Wo ist Janukowitsch?
Großfahndung. Die Brille auf dem Tisch vergessen, das Essen abgebrochen: Hektisch floh der abgesetzte ukrainische Präsident und hinterließ einen brutalen Plan.
KIEW (SN, dpa). Im Kloster, auf einem russischen Kriegsschiff oder doch schon im Ausland – wo ist Viktor Janukowitsch? Seit der überhasteten Flucht des gestürzten Präsidenten aus Kiew brodelt die Gerüchteküche. „Er ist in der Ukraine. Das weiß ich“, behauptet Janukowitschs Weggefährtin Anna German. Mehr will sie im Gespräch mit Journalisten aber nicht preisgeben. „Sie suchen nach ihm, nicht ich.“
Janukowitschs Spur verliert sich in der Stadt Sewastopol auf der Halbinsel Krim. Die Schwarzmeer-Halbinsel Krim ist seit Langem Zankapfel der Russen und Ukrainer. Nach dem Zweiten Weltkrieg gehörte das 26.000 Quadratkilometer große Gebiet zunächst zu Russland. Kremlchef Nikita Chruschtschow machte es 1954 zu einem Teil seiner Heimatrepublik Ukraine innerhalb der Sowjetunion. Heute, 23 Jahre nach Auflösung der Sowjetunion, ist die Krim ein autonom verwalteter Teil der unabhängigen Ukraine. Von den mehr als zwei Millionen Einwohnern sind etwa 25 Prozent Ukrainer und knapp 60 Prozent Russen. Auf der Krim liegt ein wichtiger Teil von Moskaus Marine vor Anker.
„Janukowitsch ist weder auf Schiffen noch in einem anderen Objekt der russischen Schwarzmeerflotte“, zitiert die russische Staatsagentur Ria Nowosti einen Verantwortlichen. Die neuen Machthaber lassen wegen „Massenmordes“nach Janukowitsch fahnden. Am Dienstag beschloss das Parlament, den 63-Jährigen im Falle einer Festnahme an den Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag zu überstellen.
Der abgesetzte Staatschef, so hat es den Anschein, kann nur noch auf wenige Getreue zählen. Sein enger Mitarbeiter Andrej Kljujew, zuletzt Chef des Präsidialamts, soll bei ihm sein. Zudem noch Bodyguards, alle bewaffnet. Es gibt Gerüchte, dass die Leibgarde sich bei einem Festnahmeversuch den Weg freigeschossen haben soll. „Alle Kommunikationswege sind abgebrochen“, betont Awakow. Bilder aus Überwachungskameras seiner Luxusresi- denz Meschigorje bei Kiew zeigen den hektischen Aufbruch in der Nacht zum Samstag: Zwei Hubschrauber stehen bereit. Mehrere Transporter fahren offenbar schnell zusammengeraffte Wertgegenstände zum Landeplatz. Schwere Limousinen rollen vor. Wie hastig es zugegangen sein muss, zeigen Fotos von einem abgebrochenen Abendessen, angebrochene Wein- und Cognacflaschen stehen auf dem Tisch. Auch eine Brille hat „Witja“, wie ihn das Volk halb spöttisch nennt, liegen gelassen.
Nun kommt das Privatleben des geschassten Staatschefs unter die Lupe. Im Internetprojekt „YanukovychLeaks“veröffentlichen Aktivisten Dokumente, die der bullige Zwei-Meter-Mann offenbar vernichten lassen wollte – sie wurden aus einem See seiner Residenz gefischt. Mit Empörung nehmen die Ukrainer die Details auf. So ließ Janukowitsch als eine der ersten Maßnahmen nach sei- ner Wahl zum Präsidenten 2010 einen Kronleuchter anschaffen. Der Preis: acht Millionen Euro.
Gefunden wurden auch Pläne zum weiteren Vorgehen Janukowitschs gegen die Aktivisten auf dem Maidan: Er hat die Demonstrationen gegen ihn offenbar mit einem Großeinsatz Tausender Sicherheitskräfte niederschlagen wollen. Nach den Plänen sollte der Unabhängigkeitsplatz in Kiew umstellt werden, Scharfschützen hätten das Feuer auf die Demonstranten eröffnen sollen. Rund 22.000 Polizisten, darunter 2000 Spezialkräfte, sollten an der Aktion beteiligt werden. Mit der Veröffentlichung der Pläne im Internet solle der Druck auf die neue Führung erhöht werden, den flüchtigen Janukowitsch vor Gericht zu stellen, sagte der Abgeordnete HennadiMoskal.
Doch die neue Führung gibt es noch nicht: Die neuen Machthaber in Kiew können sich nicht auf eine Übergangsregierung einigen. Das Parlament verschob eine am Dienstag geplante Abstimmung auf Donnerstag. Die bisherige Opposition ist tief zersplittert. Ein Streitpunkt bleibt, welche Rolle die Aktivisten vom Kiewer Unabhängigkeitsplatz künftig spielen und welches Mitspracherecht sie haben sollen. Die Partei von ExRegierungschefin Julia Timoschenko forderte am Dienstag erneut, Aktivisten in die Regierung einzubinden. Die Maidan-Bewegung legte ihrerseits Bedingungen fest. „Jedes Kabinettsmitglied benötigt die Zustimmung des Maidan“, hieß es in einer Erklärung an die Agentur Interfax.
So dürften die 100 reichsten Ukrainer keine Regierungsposten erhalten, betonten die Aktivisten. Notwendig seien auch mindestens sieben Jahre Arbeitserfahrung. Mitglieder der bisherigen Regierung und der Präsidialkanzlei sollten keine Ämter erhalten.
Die Vorsitzenden der Parlamentsfraktionen und zuständigen Komitees arbeiteten Tag und Nacht, sagte Übergangspräsident Alexander Turtschinow. Er forderte, spätestens am Donnerstag müsse ein „Kabinett des nationalen Vertrauens“stehen.