Zwei Kandidaten ringen um Volksnähe
EDINBURGH, LONDON. Wieder einmal blicken die Briten voller Aufregung in Richtung Norden. Schottland mischt kurz vor der Parlamentswahl am 7. Mai die Politik auf – wie bereits im September 2014, als die Schotten mit einem Referendum über die Abspaltung vom Königreich die Zukunft des Landes in der Hand hielten. Nun drehen sich die Diskussionen auf der Insel abermals um diesen Landesteil. Eine Genugtuung für jene, die bei der Volksabstimmung mit ihrem Verlangen nach einer Sezession gescheitert sind.
Die Vorsitzende der Schottischen Nationalpartei (SNP), Nicola Sturgeon, bot sich Ed Milibands LabourPartei bereits häufiger als Partnerin an, sollten weder die Tories noch die Sozialdemokraten eine absolute Mehrheit erringen. Danach sieht es zurzeit aus: Die beiden großen Parteien liegen laut Umfragen etwa gleichauf, die Wahl ist so spannend wie kaum eine zuvor.
„Wir haben die Chance, David Cameron aus Downing Street Nr. 10 zu werfen. Verschließen Sie sich dem nicht, das werden Ihnen die Leute nie verzeihen“, beschwor die SNP-Chefin den Oppositionsführer etwa bei einer TV-Debatte. Die Politikerin traf mit ihrer Aussage genau ins Herz von Labour – und das Argument der Konservativen.
Camerons Tories warnen seit Wochen vor der „furchterregenden Aussicht für das Vereinigte Königreich“, wie es der Premier in dieser Woche bezeichnete, sollte sich Labour von den ebenfalls sozialdemokratisch ausgerichteten schottischen Nationalisten in einer Minderheitsregierung dulden lassen oder gar eine Koalition eingehen. „Die Partei, die unser Land bankrott macht, und die Partei, die es auseinanderreißen will – ist es das, was ihr wollt?“, so fragte Cameron. Der amtierende Premier versucht, mit anschwellender Rhetorik Boden gutzumachen. Die SNP wird zum Wahlkampfinstrument.
Oppositionsführer Ed Miliband weiß jedoch um das Risiko: Die Wähler in England würden es ihm kaum verzeihen, würde er die nach mehr Autonomie strebenden Der 48-jährige David Cameron will ein zweites Mal Premierminister werden. Dafür gibt er sich volksnah – ein Attribut allerdings, das Beobachter dem Absolventen der privaten Eliteschule Eton und der Universität Oxford nicht unbedingt zuschreiben würden. Cameron – Sohn eines Börsenmaklers und einer Adelsdame – misslang das öffentliche Essen eines Hotdogs. Sein Rivale wiederum scheiterte beim öffentlichen Hamburger-Verspeisen . . . Der 45-jährige Ed Miliband habe das Zeug zum Premier, finden nun 33 Prozent der britischen Wähler. Doch viele Anhänger von Labour rügen, dass der etwas steif und jugendlich-intellektuell wirkende Politiker bei einem Großteil der Wähler nicht authentisch genug ankomme. Annäherungsversuche Milibands – Ex-Journalist, verheiratet mit einer Rechtsanwältin – ans einfache Volk gingen meist schief. Schotten an der Macht beteiligen. Gleichwohl muss er jedoch befürchten, dass seine Partei im hohen Norden den Großteil ihrer Sitze an die SNP verliert. Zwar waren die Unabhängigkeitsbefürworter im vorigen Herbst mit ihrer Forderung nach Eigenständigkeit gescheitert. Doch seither erlebt die Partei einen ungeahnten Aufschwung, sie konnte ihre Mitgliederzahl vervierfachen. Trotzdem erteilte Miliband der SNP-Chefin Sturgeon während der direkten Konfrontation bei der TVDebatte eine Absage, wenn auch nur auf das Koalitions-Angebot.
Das Parteienspektrum auf der Insel, das jahrzehntelang von den Konservativen und Labour beherrscht worden ist, hat sich aufgefächert. Steht Großbritannien eine Zeitenwende bevor? Ist das Zweiparteiensystem am Ende?
Das britische Mehrheitswahlrecht begünstigt die beiden großen Parteien. Derjenige Politiker, der in seinem Wahlkreis mehr Kreuzchen bekommt, zieht ins Parlament ein; die Stimmen für die unterlegenen Kandidaten gehen verloren. Nun aber schauen plötzlich alle auf die Kleinen. Auf die Liberaldemokraten, die in den vergangenen fünf Jahren zusammen mit den Konservativen regiert haben. Auf die walisische Nationalpartei Plaid Cymru und die Grünen. Auf die rechtspopulistische Unabhängigkeitspartei Ukip, die vor allem seit der Europawahl 2014 mit ihrer Stimmungsmache gegen die EU und Einwanderer an Boden gewinnt. Und nicht zuletzt auf die SNP, die seit dem Referendum zur drittgrößten Partei des Landes aufgestiegen ist, obwohl sie nur in Schottland antritt.
Sie gilt als Königsmacher. Selbst wenn Labour nicht zur stärksten Partei werden sollte, sieht die Lage für die Sozialdemokraten deutlich besser aus als für Cameron. Laut jüngsten Umfragen dürfen die Schotten auf bis zu 50 der insgesamt 650 Parlamentssitze hoffen. Damit könnten sie Labour-Spitzenkandidat Miliband in die Downing Street Nr. 10, dem Amtssitz des Pre- miers, verhelfen. Zudem bietet sich für den Oppositionsführer die Möglichkeit, die Waliser und Camerons bisherigen Koalitionspartner Nick Clegg von den Liberaldemokraten auf seine Seite zu ziehen.
Und die Tories? Sie stehen ziemlich allein auf weiter Flur. Ein Bündnis mit Ukip kommt nicht in Frage. Gleichwohl sind es die Rechtspopulisten, die den Konservativen zusetzen, vor allem an der Ostküste – auch wenn sie immer wieder für Skandale sorgen.
Die Abstimmung am 7. Mai dürfte eine Richtungswahl werden. Nicht nur für Cameron und Miliband, sondern vor allem für das Zweiparteiensystem, das viele Briten für antiquiert und ausgedient halten. Ein Drittel der stimmberechtigten Bevölkerung kündigte schon jetzt an, nicht für die Großen – die Konservativen und die Sozialdemokraten – stimmen zu wollen. Die politische Landschaft ist fragmentierter geworden. Westminster erwartet das am buntesten zusammengesetzte Parlament seiner Geschichte. Das gilt genau zwei Wochen vor der Wahl als bisher einzige Gewissheit.