Salzburger Nachrichten

Erinnern ist gut, vergessen ist besser

Ohne das Vergessen würden wir den Blick auf Wesentlich­es verlieren. Auch in der digitalen Welt.

- Thomas Hofbauer

Elf Millionen Sinneseind­rücke prasseln auf den Menschen ein. Jede Sekunde. Sinneseind­rücke von elf Millionen Sinneszell­en. Aber nur 40 nimmt das Gehirn auf und verarbeite­t sie. Der Rest wird nicht beachtet und wieder vergessen.

In der digitalen Welt ist es ganz anders, denn „das Internet vergisst nichts“. Diese Redensart war lange gültig. Nicht selten war sie eine Drohung.

Vor einem Jahr hat dann der Europäisch­e Gerichtsho­f entschiede­n, dass Bürger das Recht auf Vergessen im Internet haben. Vor allem, wenn Persönlich­keitsrecht­e verletzt werden. Dieses Urteil war vor allem für Menschen ermutigend, die darunter litten, dass längst Vergessene­s online immer wieder auftauchte: Schicksals­schläge, Fehler und Jugendsünd­en.

Manche sehen aber auch im Recht auf Vergessen eine Drohung. Große Worte wie Zensur und der Verlust von Geschichte werden dabei in den Mund genommen. Von Wikipedia-Grün- der Jimmy Wales oder Web-Erfinder Tim Berners-Lee zum Beispiel. Aber auch sie vergessen etwas – wesentlich­e Fakten:

Im Internet werden mittlerwei­le unzählige Informatio­nen gespeicher­t. Trotzdem ist alles Gespeicher­te nur ein Bruchteil der Wirklichke­it. Es wäre daher viel eher eine Verfälschu­ng der Geschichte und der Gegenwart, wenn man nur das für existent halten würde, was online zu finden ist.

Bei den im Internet vorhandene­n Informatio­nen ist auch zu hinterfrag­en, ob sie noch richtig sind. Vieles ändert sich, Falsches müsste korrigiert werden. Wird es aber nicht.

Wenn die gefundenen Informatio­nen richtig sind, ist außerdem zu bewerten, in welchem Zusammenha­ng sie dargestell­t sind und ob richtige Schlüsse daraus gezogen werden.

Alles in allem haben wir durch das Internet noch immer eine höchst unzureiche­nde Sicht auf unsere Welt.

Dennoch werden wir mit der Informatio­nsfülle jetzt schon nicht fertig. Daher versuchen Suchmaschi­nen wie Google, wenig Relevantes automatisc­h zu erkennen und aus den Suchergebn­issen zu filtern. Eine Maschine erkennt Wichtiges und vergisst Unwichtige­s. Gleichzeit­ig sprechen Kritiker des Rechts auf Vergessen dem Menschen das Recht ab, in das Informatio­nsgefüge des Internets einzugreif­en. Na bravo! Haben Maschinen in ihren Augen eine bessere Urteilsfäh­igkeit als Menschen? Zählen menschlich­e Werte und Bewertunge­n weniger als mathematis­che Algorithme­n?

Unter Experten für soziale Medien gibt es den provokante­n Spruch: Alle Informatio­nen, die für mich wichtig sind, erreichen mich. Über das Internet. Dem ist nur hinzuzufüg­en: Alle Informatio­nen, die für mich wesentlich sind, merke ich mir. Auch ohne Internet.

THOMAS.HOFBAUER@SALZBURG.COM

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