Der neueMann für das Kulturelle
Die Ernennung des neuen EU-Kommissars für Kultur und Bildung provozierte Kontroversen. Wer ist Tibor Navracsics?
BUDAPEST. „Tibor Navracsics genießt mein volles Vertrauen, er hat bei der Anhörung eine exzellente Figur gemacht und ein starkes europäisches Engagement gezeigt“, gab der neue Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker zu Protokoll.
Ob dieseWorte über den kurz danach vom EU-Parlament bestätigten ungarischen Anwärter für das Amt des EU-Kommissars für Kultur und Bildung ernst gemeint waren, darüber wird in Budapest seither gestritten. Einiges spricht dafür, dass die Äußerung eher ironisch gemeint war. Schließlich waren nicht wenige Kommissarsposten so besetzt worden, als ob Juncker die oft absurden Nominierungen der Nationalstaaten vorführen wollte. So wird der britische Konservative und Finanzberater Jonathan Hill zuständig für Finanzdienstleistungen sein, aus Londoner Perspektive ein empfindlicher Politikbereich. Nur logisch also, sagen Kritiker, wenn Viktor Orbáns GefolgsmannNavracsics das Portfolio Kultur und Bildung bekommt. Diese zwei Bereiche tritt die rechtspopulistische Regierung in Budapest seit Jahren mit Füßen.
Der Kulturausschuss des Europaparlaments sah das anscheinend ähnlich: Mit neun „Nein“-Stimmen aus 16 erteilte der Ausschuss dem Fidesz-Mann aus Ungarn Anfang des Monats zunächst eine Zurückweisung. Um der Ernennung von Navracsics zum EU-Kommissar zuzustimmen, forderten die Mitglieder schließlich eine Veränderung seines Portfolios. Dem ist Juncker nachgekommen: Tibor Navracsics wird in der neuen EU-Kommission für die Bereiche Bildung, Kultur, Jugend und Sport zuständig sein. Die Agenden der Bürgerrechte hingegen werden dem griechischen EUKommissar Dimitris Avramopoulos weitergereicht.
Mit TiborNavracsics wurde einer der „Kunsthandwerker der Orbán’schen illiberalen Demokratie“, wie ihn etwa das ungarische Nachrichtenportal 444.hu nennt, zum neuen EU-Kommissar.
Wer ist Tibor Navracsics? Der 48jährige Jurist stammt aus Veszprém, unweit vom Balaton. Seine Eltern arbeiteten als Lehrer, die Familie ist kroatischer Herkunft. Nach dem Hochschulabschluss in Budapest 1990 studierte Navracsics im englischen Brighton weiter und promovierte 1999 in Politikwissenschaft.
Es folgten eine wissenschaftliche Karriere als Dozent für Jus und Politologie in Budapest und eine Karriere in der rechtskonservativen Partei Fidesz. Unter der ersten Orbán-Regierung von 1998 bis 2002 war Tibor Navracsics Leiter der Kommunikationsstelle und des Presseamts des Ministerpräsidenten.
Nachdem die Partei 2002 die Wahlen verloren hatte, wurde er zum Stabschef des Fidesz-Vorsit-
„Ich unterstütze fest die Idee von Pluralismus undMedienfreiheit.“
Tibor Navracsics, EU-Kommissar zenden und wirkte am Verfassen der Programme mit, die Orbán acht Jahre später wieder an die Macht bringen sollten. 2006 zog Navracsics erstmals ins Parlament ein. Seine enge Beziehung zu Orbán wog parteiintern so viel, dass er gleich zum Fraktionschef gewählt wurde.
Nachdem die Wirtschaftskrise und Korruptionsskandale den ungarischen Sozialisten eine krachende Niederlage bei der Parlamentswahl 2010 eingebracht hatten, wurde Navracsics von Orbán zum Justizminister und Vizepremier ernannt – ein blitzartiger Aufstieg, der nicht wenige innerhalb wie au- ßerhalb der Partei verwunderte. Denn der neue konservative Star gehörte nicht zum exklusiven Kreis der Fidesz-Gründer, die in den späten 1980er- und frühen 1990er-Jahren eine Rolle in den Verhandlungen mit der Kommunistischen Partei und bei der Gründung des neuen, demokratischen Ungarns gespielt hatten.
Dies kompensierte Tibor Navracsics durch Akribie: Als Justizminister sah er sich bald vor der titanischenAufgabe, die von Viktor Orbán ausgerufene tief greifende „moralische und politische Reform“des Landes in Paragrafen zu übersetzen. So trägt die 2012 in Kraft getretene rechtsnationaleVerfassung, die dieMacht der Fidesz zementiert, ebenso die Signatur von Navracsics wie die darauf folgenden Änderungen und „Kardinalgesetze“, die immer weitere Institutionen und Segmente der Zivilgesellschaft unter die Kontrolle der Regierung brachten.
Obwohl Navracsics selbst nie direkt zuständig für Kultur oder Bildung war, wäre es ungerechtfertigt zu behaupten, dass er in diesen Bereichen fremdwäre. Als Justizminister unterzeichnete er zahlreiche Bestimmungen und Vorschriften, die Ungarns Kulturszene und Bildungssystem umgestalteten und oft in Aufruhr versetzten. So wurde die öffentliche Förderung für Künstler praktisch von der Mitgliedschaft in der Ungarischen Kunstakademie ( MMA) abhängig gemacht – einem rechtsnational orientierten privaten Verein, dessen Vorsitzender in der Vergangenheit durch antisemitische und homophobe Äußerungen auffiel.
Als Folge eines weiteren Gesetzes droht Studierenden, die nach dem AbschlussUngarn verlassen wollen, eine Rückforderung ihrer Studienkosten.
Darüber, ob solche Gesetze ein „starkes europäisches Engagement“zeigen, haben sich in den vergangenen Tagen in Budapest manche gewundert.