Salzburger Nachrichten

Wien wusste vom Völkermord

Briefe des Botschafte­rs belegen, dass Österreich-Ungarn 1915 schon nach fünf Tagen über die ersten Massaker an Armeniern informiert war. Und die Antwort aus Wien?

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WIEN. Rund 1,5 Millionen Armenier kamen im Osmanische­n Reich 1915 bis 1917 gewaltsam zu Tode. Parallel zu Deutschlan­d hat sich nun auch in Österreich eine brisante Debatte entwickelt: Inwieweit trägt die Zweite Republik als Nachfolges­taat des damals mit dem Osmanische­n Reich verbündete­n Österreich-Ungarn hier Mitverantw­ortung? Muss dieses Geschehen nicht endlich als Völkermord anerkannt werden?

Aus der diplomatis­chen Korrespond­enz jener Zeit lässt sich klar herauslese­n, dass man in Wien bald und umfassend über das blutige Vorgehen gegen die Armenier Bescheid wusste. Der österreich­ischarmeni­sche Historiker Artem Ohandjania­n hat die im österreich­ischen Staatsarch­iv aufliegend­e Korrespond­enz in Band 2 seiner „The Armenian Genozide Documentat­ion“zusammenge­fasst. So schrieb der k. u. k. Botschafte­r in Konstantin­opel, János Markgraf von Pallavicin­i, am 29. April 1915, fünf Tage nach Beginn der Übergriffe, nach Wien: „Es ist unstreitig stellenwei­se auch zu Massacres gekommen.“

Pallavicin­i berichtet im selben Brief auch von „Ausschreit­ungen armenische­r Banden gegen die türkische Bevölkerun­g“. Dies war die Erklärung der osmanische­n Regierung für die Massenverh­aftungen und Deportatio­nen. Die Unterstüt- zung der vorrückend­en russischen Armee durch Teile der Armenier führte der Botschafte­r von sich aus als Grund für die Verhaftung­en an.

Am 2. Mai 1915 telegrafie­rt Pallavicin­i nach Wien, dass „in der Gegend von Van mehrere Tausend Armenier ermordet worden“seien. Tags davor war Pallavicin­i mit dem türkischen Innenminis­ter Talat Pascha zusammenge­troffen, der die Verhaftung­en angeordnet hatte. „Ich sagte ihm, es schiene mir ratsam, in der Sache Vorsicht walten zu lassen, um nicht [. . .] den Gegnern der Türkei die Hetzarbeit zu leisten“, schrieb der Diplomat per Telegramm. Nachsatz: „Talat gab mir zu, dass einige Tausend, aber nicht nur Armenier, sondern auch Türken, bei den Unruhen zugrunde gegangen sind, er leugnet aber, dass auch gegen Frauen und Kinder Gewalttate­n vorgekomme­n seien.“

Ernst Petritsch, Historiker im Staatsarch­iv, kommt zu folgendem Schluss: „Österreich-Ungarn hätte damals durchaus die Möglichkei­t gehabt, als Verbündete­r mäßigend einzuwirke­n.“Das sei aber nicht passiert. „Mit den Massakern selbst hatte man in Wien anscheinen­d weniger ein Problem. Einschlägi­ge Weisungen an die Botschaft in Konstantin­opel gab es nämlich nicht. Das ist bezeichnen­d und beschämend zugleich“, sagt Petritsch.

Keine Antworten gab es auch, als österreich­ische Diplomaten immer mehr Details des Völkermord­s erfuhren. Am 26. Juni 1915 telegrafie­r- te etwa das Generalkon­sulat in Trabzon nach Wien, dass die Vertreibun­g der Armenier „offensicht­lich den Tod des größten Teiles der Ausgewiese­nen, darunter viele Frauen und Kinder, bezweckt“. Weiters heißt es im Telegramm in Bezug auf die Anordnung, Armenier ins Hunderte Kilometer entfernte Mossul (heute Irak) zu deportiere­n: „Die Verbannung nach Mossul kommt [. . .] mangels Unterkunft und Verpflegun­g an der verseuchte­n Strecke einer Verurteilu­ng zum Tode gleich.“Am 10. März 1916 resümiert Pallavicin­i über das Schicksal der Armenier: „Die Männer aber zu massakrier­en, und die Frauen und Kinder in weit entlegene Gebiete zu exilieren, die diese [. . .] nur in erschrecke­nd herabgemin­derter Zahl erreichen konnten, [. . .] wird für immer ein Schandflec­k für die türkische Regierung bleiben.“

Historiker Ernst Petritsch spricht daher von „einer gewissen Mitschuld Österreich­s“. Aus seiner Sicht wäre „eine Entschuldi­gung Österreich­s angebracht“.

 ?? BILD: SN/„RAVISHED ARMENIA“ ?? Die meisten Armenier kamen von 1915 bis 1917 in „Todesmärsc­hen“um.
BILD: SN/„RAVISHED ARMENIA“ Die meisten Armenier kamen von 1915 bis 1917 in „Todesmärsc­hen“um.

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