„Die Treue ist fix, aber auf Zeit“
In der Beziehung von Mann und Frau ist die Sexualität offener und wichtiger geworden. Der Seitensprung ist nicht in Mode, die Treue schon – solange die Beziehung hält.
SN: Ist Sexualität insgesamt bedeutsamer geworden? Wenn sich etwas geändert hat, dann das, dass Sexualität viel bewusster erlebt wird. Vor 100 Jahren war die Frage, bin ich sexy oder nicht, kein Thema. Heute definieren sich die Menschen dagegen sehr über ihre Körperlichkeit und ihre sexuelle Fitness. Es ist heute eine wichtige Frage für die Identität eines Menschen, welche Art von sexuellem Wesen ich bin. SN: Die sexuelle Identität scheint aber keine klare Grenze mehr zu sein. Alles ist möglich. Die Identitätsfindung durch die Sexualität ist tatsächlich vielfältiger und schwieriger geworden. Aber wenn wir das Beispiel Homosexualität nehmen: Die Zahl der Menschen mit fixierter Homosexualität hat nicht zugenommen. Es ist nur der Umgang mit der sexuellen und geschlechtlichen Rolle spieleri- scher geworden. Wirklich verändert hat sich, dass die Paare viel mehr bereit sind, sexuell zu experimentieren. Bei einer Befragung von Studentenpaaren im Jahr 2012 sagten 46 Prozent der Männer und 44 Prozent der Frauen, dass sie sich gemeinsam Pornos anschauen. Es gibt also einen differenzierteren Umgang mit Sexualität. SN: Gibt es den Wunsch nach einer dauerhaften Beziehung? Für die meisten jungen Leute ist Treue wichtiger, als das früher der Fall war. Der Seitensprung spielt eine viel geringere Rolle als in den 1960er-Jahren. Weniger als 20 Prozent sagen, ich bin in der gegenwärtigen Beziehung fremdgegangen.
In einer Beziehung wird die Treue also in ganz hohem Maße ernst genommen. Allerdings gilt das eher im Sinne der sogenannten seriellen Monogamie. Man ist bereit, mit dem anderen treu zusammenzuleben, aber man ist auch bereit zu sagen, ich liebe dich nicht mehr, ich habe jemand anderen gefunden. SN: Wenn Treue in der Beziehung so „in“ist, warum halten viele Beziehungen dann nicht länger? Das hat mit den ökonomischen Verhältnissen zu tun, aber auch damit, dass Frauen heute viel eher sagen, was sie möchten und was nicht. In der klassischen Zeit des Patriarchats hatten die Männer die ökonomische Macht, die Frau konnte es sich gar nicht leisten, keinen Mann zu haben. Das hat vieles zugedeckt.
Insofern sind die Verhältnisse heute natürlicher. Wenn Menschen die freie Wahl haben, kommt es schneller zur Trennung, weil man dann auch Konflikten offener und weniger ängstlich ins Auge schaut.
Zudem sind wir in allen Lebensbereichen von den Werten der Konsumgesellschaft beherrscht. Die Möglichkeit der Wahl wird in demokratischen Gesellschaften politisch und ökonomisch sehr stark in den Vordergrund gestellt. Daher lebt jeder in dem Bewusstsein, ich habe noch eine Wahl. Auch im Hinblick auf Beziehungsangebote und auf dem „Heiratsmarkt“. SN: Früher war also die Treue auf Dauer erzwungen, jetzt gibt es die Treue auf Zeit? So könnte man das sehr verkürzt formulieren.
Wolfgang Berner,