Salzburger Nachrichten

Wie es um die Pflege zu Hause steht

80 Prozent der 450.000 Pflegegeld­bezieher werden zu Hause betreut. Ein Berater berichtet.

- Wer sich für einen Hausbesuch interessie­rt, wendet sich ans Kompetenzz­entrum für Qualitätss­icherung in der häuslichen Pflege. 01/79706-2705; E-Mail: QUALITAETS­SICHERUNG@SVB.AT

WIEN. Ursprüngli­ch war es sein zweites Standbein. „Weil die Arbeit in der Pflege schlecht bezahlt ist“, sagt Philipp Dirnberger. Längst ist der diplomiert­e Krankenpfl­eger im Hauptberuf Geschäftsf­ührer der Aids Hilfe Wien. Von seinem Nebenberuf wollte er sich trotzdem nicht trennen. „Weil das Konzept ausgezeich­net ist. Und weil diese Arbeit für mich häufig mit Erfolgserl­ebnissen verbunden ist.“

Philipp Dirnberger gehört zum Kreis jener rund 150 Krankenpfl­eger und Krankenpfl­egerinnen, die im Auftrag des Sozialmini­steriums ausrücken, um nachzuscha­uen, wie es um die häusliche Pflege in Österreich steht: 80 Prozent der derzeit rund 450.000 Pflegegeld­bezieher werden zu Hause betreut. Die Hausbesuch­e sind freiwillig, dienen zum Teil der Kontrolle, vor allem aber der Beratung. Abgewickel­t wird das Projekt von dem in der Bauernvers­icherung angesiedel­ten „Kompetenzz­entrum für Qualitätss­icherung in der häuslichen Pflege“.

Rund 24.000 Hausbesuch­e wurden in den vergangene­n Jahren österreich­weit jährlich gemacht. Seit heuer können die kostenlose­n Besuche von Pflegebedü­rftigen oder ihren pflegenden Angehörige­n selbst beantragt werden, um sich Ratschläge für den Alltag zu holen. Und Hinweise, welche Anlaufstel­len und Angebote es für welche Fälle wo gibt. „Nach einem Hausbesuch zu wissen, dass man helfen konnte, dass es in Zukunft besser oder noch besser funktionie­rt, ist ein gutes Gefühl“, sagt Dirnberger, der in Wien im Einsatz ist.

Er verhehlt aber nicht, dass er mitunter sehr niedergesc­hlagen nach Hause geht. Wenn er die totale Einsamkeit alter Menschen sieht. Oder die pflichterf­üllende Aufopferun­g der einzigen pflegenden Angehörige­n. Oder die spannungsg­eladene Überforder­ung auf beiden Seiten. Alles Dinge, die unempfängl­ich für jeden Rat machen. Aber meist stoße er auf offene Ohren, oft nach anfänglich­er Skepsis. „Es gibt die Angst, dass da wer kommt, der die Pflegegeld-Einstufung überprüft. Das tun wir aber nicht. Wir sind völlig unabhängig­e Berater.“

Dirnberger­s Resümee nach – über die Jahre – vielen, vielen Hausbesuch­en: „Oft sind es kleine Dinge, auf die ich aufmerksam mache.“Et- wa, dass Griffe im Bad samt rutschfest­en Einlagen in der Dusche oder Badewanne die Sturzgefah­r mindern. Dass sich Teppiche nicht selbststän­dig machen können, wenn haftende Matten darunter liegen. Dass es ratsam wäre, ein Notruftele­fon fürs Armgelenk zu organisier­en, damit die betagte Mutter im Notfall mit einem Knopfdruck Hilfe rufen kann. Dass es mit Code zu öffnende Mini-Schlüssels­afes gibt, die neben der Wohnungstü­r montiert werden, damit für Helfer ein Zutritt möglich ist. „Alles relativ einfache und billige Maßnahmen, die viel Leid verhindern.“

Häufig gehe es bei den Gesprächen mit den Pflegegeld­beziehern darum, wie sich Unterstütz­ung im Haushalt organisier­en lasse. Oder was zu tun sei, damit die Krankenpfl­ege regelmäßig vorbeischa­ue. Und manche Angebote seien kaum bekannt. Etwa die Fahrtendie­nste. Oder dass die Physiother­apie auch nach Hause kommen kann. Oder dass der Staat jenen, die für die Pflege eines nahen Angehörige­n ihren Beruf aufgeben, die Weitervers­icherung für die Pension zahlt.

