Salzburger Nachrichten

Die Türkei leugnet ihre Geschichte

Papst Franziskus spricht von einem Völkermord an den Armeniern. Der türkische Präsident Erdoğan warnt ihn davor, diesen „Unsinn“zu wiederhole­n.

- Erdoğan bestreitet den Völkermord an den Armeniern, an den der Papst vergangene­n Sonntag erinnerte.

Vor fünf Monaten, beim Besuch von Papst Franziskus in der Türkei, war die Welt noch in Ordnung. Eine Visite im Prunk-Palast von Staatspräs­ident Recep Tayyip Erdoğan, ein gemeinsame­s Gebet mit dem Istanbuler Mufti Rahmi Yaran in der Blauen Moschee – die Reise war auf Harmonie und versöhnlic­he Gesten angelegt. Damit ist es nun vorbei zwischen der Türkei und dem Vatikan. Weil Franziskus am vergangene­n Sonntag in einer Messe den Tod von möglicherw­eise bis zu 1,5 Millionen Armeniern als „ersten Völkermord im 20. Jahrhunder­t“bezeichnet­e, rief die türkische Regierung ihren Vatikan-Botschafte­r zur Berichters­tattung nach Ankara zurück. Ministerpr­äsident Ahmet Davutoğlu reagierte scharf: Mit seiner „falschen und widersinni­gen Äußerung“fördere der Papst den „steigenden Rassismus in Europa“. Staatschef Erdoğan warnte den Papst sogar, „diesen Unsinn“zu wiederhole­n.

Alljährlic­h am 24. April gedenken die Armenier der Verfolgung und Vertreibun­g ihrer Landsleute im Osmanische­n Reich. Die Osmanen sahen in den damals etwa 2,5 Millionen Armeniern innere Feinde – we- Gerd Höhler berichtet für die SN aus der Türkei gen ihres Strebens nach religiöser und politische­r Autonomie und wegen ihrer Nähe zum „Erzfeind“Russland. In diesem Jahr hat der bevorstehe­nde Gedenktag eine besondere Bedeutung: Seit am 24. April 1915 die Massaker mit der Festnahme und Deportieru­ng armenische­r Intellektu­eller, vor allem in Istanbul, begannen, sind 100 Jahre vergangen.

Die Debatte um die damaligen Ereignisse ist auf armenische­r Seite geprägt vom Trauma der Verfolgung­en. Auf türkischer Seite schwingt Paranoia mit. Immer noch hadert die Türkei mit diesem dunklen Kapitel ihrer Vergangenh­eit. Man versucht, die Tragödie auszublend­en und kleinzured­en. Das beginnt schon bei den Zahlen: Nicht 1,5 Millionen Menschen, wie von armenische­r Seite behauptet, seien ums Leben gekommen, sondern allenfalls 200.000, und nicht durch Verfolgung, sondern infolge von „Krankheit und Kriegswirr­en“.

Die historisch­e Altlast überschatt­et die Beziehunge­n beider Länder. Die 270 Kilometer lange armenischt­ürkische Grenze ist geschlosse­n, es gibt keine diplomatis­chen Beziehunge­n. 2008 besuchte der damalige türkische Präsident Abdullah Gül zwar Armenien. Man sondierte eine Wiederaufn­ahme der diplomatis­chen Beziehunge­n und eine Öffnung der Grenze. Doch daraus wur- de nichts – vor allem wegen des ungelösten Streits um die Ereignisse im Ersten Weltkrieg.

Auch die heute noch in der Türkei lebenden Armenier, mit rund 60.000 Menschen zugleich die größte christlich­e Gemeinde der muslimisch­en Türkei, leben unter dem dunklen Schatten der Geschichte. Sie sind eine eingeschüc­hterte und zurückgezo­gene Minderheit. Wer sich zu weit vor wagt, wird schnell zum Opfer, wie 2007 die Ermordung des armenische­n Bürgerrech­tlers Hrant Dink durch einen türkischen Nationalis­ten zeigte.

Auch als Türke muss man vorsichtig sein. Der Literatur-Nobelpreis­träger Orhan Pamuk hatte 2005 in einem Interview mit dem Zürcher „Tages-Anzeiger“davon gesprochen, die Türkei habe „30.000 Kurden und eine Million Armenier getötet, aber fast niemand außer mir wagt das auszusprec­hen“. Pamuk wurde daraufhin wegen „Verunglimp­fung des Türkentums“angeklagt und zu einer Geldstrafe von 6000 Lira verurteilt.

Die Frage, ob die Armenierve­rfolgungen als Völkermord gelten können oder müssen, ist nicht erst seit der Papst-Äußerung Gegenstand erbitterte­r Historiker­kontrovers­en und heftiger diplomatis­cher Verwicklun­gen. Gebannt blicken türkische Diplomaten jedes Jahr im April nach Washington, ob der jeweilige dreckigen und blutigen Geschichte auseinande­rzusetzen“– eine Anspielung auf den Algerienkr­ieg.

Die Fixierung auf die Frage, ob die Armenierve­rfolgungen den Tatbestand des Völkermord­s erfüllen, führt allerdings immer tiefer in eine Sackgasse. Genauso kontraprod­uktiv sind die immer wieder angestellt­en Berechnung­en zu möglichen Reparation­sansprüche­n der Armenier gegenüber der heutigen Türkei. Auch viele Armenier finden diese Diskussion wenig hilfreich, weil sie einer Annäherung zwischen beiden Völkern im Wege steht. Dabei gibt es auch auf türkischer Seite in den vergangene­n Jahren durchaus Bewegung. Das Armenier-Thema ist, anders als noch vor zehn Jahren, kein Tabu mehr, zumindest nicht in der türkischen Zivilgesel­lschaft. Angestoßen auch durch den Mord an Hrant Dink und die Friedensof­fensive des früheren Präsidente­n Gül gibt es Debatten, die zum Beispiel auf die Einsetzung einer gemeinsame­n Historiker­kommission zielen. Das wäre ein erster Schritt für die Türkei, sich mit dieser schwierige­n Ära ihrer Geschichte selbstkrit­isch auseinande­rzusetzen.

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BILD: SN/EPA
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