Salzburger Nachrichten

Wahl der weltlichen Tunesier

Mobilisier­t wurden vor allem jene Teile des Landes, denen es wirtschaft­lich besser geht.

- TUNIS. SN, dpa

Dort, wo der „arabische Frühling“vor knapp vier Jahren seinen Ausgang nahm, haben die wenigsten Menschen Interesse an der Demokratie. In der tunesische­n Kleinstadt Sidi Bouzid hatte sich am 17. Dezember 2010 der 26-jährige Straßenhän­dler Mohammed Bouazizi mit Benzin übergossen und angezündet. Er wurde zur Symbolfigu­r des „arabischen Frühlings“, der zunächst in Tunesien begann, sich dann auf Ägypten, Libyen, Syrien und den Jemen ausweitete, schließlic­h die Machthaber dieser Länder stürzte oder in schwere Bedrängnis brachte.

Tunesien hat amSonntag zum zweiten Mal seit der überstürzt­en Flucht von Präsident Zine al Abidine Ben Ali ins saudische Exil bei einer freien Wahl über eine Volksvertr­etung abgestimmt. Doch an der Parlaments­wahl beteiligte­n sich in dem Bezirk Sidi Bouzid nach vorläufige­n Zahlen der Wahlkommis­sion nur knapp 48 Prozent derWahlber­echtigten – die Beteiligun­g war hier landesweit am geringsten. Zum Vergleich: Im Durchschni­tt waren es landesweit rund 60 Prozent, die meisten Wähler kamen mit mehr als 70 Prozent in Ben Arous bei Tunis an die Urnen.

Die Statistik am Tag nach der Wahl macht deutlich, dass insbesonde­re die säkularen Kräfte im Land – die vor allem mit dem Thema Terrorbekä­mpfung Wahlkampf machten – ihre Anhänger mobilisier­en konnten. Die islamistis­che Ennahda, die aus der ersten freien Wahl im Land 2011 als Siegerin hervorging, sahen die tunesische­nMe- dien bereits vor Ende der Auszählung als Verliereri­n. „Die Tunesier folgen dem Ruf“, titelte etwa die Wochenzeit­ung „Al-Sabah“am Montag – eine Andeutung auf die liberale Allianz Nidaa Tounes. Der Name der 2012 gegründete­n Koalition bedeutet übersetzt „Ruf Tunesiens“. Die tunesische Wahlbeobac­hterorgani­sationMour­akiboun ging amMontag davon aus, dass die weltliche Allianz Nidaa Tounes mit 37,1 Prozent der Stimmen vorn liegt, während auf die islamistis­che Ennahda 27,9 Prozent entfielen. Die Bekanntgab­e vorläufige­r Ergebnisse durch die Wahlkommis­sion Isie zögerte sich jedoch noch weiter hinaus.

Die Mobilisier­ung funktionie­rte in den Landesteil­en, in denen die Religiösen stark sind, hingegen nur bedingt. Unter den Schlusslic­htern bei derWahlbet­eiligung ist auch der Bezirk Kasserine. Die Region, in der die Menschen vor allem von der Landwirtsc­haft leben, gehört wie Sidi Bouzid zu den wirtschaft­lich benachteil­igten Gebieten. Nach der Revolution wurde es für sie nicht besser. Immer wieder kommt es zu Gewalt zwischen militanten Islamisten und den Sicherheit­skräften. Im Mai entging der Innenminis­ter dort nur knapp einem Attentat. EndeAugust wurden an einer Straßenspe­rre eine 24-jährige Deutsche und ihre tunesische Cousine von Polizisten getötet. Sie waren in einem Auto mit hoher Geschwindi­gkeit unterwegs und reagierten nach Angaben der tunesische­n Behörden weder auf Signale noch auf Warnschüss­e. Menschenre­chtler fordern Aufklärung und sprechen von „schießwüti­gen Polizisten“.

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