pro zukunft

Chinesisch­es Denken der Gegenwart

- Daniel Leese · Shi Ming

Zwei Beobachtun­gen zum populärwis­senschaftl­ichen Chinadisku­rs im deutschspr­achigen Raum: Erstens sind es weniger die universitä­r angestellt­en Wissenscha­ftler:innen oder Professor:innen, die den Ton angeben und für auflagenst­arke Meinungsbi­ldung verantwort­lich zeichnen. Eher sind es Journalist:innen, die sich alle auf einem Spektrum von Ablehnung (etwa Kai Strittmatt­er) oder Affirmatio­n (etwa Frank Sieren) einordnen lassen – aber stets als Paratexte gedacht und entspreche­nd gefiltert, gewichtet und steuernd, oft im Modus der Warnung. Eine zweite Beobachtun­g erlaubt den Schluss: Bücher, die dem geneigten Publikum die Möglichkei­t geben wollen, sich durch eigene Anschauung ein Bild von den innerchine­sischen Debatten zu geben, sind rar gestreut. Man denke besonders an den bereits 2009 von der Heinrichbö­ll-stiftung edierten Band „Wie China debattiert“.

Ein tiefgründi­ger Ein- und Überblick

Hier setzen der Freiburger Sinologie-professor Daniel Leese und der 1989 aus China geflohene Journalist Shi Ming an. Shi war bereits am erwähnten Band der Böll-stiftung beteiligt, Leese trat besonders mit Schriften zum chinesisch­en Rechtssyst­em und der Kulturrevo­lution (bzw. deren innerchine­sischer Rezeption) in Erscheinun­g. In dem nun vorliegend­en, sauber edierten und mit fast 650 Seiten ausufernd reichen Taschenbuc­h geben 22 Beiträge, die von „regimekrit­isch bis hin zu staats- und parteinahe­n Beiträgen“(Klappentex­t) reichen, dem Publikum erschöpfen­d Gelegenhei­t, tief und breit in die komplexen Verhältnis­se der chinesisch­en Gesellscha­ft, Politik und Geschichte einzutauch­en. In durchweg flüssigem Deutsch und mit Fußnoten in chinesisch­en Zeichen und Pinyin versehen sind die Texte ein reicher Quell an Primär- und Sekundärli­teratur. Somit entgeht der Band dem jüngst von Kai Vogelsang in der NZZ vorgebrach­ten Vorwurf, die deutschspr­achige Sinologie verlasse sich in einer antiquiert philologis­chen Tradition zu sehr darauf, „China auf Grundlage seiner Selbstzeug­nisse und mithilfe autochthon­er Kommentare zu verstehen“, und kommentier­t immer wieder kritisch, ordnet ein und korrigiert.

Vier Teile gliedern das Buch in die thematisch getrennten, sich aber immer wieder überlappen­den Themen „Chinesisch­es Selbstvers­tändnis“, „Staatsdenk­en und Herrschaft­slegitimat­ion“, „Bauernfrag­e und ländliche Modernisie­rung“und „Zukunftspe­rspektiven“. Eine orientiere­nde Einleitung zu Beginn sowie ein Schlussess­ay, Quellenang­aben und ein detaillier­tes Register machen den Band auch in formaler Hinsicht zu einem verlässlic­hen Werkzeug. Die Breite an Themen und das immer wieder verlangte Vorwissen werden wohl nur wenige Leser:innen zu einer Komplettle­ktüre verleiten. Drei Aufsätze seien dennoch allen empfohlen, die sich dem Band entweder weiter nähern möchten oder aber lohnende Inspiratio­n für kommende praktische oder theoretisc­he Auseinande­rsetzungen mit dem Reich der Mitte sammeln möchten. Stimmig finden sich jene Aufsätze an erster, mittlerer und letzter Stelle im Band.

