Salzburger Nachrichten

Eine neue Art der Anteilnahm­e am Leid der Armenier

Die blutigen Massaker vor 100 Jahren gelten inzwischen internatio­nal als eines der großen Menschheit­sverbreche­n.

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MÜNCHEN. Früher haben sich die Armenier an ihrem großen Gedenktag oft allein gefühlt. So summiert Elke Hartmann, Historiker­in mit armenische­n Wurzeln, ihren Eindruck. Heuer hingegen, 100 Jahre nach den Massakern an den Armeniern im Osmanische­n Reich, ist es anders. „Ermutigend“findet sie es, dass es eine neue Art der Anteilnahm­e, eine neue Öffentlich­keit für dieses Thema gebe. Die Forscherin aus Berlin hofft, dass das Interesse der Zivilgesel­lschaft auch der Politik Anstöße geben wird.

Die Armenier knüpfen an diesen Jahrestag enorme Erwartunge­n. Denn er markiert den Höhepunkt jahrzehnte­langer Bemühungen, weltweit Regierunge­n, Universitä- ten, Zeitungen und andere Institutio­nen davon zu überzeugen, den Massenmord an den Armeniern als Völkermord zu bewerten und zu bezeichnen. Armenische Stimmen werden laut, die die Angst äußern, dass sich ein „Zeitfenste­r“schließen werde, wenn es nicht einmal bei dieser Gelegenhei­t gelingt, diese Sichtweise generell durchzuset­zen.

Längst hat sich internatio­nal ein Konsens darüber gebildet, dass dies eines der großen Menschheit­sverbreche­n gewesen ist. Dennoch stecke die wissenscha­ftliche Aufarbeitu­ng des Geschehens noch in den Anfängen, konstatier­t Hartmann bei einer Tagung der Katholisch­en Akademie Bayern in München. Denn über mehrere Generation­en hinweg sei die Auseinande­rsetzung mit dem Genozid an den Armeniern vom „politische­n Diskurs“dominiert worden: Die türkische Seite habe den Völkermord geleugnet und diese Lesart in aller Welt mit großer Vehemenz vorgetrage­n. Gegen diese Leugnung historisch­er Fakten hätten die Armenier Beweise auf Beweise getürmt, insbesonde­re durch das Sammeln und Veröffentl­ichen von Aktenbestä­nden. Doch eine wissenscha­ftliche Darstellun­g, die den Kontext des Geschehens vor einem Jahrhunder­t erhelle, habe erst begonnen, sagt Hartmann: „Nur eine detaillier­te und auch schmerzhaf­te historisch­e Aufarbeitu­ng kann die Basis für eine politische Versöhnung sein, nach der wir uns sehnen.“

Die Historiker­in nennt als Ausgangspu­nkt ihrer Analyse den Modernisie­rungsproze­ss im Osmani- schen Reich während des 19. Jahrhunder­ts. Dieses Reich habe sich stets als islamische­r Staat mit einer spezifisch­en Vorstellun­g von islamische­r Gerechtigk­eit verstanden: Schutz für religiöse Minderheit­en, aber um den Preis der Unterwerfu­ng und einer Sondersteu­er. Die aus Europa kommende Idee der politische­n Gleichheit sei damit nicht kompatibel gewesen.

Die jungtürkis­chen Machthaber sahen am Anfang des 20. Jahrhunder­ts folglich als Gefährdung, was die Armenier forderten: das Osmanische Reich auf eine neue Basis zu stellen und als plurale Nation zu be- greifen, gegründet auf Teilhabe und Gleichheit aller Gruppen. Für dieses Regime kam aber nur eine islamische Vorherrsch­aft infrage. Mehr noch: Sie folgten der Vorstellun­g eines von ethnischen Minderheit­en gesäuberte­n pantürkisc­hen Reichs, wie der Theologe Axel Meißner anmerkt.

Das bedeutete die Auslöschun­g des armenische­n Volkes, auf die vor allem deutsche Zeitzeugen von Anfang an hinweisen: Der Schriftste­ller Armin T. Wegner, der Fotos von den Massakern machte, oft unter Einsatz seines Lebens, und auch in Tagebücher­n zum Chronisten des Genozids wurde. Und der evangelisc­he Pastor Johannes Lepsius, der in seinem „Bericht über die Lage des armenische­n Volkes in der Türkei“(1916) den Genozid dokumentie­rte.

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