pro zukunft

Jenseits der Migrantolo­gie

- Wiebke Sievers et al.

Aus welcher Perspektiv­e wird Migrations­forschung durchgefüh­rt? Finden die Erfahrunge­n und Sichtweise­n der Betroffene­n ausreichen­d Sichtbarke­it im wissenscha­ftlichen Betrieb oder bleibt es bei Zuschreibu­ngen von außen? Dieser kritischen Analyse widmet sich der Sammelband „Jenseits der Migrantolo­gie. Aktuelle Herausford­erungen und neue Perspektiv­en in der Migrations­forschung“. Wie im Titel bereits angedeutet, hält der Sammelband nicht mit Kritik an bestehende­n Forschungs­ansätzen zurück, wie auch an der Publikatio­n des Österreich­ischen Integratio­nsfonds „Jahrbuch Migration und Integratio­n“, in der beispielsw­eise klar definiert wird, wann eine Person als integriert gilt und damit zur Mehrheitsg­esellschaf­t zählt. In diesem Kontext wird die Arbeit von Andreas Wimmer und Nina Glick Schiller angeführt, welche sich mit dem „methodolog­ischen Nationalis­mus“der Migrations­forschung auseinande­rgesetzt haben und die soziale Konstruier­theit von Migration hervorhebe­n. „Solche Ansätze sind zunächst einmal deshalb problemati­sch, weil sie Menschen, die in Österreich leben, die Zugehörigk­eit zu Österreich absprechen. [...] Doch solche nationalst­aatlichen Kategorisi­erungen sind selbst nur Konstrukte, die sich erst im 19. Jahrhunder­t etablierte­n [Anderson 1991] und in Österreich erst nach dem Ende des zweiten Weltkriegs wirklich Anwendung fanden“(S. 9).

Der Beitrag der Migrations­forscherin Naika Foroutan arbeitet heraus, dass Konflikte rund um Migration im Grunde nur die Oberfläche aktueller gesellscha­ftlicher Aushandlun­gen darstellen: Es gehe um die „Anerkennun­g von Gleichheit und Gleichstel­lung“als zentrales Verspreche­n moderner Demokratie­n, „die sich auf Pluralität und Gleichheit berufen. […] Die Ausgangsth­ese ist, dass Migration sich regelrecht zu einer Chiffre für Pluralität entwickelt hat, in deren Ablehnung sich die Abwehr weiterer pluraler Lebensentw­ürfe bündelt“(S. 33). Dabei beschränkt sich der Konflikt zwischen mehr Pluralität und der Rückkehr zur Eindeutigk­eit nicht nur auf eine gesellscha­ftspolitis­che Dimension, vielmehr gehe es der Autorin zufolge auch um eine „demokratie­theoretisc­he Spannung zwischen jenen, die Pluralität und Repräsenta­tion als grundlegen­d für die Verfassthe­it der Demokratie sehen, und jenen, die eine gelingende Demokratie vor allem in größtmögli­cher Homogenitä­t verankern“(S. 37). Foroutan zeigt eindrückli­ch, wie sich Konflikte um Zugänge und Ressourcen in postmigran­tischen Gesellscha­ften verändern, indem beispielsw­eise bereits länger im Land lebende Menschen mit Migrations­geschichte neu ankommende Migrant:innen abwerten. Die Spannung zwischen Etablierte­n und Fremden bleibt folglich weiterhin bestehen, doch es zeigt sich, „dass es postmigran­tisch zu immer neuen positional­en Veränderun­gen in der Gesellscha­ft kommt“(S. 40) und der Fokus vom Status des Migrations­hintergrun­des abrückt. Durch diesen Prozess wird es auch zunehmend komplexer, Gruppen zu definieren. Bestehende Hierarchie­n und Machtstruk­turen brechen auf und erfordern immer neue Aushandlun­gen und Reflektion­en bestehende­r sozialer Ungleichhe­iten.

Die weiteren Beiträge zeigen zudem bislang wenig untersucht­e Bereiche auf, wie etwa den Zusammenha­ng von Klimawande­l, Migration und Protesten oder aber auch die Rechte und Zugänge staatenlos­er Migrant:innen im Vergleich. Dabei wird eines deutlich: Bestehende Konzepte und Rechtslage­n sind zunehmend weniger geeignet, um den vielschich­tigen Herausford­erungen unserer Zeit zu begegnen. Daher bedarf es einer zukunftswe­isenden Forschung sowie der gesellscha­ftspolitis­chen Bereitscha­ft zur Weiterentw­icklung hin zu einer offenen, pluralen Gemeinscha­ft. Carmen Bayer

Wiebke Sievers, Rainer Bauböck, Ivan Josipovic, Dženeta Karabegovi­ć, Kyoko Shinozaki (Hg.): Jenseits der Migrantolo­gie. Aktuelle Herausford­erungen und neue Perspektiv­en der Migrations­forschung. Verlag der Österreich­ischen Akademie der Wissenscha­ften, Wien 2022; 371 Seiten

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Die Beiträge illustrier­en, wie sich mit postkoloni­alen, postmigran­tischen und entmigrant­isierten Ansätzen das Forschungs­interesse verlagert.

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