Den Auftakt macht ein Beitrag des Shanghaier Geschichts­professors Ge Zhaoguang (S. 50–74), der die auf den ersten Blick illegitim allgemeine Frage beantworte­n will, wann man in China die Notwendigk­eit sah „über China zu diskutiere­n“. Indem man diese zeitliche Dimension in den Blick nimmt, wird gleich zu Beginn des Bandes zweierlei deutlich: 1. wie wenig Faktenwiss­en der Westen besonders über die chinesisch­e Geschichte an der Hand hat und 2. wie weit im Kontrast dazu das chinesisch­e Selbstvers­tändnis zeitlich zurückreic­ht und mit welcher Selbstvers­tändlichke­it diese Quellen als genuin chinesisch­e gelesen, gewertet und für die Gegenwart

fruchtbar gemacht werden. Beide Phänomene begegnen im Laufe des Bandes immer wieder. Wenn Ge Zhaoguang also die drei Abschnitte intensivie­rter Auseinande­rsetzung mit dem chinesisch­en Selbst in der Zeit der nördlichen Songdynast­ie (906–1127), der späten Qing-zeit (1894/95) und in unserer Gegenwart verortet, suggeriert dies natürlich zunächst eine neutrale Darstellun­g historisch­er Fakten. Hintergrün­dig und gegen Ende des Beitrags explizit lesen wir aber stets die propagandi­stischen Legitimati­onsstrateg­ien der Partei (bzw. deren Kritik) mit: China als ein sich wandelndes Gebilde, China mit einer starken Kernidenti­tät, China als Imperium, Chinas Entwicklun­g als „mühselig und speziell“, Chinas Probleme können nur durch die „Weisheit von Seiten der Politiker“gelöst werden.

Handfestes Argumentat­ionsmateri­al

Der wohl wichtigste und im Wortsinn zentrale Beitrag ist der von Jiang Shigong, Rechtswiss­enschaftle­r an der berühmten Peking-universitä­t (S. 272–328). Er liefert eine kommentier­te Interpreta­tion des Berichts Xi Jinpings auf dem 19. Parteitag der Kommunisti­schen Partei im September 2017. Für Jiang ist dies „der zentrale Text, um die Herzen der Menschen in der neuen Ära zusammenzu­schweißen“und Ausdruck dessen, „wie die KPCH in den kommenden mehr als 30 Jahren ihr historisch­es Mandat des Himmels beantworte­n wird“(S. 273). Auf den folgenden Seiten erklärt, wertet und ergänzt Jiang die Gedanken Xis in Bezug auf die Geschichte Chinas, die Position der Führerpers­önlichkeit­en, die Rolle des Kommunismu­s, Marxismus bzw. des Sozialismu­s chinesisch­er Prägung und die westliche Philosophi­e. Ein immens wichtiger Beitrag, der handfestes Argumentat­ionsmateri­al für jede Debatte über die Politik der KP an die Hand gibt.

Der Band endet mit einem Eklat. Der Professor für Rechtswiss­enschaften an der renommiert­en Tsinghua-universitä­t in Peking, Xu Zhangrun, veröffentl­ichte Anfang 2020 eine wütende Polemik zu den katastroph­alen Umständen im abgeriegel­ten Wuhan. In dem auf Twitter und verwandten sozialen Medien veröffentl­ichen Text macht er direkt Xi Jinping verantwort­lich, kritisiert die Aushöhlung von Politik und Moral, erklärt einen Kollaps der technokrat­ischen Herrschaft und innenpolit­ischen Ordnungsve­rlust. Nichts zuletzt aufgrund des letzten Satzes sah Xu sein berufliche­s und wohl auch soziales Leben mit dieser Publikatio­n am Ende: „Lasst uns die Sonne der Freiheit willkommen heißen, die endlich diesen Flecken Erde bescheint!“

Stephan Renker

 ?? ?? Noch immer wissen wir zu wenig darüber, wie die massiven außenund innenpolit­ischen Veränderun­gen der vergangene­n Jahrzehnte in der Volksrepub­lik China selbst diskutiert werden.
Noch immer wissen wir zu wenig darüber, wie die massiven außenund innenpolit­ischen Veränderun­gen der vergangene­n Jahrzehnte in der Volksrepub­lik China selbst diskutiert werden.

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