Das Charisma des Festes erwacht
In Salzburg entsteht im Sommer ein emotionell wie geistig fruchtbares Milieu. Doch dessen Kraftzentrum zeigt Schwächen.
In Salzburg bricht eine ungewöhnliche Zeit an. Was nun anders wird, haben die Schlangen von Wartenden in der Hofstallgasse erahnen lassen, die sich Anfang Juli Zählkarten für jene über 100 Veranstaltungen besorgt haben, die heute, Samstag, in der Altstadt bei freiem Eintritt geboten werden. Was anders wird, spielt sich zunächst in Kirchen ab, wo in der nächsten Woche zwei Weltreligionen – Hinduismus und Christentum – klingend zu erleben sind. Was anders wird, zeigt sich vor allem ab nächstem Wochenende, wenn mit „Eroberung von Mexico“, „Clavigo“und „Figaro“die ersten Neuinszenierungen über die Bühnen gehen.
Diese Andersartigkeit Salzburgs im Hochsommer beruht auf einer Paarung von Lebendigkeit und Auszeit: Für viele Menschen ruhen nun Alltags- und Arbeitspflichten; sie nehmen sich Zeit, um besser zu essen und zu trinken als sonst, um sich schöner zu kleiden, um sich emotionelle, musische und geistige Weiterbildung zu gönnen. Zugleich ringt die nun anbrechende Zeit vielen Menschen in Salzburg immensen Arbeitseinsatz ab. Dieses Treffen von Muße und Intensität ist typisch für ein Fest. Und Salzburg hat dazu ein Charisma, das heute erwacht: Es beginnt die Festspielzeit.
Bei aller Freude auf das Beginnende ist Sorge angebracht. Denn das Zentrum für dieses emotionell und geistig fruchtbare Milieu hat an Kraft verloren. Das Programm der Salzburger Festspiele ist wieder voller Opern, Theater und Konzerte, es kommen die Wiener Philharmoniker und andere Orchester. Für große Namen und für Qualität ist ge- sorgt – auch dank vorzüglicher Mitarbeiter in Bühnentechnik und Werkstätten. Doch hohe Maßstäbe sollten in Salzburg nicht nur erreicht, sie sollten hier erträumt und erfunden werden. Dafür mangelt es an Innovationskraft. Die wiederholte Erklärung zu „weltbesten Festspielen“entfaltet da weniger Trost als die Gefahr der Selbstgefälligkeit.
Um es in Worten der Wirtschaft zu sagen: Die Salzburger Festspiele sind wie ein Markt mit vielen Bluechips, was beachtlich ist. Aber es mangelt an Innovationsfeuer eines Silicon Valley. Warum? Sie werden aufs Eleganteste von Präsidentin Helga Rabl-Stadler repräsentiert. Doch ihnen fehlt heuer und 2016, was ihre Spitze sein sollte: ein Künstlerischer Leiter.
Ist das nicht Sven-Eric Bechtolf? Fairerweise ist festzustellen: Er ist als Schauspielchef nach Salzburg gekommen. Nach Alexander Pereiras Abgang nach Mailand ist er loyalerweise ins Direktorium aufgerückt. Denn dem Kuratorium ist nach dem Laufpass für Pereira nicht mehr eingefallen als ein zweijähriges Intermezzo – bis Markus Hinterhäuser 2017 Intendant wird.
Sven-Eric Bechtolf ist kein begnadeter Programmmacher, weder insgesamt noch im Schauspiel. Einige Besonderheiten, die er für seine Amtszeit verkündet und zuerst umgesetzt hat, wie Puppentheater, Uraufführung und Festspielschreiber, sind verpufft. Seine Großtat war der neue „Jedermann“, der nun, im drit- ten Jahr, gut intakt sein wird. Ansonsten ist Normalität angesagt: zwei Neuproduktionen, eine Koproduktion mit Berlin.
Sven-Eric Bechtolf zeigt heuer eine andere Vorliebe. Er inszeniert gern und treibt dies so weit, dass er einen neuen „Figaro“übernimmt und dazu noch – mit Julian Crouch – die „Dreigroschenoper“als heuer aufwendigste und vermutlich teuerste Schauspielproduktion. Es ist nicht erinnerlich, dass je ein Direktoriumsmitglied oder auch ein einfacher Regisseur in einem Festspielsommer zwei Neuinszenierungen betreut hätte. Kein Kuratorium hat dieser Selbstbeschäftigung Einhalt geboten. Aber gut, lassen wir Bechtolfs Freude und Leidenschaft beim Inszenieren auf unsere Zuversicht für die Premieren überspringen.
Salzburg zehrt heuer von seinem Charisma. Seine Festspiele werden derzeit gut verwaltet, sind aber kaum Born von Erneuerung. Doch dies wäre essenziell für eine Kunst, die nicht nur Bekanntes mehr oder weniger opulent weiterspielt.
Das Charisma ist noch immer üppig. Salzburg wird damit offener, sinnlicher und inspirierender; es öffnet sich für Musiker und bildende Künstler der Sommerakademien.
Wenn Kultur und Geist sich entfalten, entsteht Pracht. Und die ist heute Abend beim Fackeltanz ebenso zu sehen, wie wenn Brigitte Hobmeier als Buhlschaft im roten Kleid über den Domplatz wirbelt oder wenn Les Musiciens du Louvre die „Schöpfung“anstimmen. Also können wir einander guten Mutes als Gruß zurufen: Frohe Festspiele!
Die Spitze fehlt den Salzburger Festspielen