Erinnern ist gut, vergessen ist besser
Ohne das Vergessen würden wir den Blick auf Wesentliches verlieren. Auch in der digitalen Welt.
Elf Millionen Sinneseindrücke prasseln auf den Menschen ein. Jede Sekunde. Sinneseindrücke von elf Millionen Sinneszellen. Aber nur 40 nimmt das Gehirn auf und verarbeitet sie. Der Rest wird nicht beachtet und wieder vergessen.
In der digitalen Welt ist es ganz anders, denn „das Internet vergisst nichts“. Diese Redensart war lange gültig. Nicht selten war sie eine Drohung.
Vor einem Jahr hat dann der Europäische Gerichtshof entschieden, dass Bürger das Recht auf Vergessen im Internet haben. Vor allem, wenn Persönlichkeitsrechte verletzt werden. Dieses Urteil war vor allem für Menschen ermutigend, die darunter litten, dass längst Vergessenes online immer wieder auftauchte: Schicksalsschläge, Fehler und Jugendsünden.
Manche sehen aber auch im Recht auf Vergessen eine Drohung. Große Worte wie Zensur und der Verlust von Geschichte werden dabei in den Mund genommen. Von Wikipedia-Grün- der Jimmy Wales oder Web-Erfinder Tim Berners-Lee zum Beispiel. Aber auch sie vergessen etwas – wesentliche Fakten:
Im Internet werden mittlerweile unzählige Informationen gespeichert. Trotzdem ist alles Gespeicherte nur ein Bruchteil der Wirklichkeit. Es wäre daher viel eher eine Verfälschung der Geschichte und der Gegenwart, wenn man nur das für existent halten würde, was online zu finden ist.
Bei den im Internet vorhandenen Informationen ist auch zu hinterfragen, ob sie noch richtig sind. Vieles ändert sich, Falsches müsste korrigiert werden. Wird es aber nicht.
Wenn die gefundenen Informationen richtig sind, ist außerdem zu bewerten, in welchem Zusammenhang sie dargestellt sind und ob richtige Schlüsse daraus gezogen werden.
Alles in allem haben wir durch das Internet noch immer eine höchst unzureichende Sicht auf unsere Welt.
Dennoch werden wir mit der Informationsfülle jetzt schon nicht fertig. Daher versuchen Suchmaschinen wie Google, wenig Relevantes automatisch zu erkennen und aus den Suchergebnissen zu filtern. Eine Maschine erkennt Wichtiges und vergisst Unwichtiges. Gleichzeitig sprechen Kritiker des Rechts auf Vergessen dem Menschen das Recht ab, in das Informationsgefüge des Internets einzugreifen. Na bravo! Haben Maschinen in ihren Augen eine bessere Urteilsfähigkeit als Menschen? Zählen menschliche Werte und Bewertungen weniger als mathematische Algorithmen?
Unter Experten für soziale Medien gibt es den provokanten Spruch: Alle Informationen, die für mich wichtig sind, erreichen mich. Über das Internet. Dem ist nur hinzuzufügen: Alle Informationen, die für mich wesentlich sind, merke ich mir. Auch ohne Internet.
THOMAS.HOFBAUER@SALZBURG.COM