Warum Syrer die riskante Route übers Meer wählen
Der Krieg in Syrien ist einer der Gründe für das Flüchtlingsdrama auf dem Mittelmeer. Fast jeder Zweite flieht.
Allein in Italien landeten im Jahr 2014 mehr als 170.000 Boatpeople, das sind mehr als 460 pro Tag. Von den Flüchtlingen, die in Italien ankamen, waren rund 40.000 Syrer. SN: Immer mehr Syrer fliehen übers Meer statt über den Landweg. Warum? Jonathan Spyer: Der Großteil der Flüchtlinge ist in den Nachbarstaaten Türkei, Irak, Jordanien und Libanon. Mehr als drei Millionen Syrer sind in diese Länder geflohen. Zusätzlich sind zwischen acht und neun Millionen Menschen innerhalb Syriens auf der Flucht. Wer geht warum wohin? Die meisten versuchen, die nächstgelegene Grenze zu erreichen. SN: Die, die nach Europa wollen, wählen den riskanten Weg übers Wasser. Warum? Die Landroute ist der längere Weg. Man müsste durch die Türkei, durch Bulgarien, Rumänien, Ungarn. Zudem sind die Landgrenzen gut bewacht, zum Teil auch vermint. Außerdem: Es wäre unvorstellbar, dass sich 800 Menschen auf einmal einem Grenzposten nähern. Aber 800 Menschen, zusammengepfercht auf einem Schiff, davon wurden wir gerade Zeuge. SN: Wie ist die Lage in den Nachbarländern? Das variiert von Land zu Land. In der Türkei zum Beispiel ist die Unterbringung von Flüchtlingen ganz in Ordnung, nicht luxuriös, aber die Leute haben Zelte, Schutz vor dem Wetter, Essen, sanitäre Anlagen, Gesundheitsversorgung. Anders ist die Lage im Libanon. Die meisten kommen inoffiziell über die Grenze, schlagen sich in die libanesischen Städte durch, um dort irgendwo Arbeit zu finden. Das hat soziale Probleme geschaffen, weil die Flüchtlinge viel billiger arbeiten als die Libanesen selbst. Diese fürchten um ihre Jobs. SN: Wie intensiv bekämpft das syrische Regime die Terrormiliz „Islamischer Staat“? Bis vor Kurzem überhaupt nicht. Der IS dominiert den Osten Syriens, das Regime den Süden und den Westen. Man ließ sich in Ruhe. Das hat sich in den letzten Wochen geändert, weil der IS in Gebiete drängt, die von der syrischen Regie- rung kontrolliert werden. Der wichtigste Vorstoß war am 1. April, als der IS einen Angriff im palästinensischen Flüchtlingslager Jarmuk begann. Das liegt in einer östlichen Vorstadt von Damaskus. In der Folge bekämpften Palästinenser und Regime den IS. Vom Standpunkt des syrischen Regimes aus gab es bis dahin keinen Grund, etwas zu tun. Der IS hat Vorteile für Baschar al-Assad. Er kann sagen: „Schaut doch, wir haben es hier nicht mit einer Rebellion zu tun, sondern mit verrückten Dschihadis.“ SN: Angesichts der Flüchtlingstragödien auf dem Mittelmeer heißt es oft, man muss die Probleme in den Herkunftsländern lösen. Wie soll das im Fall Syrien gehen? Europa kann das syrische Problem nicht lösen. Zudem ist das syrische Problem Teil einer viel größeren Krise, die die ganze arabischsprechende Welt betrifft. Den Irak, den Jemen, Ägypten. Europa kann das nicht lösen. Es ist ein Prozess, der sich fortsetzen wird. Ob uns das gefällt oder nicht. Was Europa oder die USA tun können, ist, das Schlimmste zu verhindern, etwa einen Genozid an den Jesiden.
Jonathan Spyer