Im Schatten des roten Drachen
Einst Fluchtpunkt vor Mao Tse Tungs Kommunisten, zeigt die Inselrepublik Taiwan Fortschritt und Marktwirtschaft, aber auch stolz ihre Kulturschätze.
Es geht aufwärts. Besuchern stockt der Atem. Mit rund 60 km/h rast der Aufzug zur verglasten Aussichtsplattform im 89. Stockwerk des Taipeh 101. Mit 508 Metern ist der taiwanesische Wolkenkratzer zwar seit 2010 nicht mehr das höchste Gebäude der Welt, aber er darf sich noch immer rühmen, den schnellsten Aufzug der Welt zu besitzen.
Von der Aussichtsplattform aus verschwimmt die geordnete Betriebsamkeit in den im Schachbrettmuster angelegten Straßen. 2,7 Millionen Einwohner, rund 770.000 Autos, davon etwa 33.000 gelbe Taxis, und über eine Million Motorroller verschmelzen zu einer Masse. Zu einem Alltag, in dem buddhistische Tempel, moderne Wolkenkratzer und überfüllte Nachtmärkte harmonisch nebeneinander existieren.
Der Turm der Superlative symbolisiert den Wandel Taiwans vom Agrarland zur führenden Hightech-Nation. Er steht für Selbstbewusstsein, Macht und wirtschaftliche Stabilität gegenüber Festland-China. Seit der Flucht Chiang Kai Sheks und seiner Kuomintang, der Nationalen Volkspartei, vor Mao Tse Tungs Kommunisten 1949 beanspruchen beide Länder für sich, der rechtmäßige Nachfolgestaat der Republik China zu sein.
Dem taiwanesischen Übervater wurde in Taipeh die Chiang Kai Shek Memorial Hall erbaut, im Westen respektlos als große weiße Zuckerdose mit blauem Deckel bezeichnet. Chiang Kai Shek wird auch vier Jahrzehnte nach seinem Tod tief verehrt, trotz seiner diktatorischen Anwandlungen. „Wir haben ihm eines der vier sehenswertesten Museen der Welt zu verdanken“, erzählt der deutschsprachige Guide Felix Chen Jia Sing stolz. „Bei seiner Flucht hat er die wertvollsten Ausstellungsstücke aus der Sammlung des letzten Kaisers Pu Yi mitgenommen, rund 620.000 Exponate, die er 1965 der Öffentlichkeit zugänglich machte.“Das Nationale Palastmuseum birgt heute die größte und bedeutendste Ausstellung chinesischer Kunst. Da immer nur etwa 15.000 Objekte gezeigt werden können, werden die Exponate alle drei Monate ausgetauscht. „Es vergehen mehr als zehn Jahre, bevor man jeden Gegenstand ein einziges Mal zu Gesicht bekommt“, rechnet Felix vor.
Lang vor dem Business Boom hatten im 16. Jahrhundert heiße Thermalquellen, subtropische Wälder und gigantische Bergmassive mit mehr als 290 Dreitausendern portugiesische Seefahrer zum Staunen gebracht. Kein Wunder, dass sie das Eiland „Ilha Formosa“, die wunderschöne Insel, tauften.
Zeit also für eine Landpartie. Etwa über enge Serpentinen und durch zahlreiche Tunnels an die Ostküste zur TarokoSchlucht und ihren meterhohen Marmorwänden. So immens sind die Vorkommen dieses edlen Materials, dass sogar der kleine Inlandsflughafen in Hualien gänzlich mit diesem Marmor verkleidet wurde.
Doch der Mythos Chiang Kai Sheks verfolgt Besucher bis zum malerischen SunMoon-Lake. In diesem Flitterwochen-Paradies verbrachte der Politiker am liebsten seine Ferien und ließ zu Ehren seiner Mutter die neunstöckige Tse-En-Pagode auf dem Sha-Ba-Lan-Berg erbauen. Nach so viel Landschaftsidyll kehrt man dann auch wieder gern in den Großstadtrummel zurück – nach Tainan, der ehemaligen Inselhauptstadt. In der viertgrößten Metropole geht es etwas beschaulicher zu. Es ist Mittag, das Thermometer hat die 30-Grad-Marke überschritten. Im Park vor dem ältesten Konfu- zius-Tempel Taiwans, Kung Tzu Miao, teilen sich Schulkinder mit Geschäftsleuten und Liebespaaren den Platz im Schatten der Bäume, um ihre Nudelsuppen aus Plastikbechern zu schlürfen. Für Fotos posieren sie jederzeit freundlich.
Südlich von Tainan liegt Fo Kuang Shan, die wichtigste buddhistische Anlage der Insel. Von vergoldeten Bäumen hängen Lichtergirlanden herab, überdimensionale, künstliche Lotosblüten öffnen und schließen quietschend ihre Blütenblätter, unzählige Buddha-Statuen lächeln den Besuchern entgegen. Nein, wir sind nicht in einem asiatischen Disneyland, sondern in Pure Land Cave. „Meister Hsing Yun hat es im Jahr 1982 eröffnet, um den Gläubigen den humanistischen Buddhismus näherzubringen“, kommt auch prompt die Erklärung des groß gewachsenen Mönchs Hue Shou in gelber Kutte, jener Farbe, die nur Mönchen und Kaisern vorbehalten ist – und zwar in bestem österreichischen Dialekt. Hue Shou heißt tatsächlich Gerhard und stammt aus Niederösterreich. Mit 16 Jahren verließ er sein Elternhaus, um in Wien und Südafrika seinen Lebensunterhalt zu bestreiten, bevor er sich vor wiederum rund 16 Jahren ins Kloster zurückzog, um ungestört die Lehren Buddhas zu studieren.
Zurück im reellen Leben, geht es mit dem Taiwan High Speed Rail – einem Hochgeschwindigkeitszug und weiterem Symbol für die dynamische Entwicklung Taiwans – zurück Richtung Norden. Mit 300 Stundenkilometern auf schnurgerader Strecke, 345 Kilometer lang. Die hohen Gipfel am Horizont verschwimmen zu einer einheitlichen Bergmasse. Nach 90 Minuten ist die rasante Fahrt vorbei, Taipeh erreicht. Doch wer weiß, mit welchem technischen Meisterwerk der kleine Inselstaat als Nächstes auftrumpft?