„Mein Vater ließ sich nicht kaufen“
Schanna Nemzowa trauert um ihren ermordeten Vater. Und zwar in Bayern.
Schanna Nemzowa trauert um ihren ermordeten Vater, den russischen Oppositionspolitiker Boris Nemzow. Nach seinem Tod flüchtete sie nach Bayern zu einem engen Freund ihres Vaters. Die SN trafen sie dort zum Interview. In Moskau zweifeln indes Weggefährten von Boris Nemzow das angeblich islamistische Tatmotiv an. Nemzows langjähriger Mitarbeiter Ilja Jaschin sagte, diese Version diene dazu, die Rolle des Kremls herunterzuspielen.
Nie wird sie diesen Moment vergessen. „Ich war schon eingeschlafen“, erzählt Schanna Nemzowa (30), die Tochter des ermordeten russischen Oppositionsführers Boris Nemzow. „Da weckten mich Schreie auf, ganz schreckliche Schreie, wie ich sie nie zuvor gehört habe.“Schanna hält kurz inne. „Ich dachte erst, wir werden überfallen, da sind Einbrecher. Mama konnte kaum reden, und als sie dann herausbrachte, dass Papa tot ist, wollte ich es erst gar nicht glauben.“
Es war am Freitag, dem 27. Februar, als Boris Nemzow in Sichtweite des Kremls erschossen wurde. Er war auf dem Heimweg gewesen, zusammen mit seiner ukrainischen Lebensgefährtin Anna Durizkaja. Schanna und ihre Mutter rannten sofort los, erreichten den Tatort in 15 Minuten. „Da war schon eine Absperrung. Sie ließen uns nicht durch, prüften unsere Pässe. Viel zu lange. Als sie uns durchließen, war Papa schon weg.“Sie stockt für einen Moment. „Papas Leiche.“
Schanna kennt seither keine Ruhe mehr, kann nicht mehr schlafen. Nach der Beerdigung am vergangenen Dienstag suchte sie gemeinsam mit ihrer Mutter Zuflucht in Deutschland – bei Alfred Koch, der im Chiemgau eine neue Heimat gefunden hat. Der Ex-Vizepremierminister von Russland war ein enger Freund des Ermordeten. Koch ist vor Putin nach Bayern geflohen, hat aber auch im Exil Angst um sein Leben.
Schanna ist eine tatkräftige Person, sie stand schon früh auf eigenen Beinen. Ihr erstes Geld verdiente sie im Alter von 14 Jahren beim Radio. Mit 23 gründete sie gemeinsam mit ihrem inzwischen geschiedenen Mann eine Investmentfirma. Heute steht sie als Journalistin beim Moskauer Wirtschaftssender RBK vor der Kamera.
Es ist nicht leicht für sie, über ihren Vater zu sprechen, aber sie möchte von ihm erzählen. Wenige Stunden vor seiner Ermordung hatte er noch mit ihr telefoniert. „Er wollte mir etwas sagen. Aber jetzt werde ich nie erfahren, was das war.“Sie weint. „,Ich habe jetzt keine Zeit. Erzähl es mir später‘, habe ich ihm gesagt.“Ihre Worte tun ihr jetzt unendlich leid. „Ich liebte ihn mehr als alles.“
Boris Nemzow hinterlässt vier Kinder. Schanna ist die Älteste, hat zwei Halbschwestern und einen Halbbruder. „Er stand immer zu seinen Überzeugungen“, beschreibt ihn Schanna. „Er war Pazifist. Er hat sich schon bei Jelzin unbeliebt gemacht, weil er eine Million Unterschriften gegen den Tschetschenienkrieg gesammelt hat.“
In die Trauer über seinen Tod mischt sich im Laufe des Gesprächs immer wieder Stolz: „Er ließ sich nicht kaufen. Wenn er sich etwas vorgenommen hatte, wenn er etwas für richtig hielt, dann zog er es auch durch.“Ob ihn das sein Leben gekostet hat? Seine harte Kritik an Putin? „Ich bin mir sicher, es war ein politisch motivierter Mord“, sagt Schanna. „Er wurde umgebracht, weil er gegen die Machthaber war. Das ist klar. Und es wundert mich, dass es Menschen gibt, die sagen, er war nicht gefährlich. In einer Diktatur ist jeder Andersdenkende gefährlich. Je länger ein Diktator an der Macht ist, desto mehr Angst hat er.“
Der Psychoterror gegen ihn, die Beschimpfungen als Faschist und Verräter, die ständigen Anrufe mit Beschimpfungen: „Das alles setzte ihm zu, aber er sah es auch als Beleg dafür an, wie schwach und feige
„Ich habe kein Vertrauen in unseren Staat. Die Rechtsprechung spricht kein Recht.“
diese Machthaber sind“, sagt sie energisch. „Er meinte immer: ,Wir werden mit diesen Arschlöchern fertig.‘“
„Keine Schimpfwörter“, unterbricht sie ihre Mutter Raisa, die neben ihr sitzt. Schanna lächelt breit und etwas trotzig: „Genau so hat er es gesagt, und so sage ich es auch.“An eine Aufklärung des Mordes unter der heutigen Regierung glaubt sie nicht: „Irgendjemand wird bestraft werden, aber nicht der Schuldige. Ich habe kein Vertrauen in unseren Staat, die Rechtsprechung spricht kein Recht. Es schockiert mich, wie viele im Westen das nicht sehen wollen.“
Die russischen Behörden haben inzwischen fünf Tatverdächtige festgenommen, die aus dem Kaukasus stammen sollen. Sie wurden am Sonntag einer Haftrichterin vorgeführt. Einer der Männer legte angeblich ein Geständnis ab, die vier übrigen Verdächtigen wiesen die Anschuldigungen nach Angaben des Gerichts zurück.
Nemzow-Freund Koch, bei dem Schanna zu Gast ist, schüttelt angesichts dieser Nachrichten nur den Kopf: „Es sind die üblichen Verdächtigen, immer nach den politischen Morden der Vergangenheit wurden Männer aus dem Kaukasus als angebliche Täter präsentiert, und die Hintermänner wurden nie ermittelt. Jedes Mal das gleiche groteske Theater.“
Die Folgen des Mordes seien dramatisch, sagt Schanna: „Ich sehe keinen Oppositionspolitiker mehr in Russland, die Opposition ist enthauptet. Ihre Köpfe sind entweder im Ausland oder werden erpresst, wie Alexej Nawalny, dessen Bruder in Haft sitzt und der selbst unter Arrest steht.“Die Propaganda und der geschürte Hass seien so stark, dass ihnen selbst vernünftige Menschen oft zum Opfer fielen, klagt sie. Zurück nach Russland will sie dennoch: „Ich habe keine Angst.“Das liegt offenbar in der Familie.