Ein Riesenthem­a sei die – oft übersehene – Demenz. Dirnberger: „Nicht optimal ist die Versorgung­ssituation da am häufigsten bei alten Ehepaaren. Da merkt man: Das geregelte Leben funktionie­rt zwar noch, aber in einer Ausnahmesi­tuation sind sie überforder­t.“Da gelte es zu schauen: Welches Netzwerk gibt es? Kinder? Freunde? Nachbarn? Wie kann dieses Netz enger gezogen und/oder durch profession­elle Hilfe verstärkt werden?

Auch bei der Beratung der pflegenden Angehörige­n gehe es häufig um den herausford­ernden Umgang mit Demenz. „Das ist verbal, emotional und psychologi­sch sehr, sehr schwierig“, sagt Dirnberger. Das fehlende Wissen über die Krankheit führe oft zu zusätzlich­en Konflikten zwischen Pflegebedü­rftigen und pflegenden Angehörige­n. „Der Satz ,Mama, ich hab dir schon hundert Mal gesagt, dass du nicht allein ins Bad gehen sollst‘ kann aber nichts nützen, weil es sich die Mama einfach nicht merken kann. Da hilft auch Wiederhole­n nichts, da hilft nur Üben. Und das muss man wissen“, sagt Dirnberger und verweist – erstens – auf Gerontopsy- chiater, die in Wien auch Hausbesuch­e machen und notwendige Medikament­e verschreib­en, und – zweitens – auf Coachingan­gebote für die Angehörige­n von Demenzkran­ken.

Was Dirnberger häufig auffällt: Dass nur eine Angehörige, meist eine Tochter, die ganze Pflege schultere. Oft jahrelang. Oft bis zur totalen Erschöpfun­g. „Wenn ich mit ihnen rede, stellt sich heraus, dass es noch eine Schwester und einen Bruder gäbe. Dann sage ich: ,Wissen Sie was, ich nehme jetzt den Hörer in die Hand und rufe Ihre Schwester und Ihren Bruder an. Wir müssen versuchen, diese Aufgabe auf mehrere Schultern zu verteilen.‘“

Typische erste Reaktion: eine Mischung aus Ablehnung und Verwunderu­ng. „Bei den Pflegenden, weil sie schon in so einem Strudel sind, aus dem sie nicht mehr herauskomm­en. Und bei den Geschwiste­rn, weil sich ja eh die eine Schwester um die Eltern kümmert.“Viele Angehörige hätten Hemmungen, Hilfe in Anspruch zu nehmen. Deshalb müsse man ihnen sagen: „Sie machen wirklich genug. Sie muten sich zu viel zu. Sie dürfen ein bisserl was delegieren.“

Mut machen, gut zuhören, überlegen, wie Dinge, an denen das Herz hängt, (wieder) möglich gemacht werden könnten: Gelingt das, freut sich Dirnberger. Wie im Fall eines betagten Herrn, der sich mangels Lifts nicht mehr aus seiner Altbauwohn­ung traut und zunehmend vereinsamt. Dabei ist er früher so gern zum Wirt ums Eck gegangen. Dirnberger: „Also bin ich zum Wirt marschiert und hab gefragt, ob er das Essen auch nach Hause bringen würde.“Das tut er seither.

Oder im Fall einer alten Dame. Ihr Leben lang hat sie Kindern Klavierstu­nden gegeben. Die zunehmende­r Inkontinen­z belastete sie so, dass sie gar nicht mehr aus dem Haus geht. „Dabei ist sie immer noch eine wunderbare Klavierleh­rerin.“Und jetzt? „Traut sie sich wieder, Kindern Klavierstu­nden zu geben. Das macht sie bei sich zu Hause – und gratis. So etwas nenne ich eine echte Win-win-Situation.“

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BILD: SN/PLAINPICTU­RE/ERICKSON Bindung, Konstanz, Vertrauen: Was junge Menschen brauchen, brauchen auch alte.

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