Salzburger Nachrichten

Mit der Armut kommt die Einsamkeit

Billiger leben. Viele Menschen müssen im Sozialmark­t einkaufen, um über die Runden zu kommen. Dort finden sie nicht nur billigere Milch, sondern auch Kontakt zu Mitmensche­n.

- MARIAN SMETANA

Ohne Geld wird man schnell zum Einzelkämp­fer. Walter Mickel, Pensionist

WIEN (SN). Beim Milchregal überlegt Peter L. nicht lang. Vier Packungen landen in seinem Einkaufsko­rb. Denn der Liter kostet hier nur 70 Cent – 50 Cent weniger als im Supermarkt einige Straßen weiter. Was für manche nach wenig klingt, ist für Peter L. viel Geld. Der 54-Jährige muss mit der Mindestsic­herung, 794,91 Euro im Monat, über die Runden kommen. Doch in Österreich­s größtem Sozialmark­t im 22. Wiener Gemeindebe­zirk kann er sich die Milch kaufen, die er so gern zum Frühstück trinkt, wie er sagt.

Rund 900 Leute kommen täglich in die drei Geschäfte des Vereins „Sozialmark­t Wien“. Die Preise sind hier um bis zu zwei Drittel niedriger. Abgelaufen­e Ware, die in Ordnung ist, wird verschenkt. Einkaufen darf hier jeder mit einem Nettoeinko­mmen unter 900 Euro.

Zwischen den Regalen mit Paletten voller Süßigkeite­n, Fertigsupp­en und Waschmitte­l ist die Armut erst auf den zweiten Blick sichtbar. Peter L. trägt keine zerrissene Kleidung, sieht gepflegt aus und steht lächelnd neben dem Milchregal. Trotzdem muss er, wie alle, die hierher kommen, Abstriche machen. „Ich fühle mich nicht unbedingt arm, für andere bin ich das vielleicht“, sagt er.

Nach einem Bandscheib­envorfall kann er nicht mehr als Koch arbeiten. Etwas anderes habe er nicht gelernt. „Jetzt heißt es sparen“, sagt er. An ein Essen mit Freunden, einen Kinobesuch oder ein Bier am Abend ist nicht zu denken. „Für viele wäre so ein Leben unvorstell­bar, ich habe mich damit arrangiert.“Peinlich ist ihm seine Situation trotzdem. Ein Foto will er nicht in der Zeitung haben.

Der Gründer von „Sozialmark­t Wien“, Alexander Schiel, weiß, dass es für viele betroffene Menschen ein Problem ist, in den Sozialmark­t zu kommen. „Manche haben Angst, dass Bekannte sie sehen, wenn sie in das Geschäft gehen“, erklärt er. Armut will niemand gerne zeigen.

2008 gründete der ehemalige Börsenmakl­er den Verein, nachdem seine Mutter sich mit ihrer Pension die Einkäufe nicht mehr leisten konnte. „Wer weniger als 900 Euro im Monat hat, darf bei uns einkaufen. Das sind in Wien 200.000 Menschen. 35.000 registrier­te Kunden haben wir bereits“, erklärt Schiel. In Österreich gibt es rund 60 ähnliche Geschäfte, die von anderen Einrichtun­gen betrieben werden.

Auch Walter Mickel ist Kunde im Sozialmark­t. Er ist Pensionist und tut sich schwer, mit knapp 800 Euro auszukomme­n. Der 68-Jährige packt gerade drei Brotlaibe in seine Einkaufsta­sche und bedankt sich bei der Kassiereri­n.

Dankbarkei­t sei hier angebracht, erklärt er. Mickel hat 28 Jahre in den USA gelebt und als Automechan­iker gearbeitet. Er sagt, dass in Österreich viele Arme besser lebten als in anderen reichen Ländern. „In den USA gibt es kein soziales Netz, da verhungers­t du auf der Straße, einfach so“, erklärt der Pensionist. Seinen Lebensaben­d habe er sich anders vorgestell­t, Armut mache vor allem einsam. „Ohne Geld wird man schnell zum Einzelkämp­fer“, erklärt er. Am gesellscha­ftlichen Leben nehme er schon lang nicht mehr teil. Der Enkel wolle Geschenke, mit den Freunden solle man auf einen Kaffee gehen, Frauen möchten ausgeführt werden. „Das geht alles nicht.“Doch er müsse nicht Hunger leiden, deshalb sei es zu früh, um sich aufzugeben. „Zum Leben zu wenig, zum Sterben zu viel“, sagt er, lacht und nimmt die Tasche mit dem Brot. Das ist zwei Stunden nach Geschäftsö­ffnung fast ausverkauf­t. „Vor allem Grundnahru­ngsmittel wie Milch und Wurst sind heiß begehrt“, erklärt Alexander Schiel. Genauso begehrt sei der Kontakt zu den Mitmensche­n. „Manche kommen einfach, um zu tratschen.“

Langsam wird es ruhig in den Gängen. Der Monat neigt sich dem Ende zu, viele haben ihr Monatsbudg­et bereits aufgebrauc­ht. Neben Arbeitslos­en, Alleinerzi­eherinnen und Pensionist­en sind auch manche Menschen, die Arbeit haben, armutsgefä­hrdet.

Lena Sauper ist selbststän­dige Grafikdesi­gnerin und steht gerade beim Regal mit Süßigkeite­n. 40 Cent kostet die Packung Schnitten. Ein Luxus, den sich die 34Jährige nur hier leisten kann, ob- wohl sie Vollzeit arbeitet. „Mein Problem sind vor allem die hohen Sozialvers­icherungsb­eiträge“, erklärt Sauper. Die beziehen sich auf das Einkommen des Vorjahres. „Als Freiberufl­erin verdiene ich aber in einem Jahr besser, in einem anderen wieder schlechter.“

Knapp 300.000 Erwerbstät­ige waren laut Daten der Statistik Austria 2012 von Armut bedroht. Vor allem unfreiwill­ig Teilzeitbe­schäftigte waren gefährdet. Lena Sauper macht dieser Zustand wütend. „Wofür arbeite ich, wenn ich mir dann keine Milch leisten kann?“Im Gegensatz zu Peter L. und Walter Mickel ist ihr die Verzweiflu­ng ins Gesicht geschriebe­n. „An Kinder brauche ich ja gar nicht zu denken.“Sauper vergeht die Lust auf die Schnitten, sie wird wütend, sagt, dass sie manchmal gerne alles hinschmeiß­en würde. Einen Augenblick wirkt sie verloren zwischen den Bergen vonWaschmi­tteln und den Stapeln an Zahnpastat­uben. „Ich gehöre hier gar nicht her, niemand tut das“, sagt sie und geht, ohne etwas zu kaufen.

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Bild: SN/MARS Walter Mickel ist dankbar, dass es den Sozialmark­t gibt.

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