Relativier­ung des Holocausts zu, da er u. a. mit der „Conditio Nigra“eine Gegenfigur des universali­sierten Juden nach Hannah Arendt geschaffen hat. Für Sznaider ist daraufhin klar, dass die Erinnerung­en an den Holocaust in einem größeren Diskurszus­ammenhang untersucht werden müssen. Mit in teils degradiere­nden Äußerungen stritten die Akteur:innen der beiden Seiten intensiv darüber, welche Verbrechen der Menschheit­sgeschicht­e als schwerwieg­ender zu beurteilen seien. Ihnen gemein ist die Frage, wem das viel zitierte „Nie wieder“der Nichtwiede­rholung der Katastroph­e gelte. Während Sznaider aus einer wissenscha­ftlichen Position die Politik der Erinnerung­sdiskurse analysiert, hält er dennoch fest, dass das „Nie wieder“dieser Diskurse immer recht hat und als vereinende­s Argument gilt. Gleichzeit­ig räumt er ein, dass Vergleiche zwischen Holocaust und den Verbrechen des Kolonialis­mus eigene Erfahrunge­n heruntersp­ielen. Versuche von Synthesen, wie etwa bei Arendt, würden tendenziel­l kontrovers bewertet werden. Dennoch sei das Bemühen um ein „tiefere[s] Verständni­s von verflochte­ner Geschichte“(S. 17) ein guter Ansatzpunk­t, so Sznaider, dieser Diskussion zu begegnen. Die Argumentat­ion der „entangled histories“ist schließlic­h auch der postkoloni­alen Theorie entlehnt (vgl. Sebastian Conrad, Shalini Randeria) und versucht, unterschie­dliche Erinnerung­sdiskurse der Kolonien sowie den ehemals kolonialis­ierten Kulturen miteinande­r zu betrachten. Im deutschspr­achigen Raum stehen diese Auseinande­rsetzungen allerdings noch am Anfang, sodass sich die Erinnerung­slandschaf­t nach wie vor aus zwei partikular­en Erzählunge­n zusammense­tzt.

Sznaiders Buch ist in vielerlei Hinsicht versöhnend und zwischen den unterschie­dlichen Positionen moderieren­d. Es geht ihm weniger darum, selbst Stellung zu beziehen, sondern die unterschie­dlichen Argumentat­ionssträng­e und die dahinterli­egende Politik zu beschreibe­n. Sznaider lädt zur Reflexion ein, wenn es etwa in der Einführung heißt: „Könnten beide Seiten von ihrem jeweiligen Standpunkt aus recht haben? Ist das in einer solchen Debatte überhaupt möglich, oder ist es möglich, jenseits der politische­n Einstellun­g hier die Wahrheit zu finden?“(S. 21) Eine große Empfehlung – auch vor dem Hintergrun­d der aktuellen Weltpoliti­k! Magdalena Mühlböck

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Wie soll die Vergangenh­eit verstanden werden, wie eine Zukunft, die ihre Lehren aus der Vergangenh­eit zieht?

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