Ägyptens Justiz ist in Misskredit
Zum ersten Mal in der Geschichte des modernen Ägyptens soll ein Ex-Präsident hingerichtet werden. Menschenrechtler werten das Verfahren gegen den Islamisten Mursi und mehr als 100 politische Weggefährten als Farce.
Mit mehr als 100 Todesurteilen, ausgesprochen in einer monotonen, zehnminütigen Urteilsverkündung, stellte der ägyptische Richter Schaaban al-Schami am Samstag keineswegs einen neuen Rekord auf. Ein Kollege in der oberägyptischen Stadt Minia hatte im April 2014 gegen 683 Funktionäre und Anhänger der verbotenen Muslimbruderschaft die Höchststrafe verhängt. Doch zum ersten Mal in der Geschichte des modernen Ägyptens soll nun mit Mohammed Mursi ein Ex-Präsident sein Leben am Strang lassen.
Noch sind die Urteile, die international auf deutliche Kritik stie- ßen, nicht rechtskräftig. Solche Massenprozesse seien unvereinbar mit dem Grundsatz der Rechtsstaatlichkeit und den internationalen Verpflichtungen Ägyptens, rügte jetzt das US-Außenministerium.
Der jüngste Monsterprozess basierte auf einer fantastisch anmutenden Anklage: Die Verurteilten sollen sich im Jänner 2011 mit der palästinensischen Hamas-Miliz und der proiranischen Hisbollah aus dem Libanon zu einem Gefängnisausbruch verschworen haben. Einige von ihnen, darunter Chairat al-Schater, einst politisches Schwergewicht der Bruderschaft, sollen mit der Hamas und der Hisbollah, den Erzfeinden des gegenwärtigen ägyptischen Regimes, konspiriert haben, um das Land zu destabilisieren.
Die Anschuldigungen beziehen sich auf eine reale Episode im „arabischen Frühling“, als Massenproteste 2011 in einem erbitterten 18tägigen Ringen den Langzeitherrscher Hosni Mubarak zum Rücktritt zwangen. Die Muslimbrüder – unter Mubarak illegal, aber geduldet – hatten mit der Revolution der eher linken, liberalen und weltlichen Jugend nichts zu tun. Dennoch ließ das Mubarak-Regime einige ihrer Führer, darunter Mursi und alSchater, nach dem Ausbruch der Revolte am 25. Jänner ins Hochsicherheitsgefängnis Wadi Natrun verfrachten. Am 28. Jänner kam es zu den schlimmsten Zusammenstößen auf dem Kairoer Tahrir-Platz: Mubaraks Sonderpolizei tötete Hunderte Demonstranten. Doch den Tahrir-Platz gaben die jungen Protestierer nicht auf. Mubaraks Innenminister Habib al-Adli zog daraufhin die Bewachung von etlichen Gefängnissen ab. Zehntausende Kriminelle sollten das Land überfluten, Chaos stiften und die Bevölkerung nach Mubarak rufen lassen. Doch diese Strategie ging am Ende nicht auf. Bald fiel die Wadi- Natrun-Episode als bloße Fußnote zum Umsturz von 2011 der Vergessenheit anheim. Erst als das Militär im Juli 2013 Mursi nach Massenprotesten gegen seine autoritär gewordene Herrschaft entmachtete, begann die Staatsanwaltschaft, daraus eine Anklage zu konstruieren.
Ägyptens Justiz sieht in den Prozessen gegen die Islamisten nicht gut aus. Das Kalkül? Unter dem Mursi-Stürzer Abdel Fattah al-Sisi gehe es der Armee und der Justiz darum, den Menschen einzubläuen, dass die politischen Freiheiten der Revolution von 2011 ein Irrtum, eine Illusion gewesen seien, meint die Sozialforscherin Mona El-Ghobashy in der US-Zeitung „New York Times“.
„Das Urteil ist ein Beleg für die völlige Missachtung der Menschenrechte.“